AfD gegen Seehofer: Neues Urteil – alte Störgefühle

von KENO CHIRSTOFFER POTTHAST

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.06.2020 geht die Diskussion um Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern in eine weitere Runde. In einem Interview mit der Deutschen Presse Agentur im September 2018 bezeichnete Horst Seehofer, Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat (BMI), die AfD unter anderem als „staatszersetzend“. Gegen die Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage des BMI wehrte sich die AfD im Rahmen eines Organstreitverfahrens – und bekam Recht. Das BVerfG erkannte in der Veröffentlichung des Interviews auf der Ministeriumshomepage eine Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG. Damit fügt sich das Urteil in die bisherige Rechtsprechungslinie des Gerichts ein, lässt jedoch bekannte Schwachstellen des Neutralitätsgebots weiterhin unberührt bestehen. Eine Einordnung.

Neutralitätsgebot für Regierungsmitglieder

Zentraler Bestandteil der Urteile um Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern ist regelmäßig das Neutralitätsgebot. Staatliche Amtsträger dürfen nicht parteiergreifend auf den politischen Willensbildungsprozess des Volkes Einfluss nehmen, sie haben sich neutral zu verhalten. Ausgangspunkt der verfassungsgerichtlichen Herleitung dieses Grundsatzes ist Art. 20 Abs. 2 GG, die Souveränität des Volkes. Von ihr geht alle Staatsgewalt aus und wird in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Wahlen vermitteln demokratische Legitimation jedoch nur dann, wenn sie frei sind, ihnen also unter anderem ein freier und offener Prozess der Meinungsbildung voraus geht. Bei dem Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes kommt Parteien eine zentrale Rolle zu. Ihr verfassungsrechtlicher Auftrag ist es, gem. Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Sie sollen zwischen Staat und Gesellschaft vermitteln, Diskurse anregen und politische Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Diesen Aufgaben können sie im Lichte eines freien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozess jedoch nur dann bestmöglich nachkommen, wenn sie gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Mit diesem Grundsatz der Chancengleichheit unvereinbar ist es nach Ansicht des BVerfG daher, „wenn Staatsorgane [und Regierungsmitglieder], als solche zugunsten oder zulasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern auf den Wahlkampf einwirken“ (Rn. 47). Ebenso wenig dürfen sie bei ihrer Teilnahme am politischen Wettbewerb auf spezifische Ressourcen ihres Amtes zurückgreifen, um ihre aus der Amtsautorität resultierende Glaubwürdigkeit in Anspruch zu nehmen. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn Minister*innen bei ihren Äußerungen Bezug auf ihr Amt nehmen, sich durch Verlautbarungen in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen oder auf offiziellen Internetseiten seines Geschäftsbereiches erklären, oder sich ein Amtsbezug aus der Verwendung von Staatssymbolen oder Hoheitszeichen ergibt.

Auf dieser Grundlage ist die Entscheidung des BVerfG im Falle der AfD gegen Seehofer nachvollziehbar. Zwar beanstandete das Gericht die im Interview getätigten Äußerungen Seehofers inhaltlich nicht, durch die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des BMI verstieß er jedoch gegen das Neutralitätsgebot und verletze die AfD in ihrem Recht aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG.

Neues Urteil – alte Störgefühle

Diskussionen um das Neutralitätsgebot sind nicht neu. Neue Maßstäbe bei der Konzeption des Gebots hat das Gericht in dem diskutierten Urteil nicht entwickelt. So gelten auch nach dem Urteil Kritikpunkte fort, auf die im Folgenden beispielhaft eingegangen wird:

Politiker*innen in Doppelfunktion

Bereits die Herleitung des Neutralitätsgebots lässt erahnen, dass der Bereich politischer Kommunikation auf der verfassungsrechtlichen Ebene durch komplexe Wechselbeziehungen geprägt ist. Das führt dazu, dass die Herausarbeitung formeller Abgrenzungskriterien schwierig und oft unbefriedigend ist. Ein viel bemühtes Beispiel dafür ist die Doppelfunktion von Regierungsmitgliedern. Verlangt der Grundsatz der Volkssouveränität in seiner Ausprägung der Willensbildung „von unten nach oben“ einerseits Neutralität bezüglich möglicherweise willensbildender Äußerungen von Minister*innen, kommt ihm in Bezug auf die Funktion der personengleichen Parteipolitiker*innen eine entgegengesetzte Stoßrichtung zu. Wählt das Volk als Ausdruck ihres Willens Parteipolitiker*innen in ein staatliches Amt, so geschieht das auf Grundlage der von den Politiker*innen vertretenen Meinungen, Ansichten und Vorstellungen. Die Vertretung des Volkes hört nicht mit einer Wahl in ein politisches Amt auf, vielmehr sollte sich der Volkswille gerade in den Äußerungen der Politiker*innen widerspiegeln. Insoweit konterkariert sich der Grundsatz der Volkssouveränität in diesem Falle selbst.

Staatliche Informationen als Teil des Diskurses

Hinzu kommen grundsätzliche und berechtigte Zweifel an dem verfassungsrechtlichen Bild der Meinungsbildung „von unten nach oben“ als Teil der Herleitung des Neutralitätsgebots. Der Staat kommuniziert, er informiert und ist dadurch ein Faktor des öffentlichen Diskurses. Die Annahme einer starren Willensbildung vom Volk zum Staat ist somit realitätsfern. (ausführlich dazu: Mast, Staatsinformationsqualität, im Erscheinen). Diese Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft erkennt das BVerfG zwar an, zieht aus dieser Erkenntnis jedoch keine Konsequenz, sondern stellt auf die Gefahr der Wirkung von Amtsautorität ab, die wohl nur schwer messbar ist.

Die Frage nach Gefährdungspotenzialen

Schlussendlich wirft die Betrachtung des dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalts eine zunächst banal anmutende Frage auf: Wie hoch ist der Anteil derer, die die Homepage des BMI besuchen, ein Interview des Ministers lesen und sich von dem Gesagten aufgrund der Tatsache, dass sie das Interview auf der Ministeriumshomepage und nicht etwa auf der Seite der Deutschen Presseagentur gelesen haben, nachhaltig beeinflussen lassen? Dahinter steht die weitaus komplexere und interdisziplinär geprägte Frage der von Regierungskommunikation ausgehenden Gefährdungspotenziale. Dabei müsste auch untersucht werden, ob Bürger*innen bei Äußerungen von Politiker*innen zwischen den Ämtern, in denen sie ihre Aussagen tätigen, differenzieren. All das kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass der Schutz der Demokratie auch darin besteht Diskurse zuzulassen und nicht über Gebühr einzuschränken. Mit Blick auf die Grundrechtssensibilität des Regulierungsbereiches und seinem hohen Maße an Wechselbeziehungen, dürften ähnlich gelagerte Fälle die Gerichte noch lange beschäftigen.

Fazit

Im Neutralitätsgebot zeigt sich das Anliegen des BVerfG, vor allem in Zeiten zunehmender politischer Kommunikationsmöglichkeiten und der damit einhergehenden Gefahr der Manipulation von Bürger*innen klare Grenzen staatlicher Kommunikation zu ziehen. Das ist nachvollziehbar und lobenswert. Gleichzeitig wird deutlich, wie stark der verfassungsrechtliche Bereich der politischen Kommunikation von Wechselbeziehungen geprägt ist, die eine Herausarbeitung stringenter Abgrenzungskriterien erschweren. Insoweit besteht auch die Gefahr, die Voraussetzungen für eine Maßregelung politischer Äußerungen unterhalb der tatsächlichen Relevanzschwelle für die Beeinflussung der Willensbildung zu formulieren und politische Diskurse so unnötiger Weise vor die Gerichte zu verlagern.

Zitiervorschlag: Keno Christoffer Potthast, AfD gegen Seehofer: Neues Urteil – alte Störgefühle, JuWissBlog Nr. 80/2020 v. 11.06.2020, https://www.juwiss.de/80-2020/.

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AfD, BVerfG, Neutralitätsgebot, Seehofer
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