Am Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren zwischen der AfD und Bundeinnenminister Horst Seehofer entschieden. Fast so schnell wie es Eilmeldungen hagelte, die AfD habe „gewonnen“ und Horst Seehofer dürfe die AfD nicht als „staatszersetzend“ bezeichnen, kam es zu entsprechenden Berichtigungen, da das Gericht nicht die Äußerung als solche, sondern vielmehr die anschließende Veröffentlichung auf der behördeneigenen Website rügte. Hinter den bisweilen Verwirrungen auslösenden Ausführungen des Gerichts könnte sich dabei der wahre Sieger des Verfahrens verstecken: Die Demokratie.
Alles eine Frage der Sprecherrolle
Wer die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung in den letzten Jahren verfolgt hatte, den überraschte das Urteil im Ergebnis wohl kaum (Vgl. zur genaueren Einordnung den Beitrag von Keno Potthast). Wie Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle zu Beginn seiner letzten (!) Urteilsverkündung betont hat, reiht sich dieses Urteil in eine nunmehr dreigliedrige Rechtsprechungslinie zu den parteipolitischen Äußerungsbefugnissen von Regierungsmitgliedern ein. Während die Entscheidung über die Äußerungen der damaligen Familienministerin Manuela Schwesig ein von ihr geführtes Interview zum Gegenstand hatte, hatte sich das Gericht in der Rechtssache „Wanka“ mit einer auf der Website der damaligen Bildungsministerin veröffentlichten Pressemitteilung auseinanderzusetzen. Da es sich im vorliegenden Fall um die Veröffentlichung eines Interviews auf der Homepage des Innenministeriums handelt, ist in der „Causa Seehofer“ gewissermaßen eine Synthese der Vorgänger (-innen) zu sehen. Daher überrascht es nicht, dass sich das Gericht auch am Dienstag der Positionierung der konkreten Sprecherrolle Seehofers im dpa-Interview widmete.
Interviews als Konglomerat unterschiedlicher Sprecherrollen
Dabei griff das Gericht seine bisherige Rechtsprechung auf und stellte erneut fest, dass ein Wechsel zwischen der Sprecherrolle des Parteipolitikers und des Hoheitsträgers denkbar und vorliegend auch gegeben war (Rn. 61). Bei Zugrundelegung der im Interview behandelten Themen, denen kein unmittelbarer Ressortbezug zu entnehmen war, kamen die Richter zu dem Ergebnis, dass sich Horst Seehofer bei dem Interview in seiner Funktion als Parteipolitiker äußerte. Auch wenn die Sprecherrolle im Grunde primär anhand formaler Kriterien zu bestimmen ist (so z.B. auch der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz), sah es das Gericht als gegeben an, dass durch die Inhaltswahl der Parteipolitiker Horst Seehofer und nicht der gleichnamige Innenminister adressiert werden sollte (Rn. 79). Damit steht fest, dass Horst Seehofer durch die Äußerungen im Rahmen des Interviews nicht gegen den Grundsatz der parteipolitischen Neutralität verstoßen und die AfD nicht in ihren Rechten verletzt hat.
Auch wenn der Äußerungsinhalt bei der Charakterisierung der Sprecherrolle grundsätzlich eine untergeordnete Rolle spielt, kommt das Gericht in Ermangelung formaler Äußerungsumstände mit der Qualifizierung zu einem nachvollziehbaren Ergebnis. Dieses wäre auch im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Bedeutung und persönliche Tragweite der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geboten gewesen: Ebenso wie sich im Rahmen einer konkordanten Abwägung „in dubio pro libertate“ zugunsten der weitreichenden grundrechtlichen Schutz genießenden Meinung zu entscheiden ist, ist im Rahmen der Abgrenzung zwischen hoheitlichen und privaten Äußerungen von einer Vermutungsregel zugunsten einer privaten bzw. parteipolitischen Äußerung auszugehen. Nur sie kann Ausfluss grundrechtlicher Freiheiten und damit in besonderem Maße schützenswert sein. Dass diese Erwägungen in die Entscheidung des Gerichts miteingeflossen sind, wenngleich sie keine ausdrückliche Erwähnung im Urteil gefunden haben, bleibt jedoch nicht ausgeschlossen.
Staatliche Veröffentlichung als Metamorphose
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht damit festgestellt hat, dass das Interview als solches nicht in der Lage war, die AfD in ihren verfassungsrechtlich verbürgten Rechten zu verletzen, war auf den Twitterkanälen der Antragstellerin und der ihr Angehörigen bereits Minuten nach der Urteilsverkündung von einem Erfolg die Rede, sodass entsprechende Rücktrittsforderungen als angemessen angesehen wurden . Dies war dem Umstand geschuldet, dass das Interview für einen Zeitraum von etwa zwei Wochen auf der Website des Innenministeriums abrufbar war. Dadurch (und nur dadurch) hat der Innenminister auf staatliche Ressourcen zurückgegriffen, um in parteiergreifender Weise am politischen Diskurs teilzunehmen und die AfD in ihrem Recht aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG zu verletzen.
Dass es an diesem Ergebnis – wohl auch von Seiten der Bundesregierung – keine begründeten Zweifel gibt, lässt sich bereits dem Umfang der diesbezüglichen Ausführungen im Urteil entnehmen. Auch ein entsprechender Aufschrei des Antragsgegners, den die AfD durch einen völlig unangebrachten Vergleich möglicherweise angestrebt hatte, blieb aus. Die AfD sah eine Parallele zwischen den Äußerungen Seehofers und den „Hetzreden der nationalsozialistischen Reichsregierung gegen jüdische Mitbürger seit 1933“ (Rn. 15) und kassierte dafür nur ein verschriftlichtes Kopfschütteln (Rn. 76). Ob dieses unangebrachten Beitrags der Antragstellerin entschied das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis zu ihren Gunsten, wenngleich fragwürdig ist, ob die AfD wirklich als Sieger aus diesem Verfahren gegangen ist.
Sieger: Die Demokratie
Selbst wenn sich die AfD noch einige Zeit an ihrem (prozessualen) Erfolg in Karlsruhe erfreuen wird, versteckt sich der wahre Sieger des Verfahrens hinter dem vom Bundesverfassungsgericht gewählten – zugegebenermaßen eigenartig wirkendem – Urteilsaufbau. So wäre es dem Gericht ohne Weiteres möglich gewesen, vorn vornherein die behördliche Veröffentlichung des Interviews als Ausgangspunkt seiner Prüfung zu nehmen. Dies hätte eine zügige Ergebnisfindung nach sich gezogen, da auch dem Antragsgegner klar war, durch die in Rede stehenden Äußerungen den Bereich des verfassungsrechtlich Zulässigen verlassen zu haben. Gleichwohl hat das Gericht lieber weitreichende Ausführungen dazu getroffen, dass auch kritische und scharfe Äußerungen im parteipolitischen Meinungskampf erlaubt sein müssen, wenn sie von Personen stammen, die gleichzeitig ein Regierungsamt innehaben. Die Möglichkeit parteipolitischer Äußerungen von Hoheitsträgern ist in den Augen des Gerichts für die dem Grundgesetz zugrunde liegende Parteiendemokratie ob ihrer Ambivalenz konstituierend. Nicht weniger statuiert das Gericht, indem es ausführlich erläutert, dass der politische Diskurs auch von Hoheitsträgern geführt werden kann, ohne dabei zwingend gegen die sie in ihrer Funktion als Hoheitsträger bindenden Verfassungsprinzipien zu verstoßen. Dass diese Ausführungen erhebliche Ähnlichkeit zu einem obiter dictum aufweisen, unterstreicht die Intention des Gerichts: Indem es die prinzipielle Zulässigkeit der Äußerungen herausarbeitet, ruft es die den Diskurs führenden Personen zur kritischen und scharfen Auseinandersetzung mit den die Demokratie gefährdenden Parteien auf.
Auch wenn die Menschen im Zusammenhang mit der letzten Urteilsverkündung des dann ehemaligen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle vor allem an das folgenreiche EZB-Urteil denken werden, ist nicht zu unterschätzen, was dem Gericht in der „Causa Seehofer“ gelungen ist: In einem Verfahren zwei Sieger zu präsentieren und alle Beteiligten mit diesem Ergebnis glücklich zu wissen. Während sich die AfD nämlich mit dem Erfolg auf dem Papier rühmen wird, ist die wahre Siegerin dieses Verfahrens – gleichzeitig Erzfeindin des ersteren – nur zwischen den Zeilen zu finden, wenngleich sie in jeder Silbe des Urteils mitklingt: Die Demokratie.
Zitiervorschlag: Nicolas Harding, Zwei Sieger in einem Verfahren?, JuWissBlog Nr. 81/2020 v. 12.06.2020, https://www.juwiss.de/81-2020/.
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