Europas Werk und Karlsruhes Beitrag: einige Anmerkungen zum OMT-Urteil des BVerfG – Der Tragödie zweiter Teil

von BJÖRN SCHIFFBAUER

Björn SchiffbauerBislang wurden drei Akte zum OMT-Urteil des BVerfG vom 21. Juni 2016 aufgeführt. Die Klimax dieses Dramas endete mit einem Paukenschlag: dem vom BVerfG erschaffenen „Recht auf Demokratie“. Wie scharf dieses Schwert wirklich ist und wie sich das schwierige Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH entwickeln könnte, zeigt nun der Fortgang dieses Schauspiels.

4. Akt: Retardation – Das Arsenal der Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle

Der überraschende Zuwachs an Grundrechten und staatlichen Schutzpflichten wird von Erwägungen zur Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durchzogen und verzögert so – ganz nach den dramaturgischen Vorgaben der klassischen Tragödie – die mit Spannung erwartete Antwort auf die Fragen: Verletzt der OMT-Ratsbeschluss denn nun das „Recht auf Demokratie“? Hätte die deutsche Staatsgewalt dagegen einschreiten müssen? Oder müssen sich die Beschwerdeführer und Antragsteller stattdessen am Ende mit einem Pyrrhussieg begnügen – Grundrechte gewonnen, aber Verfahren verloren?

Das BVerfG lässt den Zuschauer also zappeln, und das aus gutem Grund. Denn es gelingt ihm erstmalig in völliger Klarheit zu beschreiben, wie genau die aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG herrührenden Rechte verfassungsprozessual geltend gemacht werden können. Zwar sind Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle schon seit längerem en vogue (seit „Lissabon“, Rn. 240 ff., fortgeführt etwa in „Honeywell“, Rn. 56 ff. und zuletzt in „Soweit“, Rn. 43), doch fehlte es bislang an einer trennscharfen Abgrenzung dieser Instrumentarien ebenso wie an einer lückenlosen Darstellung ihrer Voraussetzungen. (Was nicht verwundert, da ein dogmatisches Fundament hierzu weiterhin fehlt.) Dies holt das BVerfG im OMT-Urteil nach und stattet so die neu gewonnen wie auch die hergebrachten Grundrechte mit einem aufwendig gefertigten Schwert aus. Allerdings hat es sich einstweilen geziert, es mit einem besonders scharfen Schliff auszustatten. Aber der Reihe nach:

Die Identitätskontrolle wird in ihren Einzelheiten in den Rn. 136 ff. ausgeführt. Wörtlich greift das BVerfG dabei die Prämisse des „Soweit“-Beschlusses (dort Rn. 42) auf: „Soweit Maßnahmen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die in den Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus“ (Rn. 137). Anknüpfungspunkt ist also das GG selbst: Jeder Unionsakt, der, wäre er ein deutscher Rechtsakt, einer Grundgesetzänderung unzugänglich ist, kann keinen Anwendungsvorrang haben.

Mit der Ultra-vires-Kontrolle dagegen (Rn. 143 ff.) „überprüft das Bundesverfassungsgericht, ob eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union das Integrationsprogramm in hinreichend qualifizierter Weise überschreitet und ihr deshalb in Deutschland die demokratische Legitimation fehlt“ (Rn. 143). Es geht also darum, ob eine Unionsmaßnahme von Art. 23 Abs. 1 GG und dem Zustimmungsgesetz zu den Verträgen umfasst ist. Ist sie dies nicht, kann sie keinen Anwendungsvorrang haben.

5. Akt: Katastrophe oder Katharsis?

Wer nun aber die große Katastrophe (jedenfalls im dramaturgischen Sinne) erwartet, wird enttäuscht. Denn das BVerfG erhob einen bedeutsamen Vorbehalt: „Ultra-vires- und Identitätskontrolle sind – als je eigenständige Kontrollinstrumente – gleichermaßen zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben“ (Rn. 154); sie sind also doch nicht ganz so scharfe Schwerter. Dazu gehört auch, im Zweifel den EuGH anzurufen und dessen Votum im Vorabentscheidungsverfahren zu achten (Rn. 156 ff.). Das BVerfG „muss eine richterliche Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof [..] auch dann respektieren, wenn dieser zu einer Auffassung gelangt, der sich mit gewichtigen Argumenten entgegentreten ließe, solange sie sich auf anerkannte methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint. Dies gilt im Rahmen sowohl der Identitäts- als auch der Ultra-vires-Kontrolle“ (Rn. 161). Überdies können durch die Union determinierte Rechtsverletzungen nicht geltend gemacht werden, wenn „Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union das Integrationsprogramm nicht in offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Weise überschreiten“ (Rn. 157). Nur für die Überprüfung der „Offensichtlichkeit“ bzw. der „strukturellen Bedeutsamkeit“ sieht sich das BVerfG berufen, den Rest überlässt es dem EuGH – das viel bemühte Kooperationsverhältnis der Gerichte als Katharsis.

Vor dem Hintergrund dieser weichen Wandlung weitgehend harter Worte gen Europa verwundert es jedenfalls zunächst kaum, dass das ohnehin nur als Kulisse dienende OMT-Programm auch in der Sache nicht gekippt wurde (Rn. 174 ff.). Auch hier schluckt die Katharsis die Katastrophe.

Epilog: Werden Worten Taten folgen?

Das versöhnliche Ende des OMT-Dramas ist jedoch mit äußerster Vorsicht zu genießen. Nicht nur stehen nun harte Kriterien – materieller wie prozessualer Art – im Raum, mit Hilfe derer sich Einzelpersonen gegen Unionsrechtsakte zur Wehr setzen können. Das BVerfG hält darüber hinaus weiterhin die Zügel in der Hand und behält sich selbst – und nicht dem EuGH – die Letztentscheidungskompetenz vor, sei es auch nur bei „offensichtlichen“ oder „strukturell bedeutsamen“ Kompetenzüberschreitungen. Dazu behauptet es sogar, dass die Identitätskontrolle „in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV der Sache nach angelegt“ sei (Rn. 140, so auch schon in „Soweit“, Rn. 44). Ein gesundes Selbstbewusstsein ist dem BVerfG jedenfalls nicht abzusprechen; manch ein Beobachter mag hier womöglich schon an Hybris denken.

Dieser Eindruck bestärkt sich, wenn man zwischen den Zeilen zu lesen versucht, was das BVerfG mit seinem OMT-Urteil dem EuGH mit auf den Weg gegeben hat. Denn es äußert in der Sache „gewichtige[.] Bedenken“ (Rn. 175) und sieht den EuGH lediglich „noch innerhalb des dem Gerichtshof erteilten Mandates aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV“ (Rn. 176 – vulgo: ansonsten wäre die EuGH-Entscheidung selbst ultra vires); ganz unverhohlen listet es sodann „gewichtige[.] Einwände“ (Rn. 181 ff.) gegen weite Teile der EuGH-Entscheidung auf. Nur willkürlich ist sie eben (ergänze: gerade noch) nicht.

Kooperativ kann man dies eigentlich kaum mehr nennen. Angesichts dessen dürften sich zukünftige Beschwerdeführer ermutigt fühlen, ein neues Schauspiel zu inszenieren in der Hoffnung, dass das BVerfG seinen Andeutungen letztlich doch Taten folgen lässt. Gelegenheiten dazu wird es sicher geben – z.B. im Rahmen einer gegen das Freihandelsabkommen CETA bereits angekündigten Verfassungsbeschwerde. Fortsetzung folgt!

Björn Schiffbauer, BVerfG, EU-Recht, EuGH, EZB, OMT-Beschluss, Verfassungsrecht
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Sehr schöne Analyse. Ein Punkt verdient noch weitere Erwähnung: Das BVerfG hält ausweislich Rn. 150 die Sicht auf einen Unionsrechtsakt außerhalb der Karlsruher Gerichtsmauern für die „Offensichtlichkeit“ des Ultra-Vires-Handelns für irrelevant. Gleichzeit benötigt es aber für die Beurteilung der Vertretbarkeit der Methodik des Gerichtshofs einen Maßstab (hier überlagern sich ja zwei Ultra-Vires-Prüfungen: die bezüglich des Handelns der EZB, im Übrigen uU nur eine Organkompetenzüberschreitung, aber keine der Union als Ganzes) und des EuGH bei der Auslegung der Verträge und des EZB-Statuts). Hier scheint mir doch ein nicht ganz unerheblicher Zusammenhang zu bestehen: Ein EuGH, der zum selben Ergebnis kommt wie eine in großer Zahl im deutschen Schrifttum vertretene Auffassung kann sich doch wohl kaum gänzlich außerhalb der anerkannten Methoden der Rechtsfindung bewegen – ansonsten wäre ja großen Teilen der deutschen Rechtswissenschaft eine hinreichend Methodenkenntnis abzusprechen (was nicht heißen soll, dass genau das innerhalb der Karlsruher Mauern von dem einen oder anderen gedacht wird). Das BVerfG kann ja in seinem Urteil selbst nicht umhin, dass der Gerichtshof zu einem erwartbaren Ergebnis kommt, weil er methodisch genau das Gleiche tut, wie er es – jedenfalls was die Kompetenzgrundlage angeht – auch zuvor immer getan hat (weswegen ja das interessierte Schrifttum zu seiner Auffassung gelangt ist. Kann es wirklich sein, dass ein Ultra-Vires-Verstoß nur für Karlsruhe (und natürlich die echauffierten Beschwerdeführer) offensichtlich sein kann, wohingegen die interessierten Kreise und der Gerichtshof vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen?

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