Das Anfang des Jahres gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat reelle Chancen, nächstes Jahr in den Bundestag einzuziehen. Auch eine Regierungsbeteiligung des BSW auf Landesebene ist nach den Landtagswahlen im Herbst 2024 möglich. Dabei hatte das BSW noch Anfang Juni 2024 nur rund 650 Mitglieder (aktuelle Zahlen fehlen) – bundesweit – und das, obwohl dem BSW bereits im März 2024 rund 8.000 Mitgliedsanträge vorlagen. Die derzeit im Bundestags vertretenen Parteien haben dagegen zwischen 390.000 und 30.000 Mitglieder (vgl. Mitgliederstatistik). Das BSW nimmt nur wenige neue Mitglieder auf. Eine solche restriktive Aufnahmepraxis ist in einer Parteiendemokratie misslich, aber, soweit sie dem Parteiengesetz nicht widerspricht, hinzunehmen.
Warum nimmt das BSW so wenige Mitglieder auf?
Wagenknecht und ihre Mitstreiter:innen erklären das langsame Wachstum des BSW damit, dass sie die Kontrolle darüber behalten wollen, wer Mitglied im BSW wird. Zu groß sei die Gefahr, dass Menschen, die nicht die politischen Grundüberzeugungen des BSW teilten und die insbesondere eine AfD-Vergangenheit hätten, versuchen würden, Mitglied des BSW zu werden. Deswegen sei eine intensive Überprüfung der politischen Ansichten und Vergangenheit der Anwärter:innen notwendig, die Zeit benötige.
Gesetzliche Anforderungen an die Aufnahme neuer Parteimitglieder
Dies wirft die Frage auf: Wie restriktiv darf das BSW bei der Aufnahme neuer Mitglieder:innen sein? Das Parteiengesetz sagt dazu nicht viel und räumt den Parteien in § 10 Abs. 1 S. 1 PartG viele Freiheiten bei der Gestaltung ihrer Aufnahmeverfahren für neue Mitglieder:innen ein. Das Gesetz bestimmt lediglich, dass das nach der Satzung der jeweiligen Partei zuständige Organ über die Mitgliedsanträge entscheiden muss, dass die Parteien ihre Aufnahmeverfahren per Satzung weiter konkretisieren können und dass die zuständigen Parteiorgane im Übrigen „frei“ über die Mitgliedsanträge entscheiden.
Das Aufnahmeverfahren des BSW unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von den Aufnahmeverfahren der derzeit im Bundestag vertretenen Parteien: In diesen ist stets eine lokale Parteiorganisation für die Entscheidung über den Aufnahmeantrag zuständig, etwa der Kreisvorstand bei der CDU, § 5 Abs. 1 S. 3 Statut der CDU, oder der Ortsvereinsvorstand bei der SPD, § 3 Abs. 1 S. 1 Organisationsstatut der SPD. Anders beim BSW. Wer Mitglied dieser Partei werden will, muss einen Antrag auf Mitgliedschaft beim Bundesvorstand der Partei stellen, § 4 Abs. 1 S. 2 Bundessatzung der BSW. Sahra Wagenknecht sucht sich ihre Mitstreiter:innen gewissermaßen persönlich aus.
Diese Praxis ist mit dem reinen Wortlaut des § 10 Abs. 1 S. 1 PartG vereinbar, aber misslich. Denn Parteien dienen als intermediäre Organisation zwischen der Gesellschaft und dem Staat. Prosaisch und mit dem Gesetzeswortlaut gesprochen, sorgen sie für eine ständig lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen, § 1 Abs. 2 PartG a. E.
Parteien fördern die Legitimität staatlichen Handelns
Parteien vermitteln Interessen und Überzeugungen aus der Bevölkerung an die Spitzenpolitiker:innen, die die Staatsämter besetzen, beziehungsweise – in Oppositionsparteien – besetzen wollen. Parteimitglieder haben – nicht zuletzt über die Wahl des Spitzenpersonals der Partei – eine reale Chance, auf die Positionierung ihrer Partei Einfluss zu nehmen. Der innerparteiliche Willensbildungsprozess fördert zudem auch die Legitimität staatlichen Handelns, denn Parteien schaffen einen Raum, in dem die regierenden Politiker:innen die Interessen und Überzeugungen ihrer Parteimitglieder zu Kenntnis nehmen (müssen). Die Gewissheit, dass die Herrschenden gezwungen waren, auch die schlussendlich nicht zum Zuge kommenden Interessen und Überzeugungen in ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigten, erleichtert es dem Teil der Bevölkerung eine Entscheidung zu akzeptieren, die ihren eigenen Interessen abträglich ist oder ihren Überzeugungen widerspricht. Parteien können diese Vermittlungsleistung aber nur dann erfüllen und dadurch die Legitimität staatlicher Politik fördern, wenn sie ein Raum der Diskussion und des Kompromisses sind. Räume, in denen, innerhalb der Leitplanken der grundsätzlichen politischen Ausrichtung der Partei, diverse Positionen vertreten und von möglichst vielen Parteimitgliedern diskutiert werden können. Das BSW verfügt mit seinen nur rund 650 Mitgliedern über eine sehr kleine Basis, die allein schon aufgrund ihrer Größe und auch aufgrund des restriktiven Aufnahmeverfahrens recht homogen sein dürfte. Es kann bezweifelt werden, dass eine so kleine Basis in der Lage ist, eine größere Bandbreite an Interessen und Überzeugungen selbst abzubilden und innerhalb des Volks zu detektieren, zu beeinflussen und „nach oben“ zu vermittelten. Das verheißt nichts Gutes für die langfristige Legitimität der durch das BSW gestalteten Politik.
Parteiendemokratie
Parteien fördern aber nicht nur die Legitimität der staatlichen Politik, sondern fungieren in einer Parteiendemokratie außerdem als Gatekeeper der Macht. Auch die Bundestagswahl ist eine Parteienwahl, wie die Ausrichtung des Wahlsystems an der Zweitstimme verdeutlicht. Auch die Erststimmen gehen de facto immer an durch Parteien aufgestellte Kandidat:innen – die letzte Bundestagswahl, bei der unabhängige Kandidaten in den Bundestag eingezogen sind, war die erste Bundestagswahl 1949. Wer Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen will, sollte Mitglied einer Partei werden. Denn dann kann der politisch Interessierte Einfluss auf die Kandidat:innenaufstellung nehmen – er schreibt dann mit an dem Stimmzettel, mittels dessen bei der nächsten Wahl gewählt werden wird. Das BSW nimmt derzeit den meisten politisch Interessierten diese wirkmächtige Möglichkeit der Partizipation.
Einschränkende Auslegung des § 10 Abs. 1 S. 1 PartG?
Angesichts dieser Bedeutung, die die Parteien für die bundesdeutsche Demokratie haben, stellt sich die Frage, ob § 10 Abs. 1 S. 1 PartG einschränkend auszulegen ist. Denkbare wäre eine Verpflichtung der Parteien zur Aufnahme von Bewerber:innen, sofern diese mit der grundsätzlichen politischen Zielsetzung der Partei übereinstimmen. Dieser Gedanke wird seit Jahrzehnten diskutiert. Der BGH hat ihn allerdings bereits 1987 abgelehnt. Außerdem hielt der BGH § 10 Abs. 1 S. 1 PartG für verfassungskonform und hat ihn explizit nicht dem BVerfG mittels eines konkreten Normkontrollverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG vorgelegt. § 10 Abs. 1 S. 1 PartG widerspräche nicht dem parteienrechtlichen Demokratiegebot des Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG, denn dieses entfalte nur parteiintern Geltung, d.h. nur gegenüber Mitgliedern, nicht Interessent:innen. Auch lasse sich kein Aufnahmeanspruch aus den grundgesetzlich garantierten staatsbürgerlichen Teilhaberechten der Interessent:innen ableiten, denn diese richten sich nur gegen den Staat.
Parteien sind aber keine Staatsorgane, sondern privatrechtlich organisiert – dies ist die Krux de lege lata. Denn damit unterliegen sie gerade keinem allgemeinen Aufnahmezwang, den der BGH im Übrigen auch anderen Vereinen und Verbänden nur überstülpt, insoweit diese eine Monopolstellung einnehmen. Das BSW verfügt über keine Monopolstellung.
Konklusion
Das BSW darf frei über die Aufnahme von Bewerber:innen entscheiden. Es darf nur eine weitere Bestimmung nicht verletzen: § 10 Abs. 1 S. 3 PartG. Dieser verbietet einer Partei, eine allgemeine Aufnahmesperre zu verhängen. Ob das BSW intern eine solche – explizit oder auch nicht – verhängt hat, dürfte aber kaum feststellbar sein, da die Ablehnung eines Antrags auf Mitgliedschaft in einer Partei gemäß § 10 Abs. 1 S. 2 PartG nicht begründet werden muss. Das BSW verfolgt damit eine Strategie, die der BGH nicht vorhergesehen hat, der in der besagten Entscheidung behauptet: „Die politischen Parteien sind zur Verfolgung ihrer Ziele auf einen hohen Mitgliederbestand angewiesen.“ Wir werden sehen, ob das BSW den BGH widerlegt.
Zitiervorschlag: Steidele, Christof, BSW: „Mitglieder? Nein danke!“ – Eine parteienrechtliche Einordnung, JuWissBlog Nr. 55/2024 v. 20.08.2024, https://www.juwiss.de/55-2024/.
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Das Problem stellt sich parallel bei der Öffnung der CSU für „Online-Mitgliedschaften“ von außerhalb Bayerns, die ebenfalls keine echten Rechte eines Parteimitgliedes verleihen. Zu dem Thema ist damals ein Artikel erschienen (schient nicht mehr auffindbar zu sein), ob der „Follower“ statt das Mitglied ein sich ausbreitendes Phänomen werden könnte.