von ANDRÉ BARTSCH
Nachdem es in Münster an den vergangenen Wochenenden zu erheblichen Ausschreitungen rund um die Aaseewiesen gekommen ist, erließ die Stadtverwaltung zunächst ein Maßnahmenpaket, das zuletzt per Allgemeinverfügung vom 17.06.2021 um ein Verweilverbot im Bereich des alten Aasees ergänzt wurde. Damit solle „ein erneuter Gewaltausbruch verhindert werden“, erklärte der Ordnungsdezernent. Umso mehr erstaunt der Blick in die Allgemeinverfügung: Rechtsgrundlage für sie sei § 28 I 1, 2 IfSG i.V.m. § 21 I CoronaSchVO NRW. Dies gibt Anlass dazu, erneut zu betonen: Das Infektionsschutzrecht ermächtigt (nur) zum Infektionsschutz, nicht zur allgemeinen Gefahrenabwehr.
Zum Verhältnis von Infektionsschutzrecht und allgemeinem Ordnungsrecht
Das Infektionsschutzrecht wird, jedenfalls in seiner ordnungsrechtlichen Dimension, häufig als besonderes Gefahrenabwehrrecht eingeordnet. Auf Grundlage des § 28 I 1 Hs. 1 IfSG können dabei (nur) „notwendige Schutzmaßnahmen“ zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Beim Kriterium der Notwendigkeit ist die objektive Geeignetheit der Maßnahme zur Verhinderung der Verbreitung der Krankheit zu prüfen. Es muss sich also um spezifisch infektionsschützende Regelungen handeln. Aus dieser Systematik sowie aufgrund des Vorrangs des Sonderordnungsrechts vor dem allgemeinen Ordnungsrecht erscheint es überzeugend, im Bereich spezifisch infektionsschützender Maßnahmen gem. § 14 II 1 OBG NRW von einem Vorrang der infektionsschutzrechtlichen Befugnisnormen als lex specialis auszugehen, der die Anwendung des allgemeinen Ordnungsrechts sperrt. Dies kann jedoch nur für spezifisch infektionsschützende Maßnahmen gelten: Nur solche können auf Grundlage des § 28 I 1 Hs. 1 IfSG erlassen werden, im Übrigen bleibt ein Rückgriff auf das allgemeine Ordnungsrecht möglich. Insbesondere dürften Verstöße gegen die jeweiligen Infektionsschutzbestimmungen, hier insb. die Vorschriften der CoronaSchVO NRW, die öffentliche Sicherheit i.S.d. § 14 I OBG NRW betreffen, sodass für die Durchsetzung der Infektionsschutzmaßnahmen die Zuständigkeit der örtlichen Ordnungsbehörden nach dem allgemeinen Ordnungsrecht nach § 14 II 2 OBG NRW gegeben ist. Die CoronaSchVO NRW enthält keine eigenen Befugnisnormen für Polizei oder Ordnungsbehörden zur Durchsetzung ihrer Bestimmungen. Für über die CoronaSchVO NRW hinausgehende Infektionsschutzmaßnahmen der zuständigen Behörden ist ebendort in § 21 I 2 eine Öffnungsklausel enthalten.
Gefahrenabwehrrechtlicher Charakter des Münsteraner Verweilverbots
Vor diesem Hintergrund und den obigen Ausführungen des Ordnungsdezernenten erscheint die Wahl der Rechtsgrundlage der Allgemeinverfügung im Infektionsschutzrecht fragwürdig. Doch blicken wir in die Begründung der Allgemeinverfügung: Diese ist, berücksichtigt man die öffentliche Kommunikation der Stadt, erstaunlich von Gesichtspunkten des Infektionsschutzes geprägt. Sie argumentiert, nach allgemeinen einleitenden Bemerkungen zum Stand der Pandemiebekämpfung in Münster, überwiegend damit, dass eine Einschränkung der Feiern zur Bekämpfung der Weiterverbreitung von COVID-19 erforderlich sei; sie geht nur am Rande („Stimmung der Feiernden“, S. 2 Absatz 1) auf die teilweise gewaltsamen Ausschreitungen ein, stellt also prima facie eine infektionsschützende Regelung dar.
Doch bei genauerem Hinsehen vermag auch die Begründung der Stadt, die Maßnahme sei infektionsschützend ausgestaltet, nicht zu überzeugen. Die Begründung der Allgemeinverfügung geht davon aus, dass das Verweilverbot in erster Linie notwendig ist, um die Vorgaben der CoronaSchVO NRW umzusetzen: So verweist sie mehrfach darauf, dass die stattfindenden Feiern als solche nicht mit den Vorgaben der CoronaSchVO NRW zu vereinbaren seien (S. 1 am Ende; S. 2 Abs. 4), wohlgemerkt, wie die Behörde selbst ausführt, ohne dies kontrolliert zu haben. Soweit sie auch die „Stimmung der Feiernden“ (S. 2 Abs. 1) als Problem identifiziert, hat dies offensichtlich keinen infektionsschützenden Charakter mehr. Auch wenn darauf verwiesen wird, dass Feiernde aus dem Umland mit höheren Inzidenzwerten anreisten (S. 2 Abs. 2), kann dies zwar u.U. bei der Beurteilung des Grades der Gefahr relevant sein, hieraus folgt aber noch nicht, dass die Maßnahme tatsächlich infektionsschützenden Charakter hat. Genuin infektionsschutzrechtliche Überlegungen finden sich erst in den Erörterungen zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. So sei die Maßnahme geeignet, da sie die „geschilderten Ansammlungen und Zusammenkünfte“ (S. 2 Abs. 5) verhindere. Da die Verminderung von Kontakten die Verbreitung von COVID-19 verringert, erscheint hier ein infektionsschützender Charakter der Regelung als möglich; gleichzeitig geht die Behörde aber, wie sie selbst zuvor ausgeführt hat, davon aus, dass die „geschilderten“ Ansammlungen gegen die CoronaSchVO NRW verstießen, sodass es sich hierbei in erster Linie um die Durchsetzung eines bestehenden Verbots handeln dürfte, was eine primär ordnungsrechtliche Ausrichtung nahelegt. Soweit die Behörde im Rahmen der Erforderlichkeit geltend macht, die Maßnahmen der CoronaSchVO NRW reichten nicht aus, um die geschilderten Ansammlungen zu verhindern (S. 2 Abs. 6), übersieht sie (da sie ja selbst von der Rechtswidrigkeit der Ansammlungen ausgeht), dass die CoronaSchVO NRW keine eigenen Befugnisnormen zur Durchsetzung ihrer Vorgaben enthält, sondern für die Durchsetzung auf das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht zurückzugreifen ist.
Abschließend muss also festgestellt werden, dass die Allgemeinverfügung überwiegend keinen infektionsschutzspezifischen, sondern allgemein ordnungsrechtlichen Charakter hat, sowohl in der Durchsetzung der Gebote der CoronaSchVO NRW als auch (wohl) in der Verhinderung weiterer Ausschreitungen, auch wenn die Behörde dies nur in der Öffentlichkeitskommunikation und nicht in der offiziellen Begründung erwähnt.
Beschränkte Praxisrelevanz
Trotz dieses Befundes dürften die praktischen Auswirkungen gering sein. Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes ist entscheidend, dass eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die erlassene Allgemeinverfügung besteht, er also mit dem objektiven Recht in Einklang steht; auf die von der Behörde angegebene Ermächtigungsgrundlage kommt es insoweit nicht an. Auch ist nach § 39 I 2 VwVfG NRW bei der Begründung eines Verwaltungsaktes die Behördenperspektive relevant, sodass allein die Angabe einer objektiv falschen Rechtsgrundlage noch nicht zur formellen Rechtswidrigkeit führt. Grenzen werden dem nur insoweit gesetzt, dass die Verfügung bei einer gerichtlichen Kontrolle nicht umgedeutet werden darf. Inwieweit dies hier der Fall ist und das Verweilverbot im Übrigen (etwa nach dem allgemeinen Ordnungsrecht) rechtmäßig ist, kann an dieser Stelle jedoch nicht vollständig beurteilt werden.
Fazit
Dennoch muss abschließend die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen den jeweiligen Ermächtigungsgrundlagen betont werden. Zwar ergeben sich häufig strukturelle Parallelen zwischen allgemeinem Gefahrenabwehrrecht und Infektionsschutzrecht, es bestehen in den Einzelheiten aber dennoch Unterschiede, etwa hinsichtlich der Störerauswahl oder Einzelheiten der Ermessensausübung. Die Auswahl der richtigen Rechtsgrundlage bildet das Prüfprogramm für die anschließende Rechtmäßigkeitsprüfung. Insofern bleibt den Behörden anzuraten, trotz der alltäglichen Relevanz des Infektionsschutzrechtes, dessen Grenzen zu berücksichtigen.
Zitiervorschlag: André Bartsch, Infektionsschutzrecht ist Infektionsschutzrecht, Ordnungsrecht ist Ordnungsrecht, JuWissBlog Nr. 70/2021 v. 24.6.2021, https://www.juwiss.de/70-2021/
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