von DARIA BAYER und THOMAS GROSSE-WILDE
Jetzt also doch: Nachdem es zunächst still geworden war um die erneuten Reformbestrebungen um § 362 StPO (Wiederaufnahme des Strafverfahrens zulasten der Angeklagten) wurde nun von den Koalitionsfraktionen ein Gesetzentwurf ausgearbeitet, der noch vor Ende der Legislaturperiode verabschiedet worden ist. Was sagt das über eine Gesellschaft aus, die sich wenig dafür interessiert, wie viele Unschuldige zurzeit im Gefängnis sitzen, aber unbedingt verhindern will, dass auch nur eine (mutmaßliche) Mörderin ungestraft davonkommt?
Der Gesetzentwurf
Der von den Mehrheitsfraktionen eingebrachte Gesetzentwurf, über den am 21.06.2021 im Rechtsausschuss Stellungnahmen eingeholt worden sind und der gestern Nacht vom Bundestag beschlossen worden ist, will § 362 StPO um die nachfolgende Nummer 5 ergänzen:
„5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.“
Damit soll insbesondere der vielfältigen Kritik, die in der politischen, öffentlichen und rechtlichen Diskussion entbrannt und dem Gesetzentwurf entgegengebracht worden ist, Rechnung getragen werden. Über die Reformbestrebungen und die Gründe für eine Verfassungswidrigkeit des Vorhabens aufgrund von Art. 103 Abs. 3 GG wurde bereits viel geschrieben, auch auf diesem Blog.
Zahlen, über die niemand spricht
Allerdings gibt es einige bislang wenig beleuchtete Aspekte dieser Debatte, die es sich lohnt, näher zu betrachten, da sie ein befremdendes Bild unserer derzeitigen Wahrnehmung der Funktion des Strafrechts zeichnen. Eigentümlich wirkt zunächst und vor allem die Vehemenz, mit der diese Reform betrieben wird. Es kann hier keine genaue Prognose erfolgen, wie viele Verfahren durch eine Erweiterung des § 362 StPO um eine Nr. 5 tatsächlich neu aufgerollt würden. Allerdings gibt es doch ein paar Zahlen, die eine grobe Idee davon vermitteln können und die in der Diskussion bislang nicht auftauchen: Im Jahr 2019 wurden von 179 wegen vollendeten Mordes Abgeurteilten nur fünf rechtskräftig freigesprochen (Strafverfolgungsstatistik 2019, Statistisches Bundesamt Fachserie 10, Reihe 3, 2019, Tabelle 2.2. S. 64 f.). Wie hoch die diesbezügliche Fehlurteilsquote ist, weiß niemand genau. Jedenfalls zeigt die Erfahrung anderer Länder, dass es sich um eine verschwindend geringe Zahl von Wiederaufnahmen handelt. Jedoch geht der Entwurf über die Durchbrechung der Rechtskraft des Freispruchs vom Vorwurf des vollendeten Mordes hinaus. Denn der Wortlaut des § 362 Nr. 5 StPO stellt allein prospektiv auf die hohe Wahrscheinlichkeit einer künftigen Verurteilung wegen vollendeten Mordes (oder Völkermordes) ab, vollkommen unabhängig davon, welche Straftat ursprünglich angeklagt war. Damit steht in der Sache jeder rechtskräftige Freispruch von einem Gewaltdelikt im weiteren Sinne unter dem Vorbehalt, dass sich nicht später doch noch der Verdacht eines vollendeten Mordes ergibt – etwa wenn der Angeklagte rechtskräftig vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen worden ist, das Opfer danach verstirbt und sich nachträglich neue Beweise für einen vollendeten Mord ergeben. Der Wortlaut des § 362 Nr. 5 StPO in der geplanten Fassung ließe eine Wiederaufnahme in einem solchen Fall wohl zu.
Wenige Fälle, über die viel gesprochen wird
Auffallend ist, dass sich die öffentliche Debatte zwar für diese wenigen Fälle, die aufgrund ihrer Dramatik und des Engagements der Angehörigen große Aufmerksamkeit erhalten, interessiert, nicht aber für die Fälle, in denen eine Unschuldige zu Unrecht verurteilt worden ist. Hier greift ganz sicher nicht das Argument, dass es in diesen Fällen mit § 359 Nr. 5 StPO den Wiederaufnahmegrund der nova bereits gibt. Denn bei § 359 StPO – anders als bei § 362 StPO – ergibt sich die Notwendigkeit der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens in Fällen, in denen durch das nachträgliche Auftauchen neuer Tatsachen oder Beweise gewichtige Zweifel an der Schuld der Verurteilten entstehen, bereits aus dem verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsrechten der zu Unrecht Verurteilten.
Absurde Aspekte der Debatte
Was sich also zeigt: Es scheint in der kollektiven Wahrnehmung als wichtiger erachtet zu werden, die drei mutmaßlichen Täterinnen eines vollendeten Mordes mit aller Kraft noch hinter Gitter zu bringen, die möglicherweise zu Unrecht frei herumlaufen, als sich um die vielen Unschuldigen zu kümmern, die zu Unrecht bereits im Gefängnis sitzen. Die berühmte Common-Law-Maxime William Blackstones „the law holds that it is better that ten guilty persons escape than that one innocent suffer”, (Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Vol. 2 (1765/1893), S. 358) hat es also hierzulande nie zum gesellschaftlichen common sense geschafft, wie auch der Gesetzentwurf des „Gesetzes zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit“ zeigt, in dem es heißt:
„Der Rechtsfrieden und das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung werden durch einen erwiesenermaßen ungerechtfertigten Freispruch wegen Mordes (…) in mindestens ebenso starkem Maße beeinträchtigt wie durch die Verurteilung eines unschuldigen Angeklagten.“
Fixierung auf das Erfolgsunrecht?
Fragwürdig erscheint schließlich, ob die in der Gesetzentwurfsbegründung betonte Beschränkung auf Höchstunrecht, das heißt vollendete Straftaten gegen das Höchstgut Leben (S. 10: „Erfasst werden nur vollendete Verbrechen“) eine Brandmauer gegen zukünftige rechtspolitische Begehrlichkeiten aufstellen kann. Spätestens seit dem Siegeszug der finalen Handlungslehre ist es ein strafrechtlicher Gemeinplatz, dass dem Handlungsunrecht überragende Bedeutung zukommt. Es hängt häufig nur vom „Glück“ oder „Pech“ des Täters ab, ob die vorsätzlich ausgeführte Handlung den tatbestandlichen Erfolg verursacht oder nicht. Im schrecklichen „Pausenbrot“-Mordfall wurde beispielsweise der Angeklagte, der auf die Pausenbrote seiner Arbeitskollegen eine Quecksilber-Methyl-Substanz träufelte, die giftiger gewesen sein soll als „Kampfstoffe im ersten Weltkrieg“, wegen versuchten Mordes zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, da die Opfer überlebten, von denen eines „nur noch als die leibliche Hülle seiner selbst (existiert).“ Solange das Vergiftungsopfer nicht gestorben ist, wäre nach § 362 Abs. 5 n.F. kein Raum für eine Wiederaufnahme, sofern der mutmaßliche Täter mangels Beweisen zunächst rechtskräftig freigesprochen worden wäre. Bei solchen Tatbildern versuchter Mordtaten mit schwersten verschuldeten Auswirkungen wird alsbald die nächste rechtspolitische Kampagne anrollen, um ne bis in idem zu schleifen.
Wenn man einmal auf der Argumentationsebene der „materiellen Gerechtigkeit“ und der „unerträgliche Ergebnisse“ aufgrund formal-rechtsstaatlicher Garantien angekommen ist, verlässt man die Dogmatik und eröffnet das weite Feld der (reinen) Politik. Wollen wir das Strafrecht wirklich so verstehen: als ein Instrument reiner Symbolpolitik?
Zitiervorschlag: Daria Bayer/Thomas Grosse-Wilde, Wahrnehmungsverschiebungen bei der Wiederaufnahme, JuWissBlog Nr. 71/2021 v. 25.6.2021, https://www.juwiss.de/71-2021/
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[…] es nicht auf das ursprünglich, sondern nur auf das im Wiederaufnahmeverfahren angeklagte Delikt ankommt, sodass jede Person betroffen ist, die einer Tat angeklagt war, die in der […]