Haarspalterei – Wie der Freistaat Bayern bei der Rückzahlung von Corona-Bußgeldern geizt

von PATRICIA ALTENBURGER

Nachdem das BVerwG der besonders strengen bayerischen Ausgangsbeschränkung mit Urteil vom 22.11.2022 nachträglich eine Absage erteilt hatte, stellte sich die Frage, was mit den bereits bestandskräftigen Bußgeldbescheiden, die Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkung sanktionierten, geschehen solle. Bayerns Gesundheitsminister Holetschek ließ bekanntgeben, im Wege des Gnadenrechts nur diejenigen Bußgelder zurückzuzahlen, die auf derjenigen Ausgangsbeschränkung, die das BVerwG für rechtswidrig erklärt hat, und deren Geltungszeitraum beruhen. Bußgelder, die auf einer inhaltsgleichen, aber früheren Regelung beruhen, würden hingegen nicht zurückgezahlt. Holetschek stellt somit streng auf den Verfahrensgegenstand ab. Dieses formale Verständnis verwundert vor allem deshalb, weil der Freistaat Bayern in einem anderen Hauptsacheverfahren vor dem BayVGH eine gänzlich andere Ansicht vertritt.

Aber zunächst der Reihe nach.

1. Was sagt das BVerwG?

In seinem Urteil vom 22.11.2022 stellte das BVerwG die Rechtswidrigkeit der Bayerischen Ausgangsbeschränkung im Zeitraum vom 01.04.2020 bis 19.04.2020 im Wesentlichen aus zwei Gründen fest.

Zum einen sei die Maßnahme nicht erforderlich gewesen, da § 4 BayIfSMV auch ein Verweilverbot im Freien beinhaltete und nicht dargetan sei, weshalb bloßes Verweilen im Freien allein oder mit Angehörigen des eigenen Hausstands infektiologisch bedeutend sei.

Zum anderen sei die Ausgangsbeschränkung nicht angemessen gewesen, da der Freistaat keinen erheblichen Mehrwert für die Reduzierung des Infektionsgeschehen im Hinblick auf die deutlich eingriffsintensivere Ausgangsbeschränkung im Vergleich zur Kontaktbeschränkung dargelegt habe.

Darüber hinaus hat das höchste deutsche Verwaltungsgericht auch Überlegungen zur teilweisen Unwirksamkeit der Ausgangsbeschränkung angestellt und diese Möglichkeit mangels Teilbarkeit der Regelung verneint.

2. Was macht der Freistaat Bayern daraus?

Der Bayerische Gesundheitsminister Holetschek hat bei der Rückabwicklung von Bußgeldern betont, er orientiere sich eng an den Urteilsgründen. Deswegen würden auch nur Bußgelder zurückgezahlt, die wegen eines Verweilens im Freien verhängt wurden und nicht beispielsweise wegen des Feierns einer sogenannten Coronaparty. Außerdem könne nur in den Fällen das Bußgeld zurückbezahlt werden, die in den Geltungszeitraum der Verordnung vom 01.4.2020 bis 19.4.2020 fielen.

Bußgeldbescheide, die auf einer inhaltsgleichen Ausgangsbeschränkung beruhen, wie der Allgemeinverfügung vom 20.03.2020 oder der Verordnung im Zeitraum vom 24.03.20 bis 31.03.20, werden also nicht von der Rückzahlung erfasst. Warum, möchte man sofort fragen? Weil der Minister streng auf den Verfahrensgegenstand abstellt. Wiederum drängt einen sogleich die Frage nach dem Warum? Geht es nicht um die Tatsache, dass das BVerwG die Bayerischen Ausgangsbeschränkungen, die derart eng gefasst waren, dass sie – entgegen der damaligen Beteuerung des Bayerischen Ministerpräsidenten Söder – nicht einmal erlaubten, alleine ein Buch auf der Parkbank zu lesen, für rechtswidrig erklärt hat? Nun kann man natürlich penibel auf den Verfahrensgegenstand abstellen und sagen, das Gericht habe eben nur diese Ausgangsbeschränkung in diesem Zeitraum überprüft. Das scheint aber bei der Ermessensausübung hinsichtlich der Rückzahlung der rechtskräftigen Bußgelder die Rechtskraftgrenzen übertrieben zu betonen, ist schließlich auch klar, wie das BVerwG über eine inhaltsgleiche und nur geringem zeitlichen Abstand erlassene Ausgangsbeschränkung geurteilt hätte. Die Maßnahmen waren stets für kurze Zeit befristet, unterschieden sich aber inhaltlich nicht. Streng auf den Geltungszeitraum abzustellen, spaltet ein einheitliches Geschehen daher künstlich auf, zumal die Befristung der Verhältnismäßigkeitswahrung diente und nicht der Abgrenzbarkeit einer Vor- zu ihrer Nachfolgerregelung. Zudem ignoriert Holetschek – trotz der Beteuerung, sich am Urteil zu orientieren – mit seinem Vorgehen, nur Verstöße gegen das Verweilverbot zurückzuzahlen, die Aussage des BVerwG, wonach die Maßnahme gerade nicht nur zum Teil, sondern insgesamt rechtswidrig war, sodass auch andere Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkung ohne Rechtsgrundlage erfolgten.

3. Was sagt der BayVGH?

Das Interessante dabei: Eine gänzliche andere Position vertritt der Freistaat Bayern in dem Hauptsacheverfahren (Fortsetzungsfeststellungsklage) zu der Eilsache, die die Vorgängerregelung zum Verfahrensgegenstand hat, also die Ausgangsbeschränkung im Geltungszeitraum vom 24.03.2020 bis 31.03.2020. In materieller Hinsicht unterscheiden sich die beiden Ausgangsbeschränkungen nicht; lediglich redaktionelle Änderungen finden sich dort. Mit einer Entscheidung in der Sache ist aber nicht mehr zu rechnen, denn die Beteiligten haben das Verfahren für erledigt erklärt. Wie kam es dazu? Der Freistaat Bayern stieß als Erstes eine Erledigungserklärung des Antragsstellers an. Dabei ging der Freistaat selbst davon aus, dass aufgrund des Beschlusses des BayVGH vom 04.10.2021, den das BVerwG mit genanntem Urteil bestätigte, bereits mit allgemeiner Verbindlichkeit gem.
§ 47 V 2 Hs. 2 VwGO die Rechtswidrigkeit der Ausgangsbeschränkung feststehe. Denn es handle sich laut der Landesanwaltschaft Bayern um den „im Wesentlichen selben Streitgegenstand“.

47 V 2 Hs. 2 VwGO in dem Verfahren heranzuziehen, überzeugt allerdings nicht. Es lässt sich bereits tatbestandlich darüber streiten, ob § 47 V 2 Hs. 2 VwGO in einem Fortsetzungsfeststellungsverfahren, das in der Sache eine Feststellungsklage darstellt und gerade kein Normenkontrollverfahren gem. § 47 VwGO, Anwendung findet. Jedenfalls aber spricht der Telos der Norm gegen eine Anwendbarkeit: Die durch § 47 V 2 Hs. 2 VwGO angeordnete Rechtskrafterweiterung folgt aus dem objektiven Rechtsschutzcharakter eines Normenkontrollverfahrens und dient der Rechtssicherheit aller Normunterworfenen. Bei der Rechtswidrigkeit einer Norm soll diese insgesamt keine Anwendung mehr finden – nicht nur bezogen auf die Beteiligten des Verfahrens. Bei einer außer Kraft getretenen Norm, die im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage überprüft wird, kann dieser Telos nicht greifen, da es doch keine Norm mehr gibt, der man unterworfen ist. Über die vorherig geltende Ausgangsbeschränkung wurde demnach noch nicht richterlich entschieden – unabhängig von der Tatsache, dass die fehlende richterliche Entscheidung bei der Rückzahlung von Bußgeldern nicht als Argument heranzuziehen ist.

Trotz dieser Bedenken äußerte der BayVGH in einem nicht veröffentlichten Hinweis schlicht, dass es weder im Gesetz noch in Literatur oder Rechtsprechung einen Hinweis darauf gebe, § 47 V 2 HS 2 VwGO bei außer Kraft getretenen Normen nicht anzuwenden. Daraufhin erklärten die Antragsteller zur Vermeidung der Kostenfolge das Verfahren für erledigt.

4. Und nun?

Der Freistaat Bayern agiert in den Fragen zur Rechtswidrigkeit höchst widersprüchlich. Bei der Rückzahlung der Bußgelder orientiert er sich streng am Verfahrensgegenstand und beruft sich darauf, dass nur die Verordnung vom 01.04.2020 bis 19.04.2020 überprüft worden sein. In dem Hauptsacheverfahren, das eine frühere Ausgangsbeschränkung zum Gegenstand hat, beruft er sich hingegen auf eine Norm zur Rechtskrafterstreckung und bringt somit seine Ansicht zum Ausdruck, dass auch die inhaltsgleiche, wenn auch früher geltende, Ausgangsbeschränkung rechtswidrig war. Die nötige Konsequenz, dass dann auch die früheren Bußgeldbescheide zurückzuzahlen sind, zieht er jedoch nicht.

Nachdem der BayVGH die Ansicht einer Rechtskrafterstreckung aus § 47 V 2 Hs. 2 VwGO ebenfalls zu teilen scheint, stellt sich die Frage nach dem „Und nun?“: Eine Hauptsacheentscheidung wird es in diesem Verfahren nicht geben, sodass sich die Bußgeldbetroffenen, deren Bußgeldbescheide einen Verstoß gegen eine inhaltsgleiche, aber frühere Ausgangsbeschränkung zum Gegenstand haben, hierauf nicht berufen können. Möglich schiene allerdings ein Wiederaufnahmeverfahren gem. § 79 I BVerfGG. Demnach kann Wiederaufnahme beantragt werden, wenn das einer rechtskräftigen Strafverurteilung zugrunde liegende Gesetz nachträglich für nichtig erklärt wurde. Die Norm findet nach Ansicht der Literatur ihrem Rechtsgedanken nach auch Anwendung bei Entscheidungen der Verwaltungsgerichte im Hinblick auf untergesetzliche Normen (BeckOK BVerfGG/Karpenstein/Schneider-Buchheim BVerfGG § 79 Rn. 14 m.w.N). Zudem umfasst – nach umstrittener Ansicht – die Norm auch das Ordnungswidrigkeitenrecht. Denkbar, aber ebenfalls mit Unsicherheiten verbunden, wäre es, gegen die Ablehnung des Gnadengesuchs wegen Willkür vorzugehen. Eine erneute Fortsetzungsfeststellungsklage, an die man trotz der geäußerten Ansicht des BayVGH als Bußgeldbetroffene:r aufgrund Holetscheks Vorgehen denken könnte, dürfte nach umstrittener Ansicht an Verfristung scheitern oder aber an Verwirkung, da auch bei Erledigung vor Klageerhebung kein zeitlich grenzenloser Rechtsschutz gewährt wird.

Die Betroffenen müssten also, um ebenfalls eine Rückzahlung zu erhalten, mühevoll mittels einer der drei genannten Möglichkeiten den Rechtsweg beschreiten, wobei prozessuale und materielle Unsicherheiten bei einem Prozess stets bestehen bleiben. Insgesamt ergibt sich eine unschöne Ausgangslage. Man fragt sich auch: Wozu dieser komplizierte Weg? Freilich hat die Bestandskraft eine wichtige Bedeutung und schafft Rechtssicherheit. Wenn die Staatsregierung diese aber ohnehin bereits im Wege des Gnadenrechts durchbricht, sollte dies nach fairen und einheitlichen Maßstäben ablaufen. Konkret bedeutet das, die Staatsregierung könnte stattdessen Rückgrat beweisen und die juristische Niederlage vollumfänglich eingestehen – auch wenn die Ausgangsbeschränkung freilich nur zum Besten gedacht war. Gut gemeint ist aber noch lange nicht gut gemacht und eine etwas mildere Form der Ausgangsbeschränkung (oder ein Kontaktverbot) hätten es eben auch getan. Die Staatsregierung sollte daher alle Bußgelder zurückzahlen, die auf einer Ausgangsbeschränkung in dieser strengen Form beruhen. Nach Zeitraum oder auch Verhalten zu unterscheiden, ist Haarspalterei, zumal der Freistaat Bayern wie dargelegt selbst von der Rechtswidrigkeit der früheren Ausgangsbeschränkung ausgeht. Freilich würde dann der ein oder andere davon profitieren, dessen Verhalten gefährlich und rücksichtslos war (Stichwort „Corona-Party“). Letztlich ist das aber die Konsequenz des bayerischen Übereifers in Form rechtswidriger Normgebung. Diese Konsequenz sollte der Freistaat Bayern entsprechend tragen.

 

Zitiervorschlag: Altenburger, Patricia, Haarspalterei – Wie der Freistaat Bayern bei der Rückzahlung von Corona-Bußgeldern geizt, JuWissBlog Nr. 26/2023 v. 04.05.2023, https://www.juwiss.de/26-2023/.

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