Die Brücke von Varvarin nach Kunduz

Von PHILIPP STOECKLE

jsKönnen und sollen Gerichte Kriegsfolgen aufarbeiten? Wer haftet in internationalen Bündnissen? Welche Regeln gelten: Im nationalen Recht, das nicht für solche Extremfälle geschaffen wurde und im Völkerrecht, das in Bewegung ist? Diese Fragen stellen sich seit einiger Zeit verstärkt für Gerichte in NATO-Mitgliedstaaten und werden in Zukunft weitere Konflikte hervorbringen – der Blick reicht über Afghanistan bis nach Syrien. In den vergangenen Wochen fielen gleich zwei Entscheidungen: Während der Hoge Raad der Niederlande Entschädigungsansprüchen von Opfern des Srebrenica-Massakers den Weg bereitete, lehnte das Bundesverfassungsgericht Ansprüche der Opfer und Angehörigen des Angriffs auf die Brücke von Varvarin ab. Diese beiden Verfahren weisen, trotz ihrer Unterschiede, auch einem dritten den Weg: Den Ansprüchen der Kunduz-Opfer vor dem LG Bonn.

Varvarin, Kunduz – Srebrenica

Ein ferner Konflikt, ein militärischer Fehler, zivile Tote und Verletzte. Überlebende und Angehörige verlangen wegen der Verletzung von Völkerrecht Schadensersatz und Schmerzensgeld, Verantwortliche fürchten den Verlust von militärischem und politischem Handlungsspielraum, Gerichte zögern bei der Kontrolle von Militärhandlungen und sehen eine Prozessflut auf sie zukommen.

Im Varvarin-Verfahren klagten Opfer eines NATO-Luftangriffs im Jahr 1999, bei dem zehn Menschen getötet und dreißig weitere – teilweise schwer – verletzt wurden. Alle waren Zivilpersonen; in der Ortschaft war kein Militär stationiert. Vor dem Hoge Raad ging es um die Opfer des Massakers in Srebrenica, die von der niederländischen Blauhelm-Einheit Dutchbat zum Verlassen ihres Militärlagers gezwungen und so in die Arme ihrer Mörder getrieben wurden. Im Kunduz-Verfahren klagen einige der 142 Opfer der von Oberst Klein angeordneten NATO-Luftschläge vom 04.09.2009.

Die völkerrechtliche Dimension: What’s a right without a remedy?

Problematisch ist in allen Verfahren, ob Kriegsopfer überhaupt aus dem Völkerrecht eigene Haftungsansprüche herleiten können. Etwas in der Welt des Völkerrechts ist ins Rutschen gekommen, wenn nach einem Konflikt nicht mehr allein Staaten sich beraten, Friedensverträge und Entschädigungsabkommen abschließen, sondern Einzelne sich auf den Weg machen, um eigene Rechte einzuklagen. Entsprechend ambivalent wird diese Entwicklung beurteilt: Chance für eine konsequente Absicherung der Rechte des Einzelnen einerseits, Bedrohung der friedenssichernden Funktion des Völkerrechts andererseits.

Das Bundesverfassungsgericht schloss sich erstmals ausdrücklich der traditionellen Auffassung an: Kein völkergewohnheitsrechtlicher Anspruch des Einzelnen[1] bei Verletzungen des Völkerrechts. Dieser sei im Völkerrecht zwar nicht länger allein ein durch den Staat „mediatisiertes“ Objekt, sondern auch Subjekt mit unmittelbaren Rechten und Pflichten, doch könne bei einer Rechtsverletzung nur sein Heimatstaat Ansprüche geltend machen. Das Völkerrecht habe die haftungsrechtlichen Konsequenzen seiner Neuorientierung hin zum Individuum noch nicht vollzogen, die entgegenstehende Staatenpraxis sich noch nicht zu einer Regel verdichtet. Ansprüche ergeben sich auch nicht unmittelbar aus völkerrechtlichem Vertrag: Wie bereits zu Art. 3 HLKO entschieden, sei auch Art. 91 Protokoll I nicht individualschützend konzipiert, sodass das humanitäre Völkerrecht – quasi als „hinkende Rechtsordnung“ – dem Einzelnen zwar einen Anspruch auf Beachtung bestimmter Regeln zugestehe, er aber keine eigenen Ansprüche wegen deren Verletzung geltend machen könne.

Warum so mutlos? Was nutzt der primäre Anspruch auf Einhaltung einer Regel, wenn kein diplomatischer Schutz, keine Konsequenzen zu erwarten sind? Die Rechtslage ist längst nicht so eindeutig. Die internationale Staaten- und Gerichtspraxis weist deutlich in die Richtung individueller Ersatzansprüche und dass es anders geht, zeigt gerade der Hooge Raad, der die Entscheidung des Berufungsgerichts aufrechterhielt, Ansprüche auch aus dem Völkerrecht herzuleiten.

Die staatshaftungsrechtliche Dimension: Kriege sind kein Ort für judicial restraint

Statt die Tür des Völkerrechts, öffnete das Bundesverfassungsgericht die des deutschen Staatshaftungsrechts um einen Spalt, der auch für das Kunduz-Verfahren relevant ist. Zwar äußerte es sich nicht dazu, ob die Amtshaftung aus Art. 34 GG iVm § 839 BGB auf Auslandseinsätze der Bundeswehr anwendbar ist[2], doch kritisierte es das halbherzige Wie des Umgangs des Gerichte mit diesem grundrechtsrelevanten Anspruch.

BGH und OLG hatten die militärischen Entscheidungen kaum überprüft. Wegen des „verteidigungs- und außenpolitischen Charakters militärischer Handlungen“ habe die Bundesregierung einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Völkerrechtmäßigkeit ihrer Handlungen – und damit hinsichtlich des tatbestandlichen Vorliegens einer Amtspflichtverletzung – den die Gerichte zu beachten haben. Und nicht nur das. Es sei auch Sache der Opfer, darzulegen und zu beweisen, dass die Bundesregierung Kenntnis von der bevorstehenden Bombardierung und ihrer Völkerrechtswidrigkeit hatte. Wie sollten gerade die Opfer an diese Informationen kommen?

Dieser kalten Enteignung der Opfer im Gerichtssaal stimmte auch die Kammer nicht zu. Freie Beurteilungsspielräume der Exekutive seien auch im Bereich der Staatshaftung die Ausnahme und militärische Handlungen seien gerade nicht politisch und frei, sondern regelgeleitet und nachprüfbar. Ferner gehe es hier nicht um einen Interessenausgleich zwischen Privaten, sondern um die Sicherung von Grundrechten. Wo Betroffene nicht auf Interna zugreifen können, gebiete die Effektivität des Amtshaftungsanspruchs eine Einschränkung und Modifizierung der Darlegungs- und Beweislastregeln – bis hin zu einer Beweislastumkehr.

Insoweit hier die Rolle der Gerichte bei der Beurteilung von Kriegsfolgen gestärkt wurde, besteht eine bedeutsame Parallele zur Entscheidung des Hoge Raad. Auch die niederländischen Stellen hatten gegenüber den Gerichten einen nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum eingefordert. Wie das Bundesverfassungsgericht hielt das oberste Gericht der Niederlande diesen jedoch für nicht akzeptabel. Für Gerichte kann also – anders als oft geltend gemacht wird – kein qualitativer Unterschied des militärischen zu sonstigem Exekutivhandeln bestehen.

Haftungsrechtliche Schneisen im militärischen Zuständigkeitswirrwar

In einem anderen Aspekt dringt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jedoch leider nicht zum Kern der Problematik durch: Die Haftungsvermeidung (oder: Verschleierung) durch militärische Zuständigkeiten innerhalb eines internationalen Bündnisses.

Bei dem Varvarin-Bombardement waren deutsche Flugzeuge nicht direkt beteiligt gewesen. Die Bundesregierung hatte jedoch zuvor der Aufnahme der Brücke in die NATO-Zielkartei zugestimmt. Aufgrund der NATO-Maxime „need to know“ wurde sie aber nicht über den bevorstehenden Angriff unterrichtet, weil Mitgliedstaaten hiernach nur die Informationen erhalten, die sie zur Ausführung ihres unmittelbaren Auftrags benötigen. Das Bundesverfassungsgericht akzeptierte die Verteidigung der Bundesregierung im Ergebnis, dass diese nichts von dem konkreten Angriff gewusst habe und deshalb nicht haften müsse.

Auch hier hätte mehr Mut Gutes getan. So einleuchtend der Grundsatz „need to know“ (oder vielleicht besser: „Need not to know“?) in einem militärischen Bündnis sein mag, er führt hier dazu, dass die Bundesregierung die Hände in Unschuld wäscht, wo sie selbst ihre eigene Unkenntnis (mit-) verursacht. Wie aber mit einer Organisation haftungsrechtlich umzugehen ist, die es versäumt, die Kontrolle ihrer Repräsentanten zu ermöglichen, ist im Zivilrecht seit langem bekannt: Es liegt ein Organisationsverschulden vor, für das die Inhaber haften. Im öffentlichen Recht besteht für die Regierung als Verwaltungsspitze die Pflicht, rechtmäßiges Verhalten ihrer Weisungsempfänger etwa durch Aufsicht und Kontrolle zu gewährleisten. In Übertragung des zivilrechtlichen Grundsatzes rechtfertigt sich die mögliche Haftung also nicht in einer völkerrechtswidrigen Zielauswahl durch die Bundesrepublik – zu diesem Zeitpunkt war noch kein Angriff geplant –, sondern in dem prinzipiellen Ausschluss jeder weiteren Kontrollmöglichkeit.

Der Hoge Raad ließ sich hingegen nicht verwirren. Er rechnete die Handlungen des Dutchbat zumindest auch den Niederlanden zu, obwohl sie im weiteren Rahmen der UN-Friedenssicherungsmission erfolgte. Trotz der Unterschiede: Hierin lässt sich jedenfalls prinzipiell eine größere Bereitschaft erkennen, hinter die formalen Kommandostrukturen zu blicken und ihre haftungsrechtlichen Implikationen zu problematisieren.

Folgen für das Kunduz-Verfahren

Das LG Bonn hat die Weichen im Sinne des BVerfG bereits gestellt: Kein völkerrechtlicher Anspruch, aber möglicherweise Amtshaftung der Bundesrepublik. Dann wird sich das Gericht auch mit der Anwendbarkeit dieses Anspruchs auf Kriegsschäden auseinandersetzen müssen. Eine Fortgeltung des noch bis 1945 geltenden Ausschlusses lässt sich unter dem Grundgesetz kaum begründen. Ferner scheint das Gericht zu einer vollen Überprüfung der Geschehnisse anhand des humanitären Völkerrechts gewillt: Es hat für den 30.10. eine umfassende Beweisaufnahme anberaumt und offenbar die Bundeswehr verpflichtet, entsprechendes Material vorzulegen.

All dies hilft zwar den Opfern des Varvarin-Bombardements nicht mehr, doch geht von ihrem Verfahren, wenn auch etwas versteckter als im Beschluss des Hoge Raad, die Maßgabe aus, dass auch nach bewaffneten Konflikten Gerichte der Ort sind, an dem Wahrheit ermittelt, Verantwortung zugewiesen und die Rechte des Einzelnen geschützt werden.

 

Philipp Stöckle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völker- und Europarecht (Prof. von Arnauld) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster


[1] Nach den Art. 25 und 59 Abs. 2 GG gelten die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sowie die völkerrechtlichen Verträge der Bundesrepublik innerstaatlich und erzeugen Rechte für den Einzelnen, entweder direkt oder über Art. 25 S. 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht prüft die Verletzung von Völkergewohnheitsrecht in einer Verfassungsbeschwerde indirekt über Art. 2 Abs. 1 GG.

[2] Das OLG Köln hatte diese Frage bejaht, Urt. v. 28.07.2005, Az. 7 U 8/04, Rn. 83 ff. – Varvarin.

 

BVerfG, Kunduz, Srebrenica, Staatshaftungsrecht, Varvarin, Völkerrecht
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8 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Ich stimme Herrn Stöckle voll und ganz zu. Ein guter Beitrag.

    Antworten
  • Tim René Salomon
    18. September 2013 12:41

    Hi! Danke für Deinen Beitrag zu diesem spannenden Themenkomplex. Drei spontane Anmerkungen:

    1. Die Entscheidung des obersten niederländischen Gerichts ist eine Revisionsentscheidung in einem Feststellungsverfahren. Sie stellt fest, dass das Verhalten von Dutchbat rechtswidrig war (was die Streitkräfte stattdessen hätten machen sollen sagt es unbefriedigender Weise nicht) und es den Niederlanden zurechenbar ist. Über Individualansprüche aus dem Völkerrecht sagt das Urteil nichts, diese Verfahren laufen noch.
    Das Urteil ist demnach m.E. auch nicht als „internationale Staaten- und Gerichtspraxis“ heranzuziehen, die „deutlich in die Richtung individueller Ersatzansprüche“ aus dem Völkerrecht weist.

    2. Das BVerfG stellt sich in Varvarin nicht generell gegen Beurteilungsspielräume der Exekutive bei militärischen Handlungen. Es sagt lediglich (zutreffenderweise), dass der Gehalt von Listen in denen legitime Ziele aufgeführt sind, gerichtlich anhand der humanitär-völkerrechtlichen Maßstäbe voll überprüfbar ist. Bei Kunduz liegt der Fall anders. Die Tanker waren unstreitig legitime Ziele. Schon daher dürfte Varvarin diesbezüglich keine Auswirkungen auf das Kunduz-Verfahren haben.
    Darüber hinaus aber nochmal: Das BVerfG sagt nicht, es bestehe generell kein Beurteilungsspielraum bei militärischen Entscheidungen. Das wäre m.E. auch schwer vertretbar, denn es geht hier regelmäßig um Abwägungsentscheidungen mit unsicheren Konsequenzen und damit um den Schulfall von Beurteilungsspielraum bei Prognose- und Risikoentscheidungen.

    3. Die Parallele zwischen Varvarin und Srebrenica („Der Hoge Raad ließ sich hingegen nicht verwirren…“) sehe ich nicht. Bei Srebrenica ging es um Handeln (oder Unterlassen? – auch dazu schweigt das Gericht) der niederländischen Sreitkräfte, die nach Scheitern ihrer Mission im Rückzug befindlich waren – in der Varvarin-Situation ging es um keinerlei vergleichbare Handlungen Deutschlands. Warum das BVerfG sich angeblich verwirren ließ, scheint mir nicht ganz einleuchtend. Es stellte lediglich fest, dass Deutschland das Verhalten nicht zuzurechnen war. Das Gegenteil erscheint mir auch problematisch, denn die Situation nach „dem Ausschluss von Kontrollmöglichkeiten“ ist eben keine effektive Kontrolle. Als solche müsste man sie aber ansehen, um zu dem gegenteiligen Ergebnis zu kommen. Die Pflicht ein bestimmtes Verhalten der „Weisungsempfänger“ durch Aufsichtsmöglichkeiten zu gewährleisten mag im Zivilrecht in Unternehmen greifen, in militärischen Aktionen mit gleichberechtigten Bündnispartner scheint mir das an der Realität etwas vorbei zu gehen.

    Antworten
  • Philipp Stöckle
    19. September 2013 08:19

    Vielen Dank für deine Anmerkungen!

    Ich stimme dir schon vorab in einem Punkt zu: Die Verfahren unterscheiden sich- sowohl im Tatsächlichen, wie auch im Verfahrensgang. Weil sie aber zeitlich nah beieinander lagen, und im weiteren Sinne ähnliche Aspekte zum Hintergrund haben (Rolle der Gerichte, Haftung nach Völkerrecht) halte ich einen Vergleich für notwendig, möglich und, trotz der Unterschiede, für aufschlussreich.

    Das gilt besonders für den Beurteilungsspielraum militärischer Stellen. Da kann man auch gut die relevanten Passagen nebeneinander stellen.

    BVerfG:

    „Im vorliegenden Fall dürfte die Zubilligung eines nicht justiziablen Beurteilungsspielraums zugunsten der Bundesregierung verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen sein. (…) Die hier in Rede stehenden völkerrechtlichen Regelungen verwenden zwar unbestimmte Rechtsbegriffe zur Beschreibung dessen, was ein legitimes militärisches Ziel sein kann; deren Auslegung und Anwendung ist aber in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht anhand objektiver Kriterien durchaus überprüfbar“

    Hoge Raad:

    „..no basis for the exercise of judicial restraint of this kind can be found in unwritten international law, the ECHR or the ICCPR, or indeed in the domestic law of the Netherlands. The exercise of judicial restraint of this kind in such a review, as advocated in these parts of the appeal, would mean that there would be virtually no scope for the courts to assess the conduct of a troop contingent in the context of a peace mission, in this case the conduct of which Dutchbat and the state are accused. Such far reaching restraint is unacceptable.“

    Ich stimme dir zwar zu, dass man diese Aussagen allein als auf den Verfahrensgegenstand (Erstellung von Listen bzw. Handeln von Peace Keeping Soldaten) bezogen verstehen kann. Gerade aber mit Blick auf die gesamte Argumentation (Beim BVerfG: Beurteilungsspielräume der Exekutive die Ausnahme, Funktionsgrenzen der Rechtsprechung nur bei verteidiguns“politischen“ (also nicht: Operativen) Fragen) halte ich aber eine Verallgemeinerung für möglich. Und: Warum sollte gerade für die im Kunduz-Verfahren relevanten Fragen (gebotene Vorsichtsmaßnahmen, Verhältnismäßigkeit) nun wieder ein Beurteilungsspielraum gelten? Auch diese Handlungen sind im Sinne des BVerfG anhand des humanitären Völkerrechts „in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht anhand objektiver Kriterien durchaus überprüfbar“.

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  • Mich verwundert die These, es gehe hier um „Abwägungsentscheidungen mit unsicheren Konsequenzen und damit um den Schulfall von Beurteilungsspielraum bei Prognose- und Risikoentscheidungen“. Die Fälle Varvarin und Kunduz sind doch sehr nah dran an klassischen polizeirechtlichen Gefahrenabwehrmaßnahmen, bei denen eine strenge gerichtliche Überprüfung auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite stattzufinden hat.

    Antworten
  • Philipp Stöckle
    19. September 2013 09:34

    Das waren jetzt, trotz inhaltlicher Nähe, zwei unterschiedliche „Philipps“ ; ).

    Antworten
  • Tim René Salomon
    19. September 2013 13:19

    Hi! Gute Diskussion. In der Tat, die zeitliche Nähe macht einen Vergleich möglich, vielleicht auch nötig. Ich denke trotzdem auf Grund meiner o.g. Kritikpunkte, dass die „Brücke von Varvarin nach Kunduz“ allenfalls eine brüchige ist.

    Zum Beurteilungsspielraum:
    Das niederländische Gericht weist auf folgendes hin:
    „The court should indeed make allowance for the fact that this concerns decisions taken under great pressure in a war situation…“
    Das klingt nach Beurteilungsspielraum wegen einer Risikoentscheidung für mich. In dem Zusammenhang würde ich Dir gern interessehalber nochmal die Antwort auf die Frage abnötigen, was hätten die Niederländer in der Situation tun sollen – was ist das vorwerfbare Verhalten? Da gibt das Urteil m.E. nicht viel her. Eigentlich hätte es aber drauf eingehen müssen, oder?

    Im von Dir zitierten Punkt sagt das Gericht, für eine pauschale richterliche Zurückhaltung aufgrund des (rechtlich unüberzeugenden, wenn auch faktisch zutreffenden) Arguments der Niederlande, dass es sonst die politische Folge wäre, dass sich Staaten nicht mehr zur Truppenstellung für derartige Einsätze bereit erklären, sei kein Raum. Das ist völlig zutreffend. Es bedeutet aber gerade nicht, dass der Staat keinen, der richterlicher Überprüfung entzogenen Beurteilungsspielraum bei militärischen Handlungen hat. Darüber sagt das Gericht mit der zitierten Stelle nichts. Es sagt nur (und völlig zu Recht), die vorgebrachte politische Folge sei für die rechtliche Betrachung irrelevant.

    Ich bin überrascht, dass meine These zum Beurteilungsspielraum verwundert. In Varvarin ging es um eine Liste, auf der militärische Ziele aufgeführt waren. Das ist gerichtlich natürlich voll überprüfbar. Der Staat kann keinen Beurteilungsspielraum geltend machen wenn es (plakativ gesprochen) um die Frage geht, ob eine zivile Schule im Schulbetrieb ein legitimes Ziel ist.
    In Kunduz geht es um die Frage, ob ein (unbestritten) militärisches Ziel auf Grundlage der ex ante verfügbaren Erkenntnislage so angegriffen werden durfte oder nicht bzw. ob – soweit Amtshaftung Anwendung findet – drittschützende Amtspflichten verletzt wurden. Das ist doch eine völlig andere Situation. Da geht es – anders als bei Varvarin – nicht um (un)bestimmte Rechtsbegriffe, sondern um eine militärisch-taktische Entscheidung.

    Bei beiden Situationen sehe ich zudem keine Ähnlichkeit zu polizeirechtlichen Gefahrenabwehrmaßnahmen (die bzgl der Rechtsfolge im Übrigen nicht voll, sondern nur auf Ermessensfehler überprüfbar wären).

    Antworten
  • Philipp (nicht Stöckle)
    19. September 2013 15:24

    Ich hatte Kunduz bisher so verstanden, als gehe es nicht um eine rechtsfreie „militärisch-taktische Entscheidung“, sondern um die Wahrung der Verhältnismäßigkeit. Dabei sind die Grenzen des humanitären Völkerrechts vergleichsweise weit (umgekehrte Proportionalität), dürften hier aber nach bisherigem öffentlichem Kenntnisstand überschritten sein (ersichtlich keine Gefahr durch feststeckende Tanklaster; große Anzahl an Zivilisten bei nur wenigen [mutmaßlich] anwesenden Taliban).

    Insofern kommt es wohl nicht darauf an, ob deutsche Hoheitsgewalt nach dem Grundgesetz stets an engere Grenzen gebunden ist – die jedenfalls nicht ohne weiteres durch weniger strenge völkerrechtliche Bindungen (die Staaten ja übererfüllen dürfen) abgeschwächt werden. Und ob nicht wenigstens die Grundfragen des Einsatzes militärischer Gewaltmittel durch Parlamentsgesetz geregelt sein müssten, wie in der Literatur schon länger gefordert wird.

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  • Tim Rene Salomon
    20. September 2013 11:58

    Hi,
    Beim Auslandseinsatzgesetz bin ich tendenziell bei Dir, auch wenn sich ein solches in Generalklauseln verlieren würde.

    Beim HVR nicht:
    Niemand spricht ja von einer rechtsfreien Entscheidung – die Frage ist nur wie intensiv die gerichtliche Überprüfung ist. Es geht in der Tat um die Kollateralschadensproblematik. Man wird es sich nicht so leicht machen können ex post zu sagen, die Maßnahme war humanitär völkerrechtlich unverhältnismäßig und damit verboten. Art 51 Abs 5 lit b ZP I liegt eine ex ante Perspektive zugrunde. Maßnahmen sind verboten, bei denen die Gefahr ziviler Kollateralschäden ex ante in keinem Verhältnis zum militärischen Vorteil stehen. Sowohl die Gefahr ziviler Schäden als auch die militärische Notwendigkeit sind gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar (siehe Armin Huhn, S 195 unter Verweis auf die herrschende Ansicht, http://www.peacepalacelibrary.nl/ebooks/files/33423526X.pdf#page215).
    Ich würde nicht so weit gehen, den Tanklastern die Gefährlichkeit völlig abzusprechen und für zivile Opfer lagen bei Kunduz nach bisherigen Ermittlungen keine Erkenntnisse vor. Ich sehe da keine so klare Verletzung des HVR.

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