Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden: Im Burkini ist der koedukative Schwimmunterricht einer muslimischen Schülerin regelmäßig zumutbar, daher hat sie keinen Anspruch auf Unterrichtsbefreiung. Die Entscheidung ist größtenteils positiv aufgenommen worden, so auch bei den türkischen Gemeinden und in internationalen Medien. Im Kern stellt sich – wieder einmal – für den Staat die Gretchenfrage: „Wie hast du’s mit der Religion?“[1].
Die pragmatische Lösung des Bundesverwaltungsgerichts im Burkini-Fall verschleiert dabei die wahre Stoßrichtung der Antwort zum rechtsdogmatischen Grundkonflikt zwischen Religionsfreiheit und Schulpflicht. Erhellender ist die Parallelentscheidung zur Ablehnung der Unterrichtsbefreiung für einen Anhänger der Zeugen Jehovas.
Strenge Glaubensgebote des Korans auf Seiten der Klägerin
Bisher ist nur das Ergebnis der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bekannt, die Entscheidungsgründe sind noch nicht veröffentlicht worden. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt aber – zumindest im Ergebnis – die vorangegangene Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs. Das Gericht ging davon aus, „dass die Klägerin in strenger Auslegung der Sure 24, Vers 31 des Koran die Gebote entnimmt, sich nicht dem Anblick Anderer in Badebekleidung (…) auszusetzen und körperliche Berührungen mit Jungen zu vermeiden“. Der Koran wird durch den Glauben der jungen Muslimin mithin abweichend vom islamischen Mainstream ausgelegt. Art. 4 I, II GG schützt aber nicht nur theologisch anerkannte Glaubenssätze, sondern auch das jeweilige Selbstverständnis[2]. Daher fallen auch Extrempositionen unter den Schutz der weit verstandenen Religionsfreiheit. Es ist davon auszugehen, dass auch das Bundesverwaltungsgericht den Schutzbereich der Religionsfreiheit als eröffnet ansah.
Grundrechtsdogmatischer Konflikt
Folgerichtig ist die Teilnahmepflicht am Schwimmunterricht, auch im Burkini, als Eingriff in das Grundrecht der Klägerin zu bewerten. Derartige Eingriffe können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden, also andere Grundrechte oder in der Verfassung verankerte Rechtsgüter. Nach Ansicht des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes findet sich eine solche Rechtfertigung in Art. 7 I GG. Ähnlich sieht das Bundesverwaltungsgericht laut Pressemitteilung den Eingriff „durch die staatlichen Erziehungsziele verfassungsrechtlich gerechtfertigt, die mit dem koedukativen Schwimmunterricht verfolgt würden“. Art. 7 I GG sagt im Wortlaut: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“. Erst in der Interpretation wird daraus die Berechtigung und Verpflichtung des Staates „zur Festlegung von Erziehungszielen“ mit der Schulpflicht als „Instrument zur Verwirklichung“. Schließlich setzen sich in der Abwägung mit dem empfundenen Glaubensgebot die staatlichen Erziehungsziele durch: Es ist wichtiger, dass die Schülerin im Rahmen des gewöhnlichen Schulunterrichtes Schwimmen lernt, als dass sie bis aufs Äußerste ihren Glaubensgeboten folgen kann.
Die pragmatische Lösung, die Klägerin auf den Burkini als milderes Mittel zu verweisen, weicht von der Befreiungslösung[3] des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1993 ab. Vielleicht war die verlockend einfache und pragmatische Lösung ausschlaggebend, die der Burkini für das Problem Schwimmunterricht bietet: Mit dem Ganzkörperanzug ist etwas für die religiösen Gefühle getan und gleichzeitig kann der Unterricht wie gehabt weitergehen. Eine Win-Win-Situation. Dazu kommt als Nebeneffekt: Die häufig beklagte Ungleichbehandlung mit christlichen Fundamentalisten, deren Töchter auch nicht schwimmen gehen sollten, aber nach bisherigen Gerichtsentscheidungen müssen[4], wird damit weitgehend aufgehoben.
Die „Krabat“-Entscheidung lüftet den Schleier über der Gretchenfrage
Dass die Burkini-Lösung praktisch und einleuchtend daherkommt, sagt tatsächlich nichts darüber aus, ob damit die rechtsdogmatische Frage befriedigend beantwortet wurde. Diese Frage lautet weiterhin: Wie sehr darf die weit verstandene Religionsfreiheit, die deutlich in Art. 4 I, II GG verankert ist, gegenüber der aus Art. 7 I GG nur abgeleiteten Schulpflicht eingeschränkt werden? Im Kern bleibt diese „Gretchenfrage“ durch Zuhilfenahme des Burkinis im Schwimmunterricht erst einmal offen.
Hier hilft die Parallelentscheidung „Krabat“ weiter. Es ging um einen Anhänger der Zeugen Jehovas, der den Kinobesuch des Filmes „Krabat“ wegen Verwendung schwarzer Magie ablehnte. Auch hier entschied das Bundesverwaltungsgericht für die Schulpflicht. Die Schulpflicht setzte sich damit gegen die Religionsfreiheit durch, obwohl es sich beim Besuch der Jugendbuchverfilmung kaum um einen wesentlichen Bestandteil des staatlichen Erziehungsauftrages handeln dürfte. Demgegenüber begründeten die Kläger nach Ansicht des OVG Münster „eindrucksvoll (…) in eigenen Stellungnahmen unter Angabe konkreter Bibelstellen und Schriften ihrer Glaubensgemeinschaft“, wieso im Film beschriebene „schwarze Magie“ aus religiösen Gründen abgelehnt wird. Ebenso kamen sie der Schulleitung entgegen und akzeptierten die Teilnahme ihres Sohnes an der Filmnachbesprechung und der Behandlung von Textauszügen im Schulunterricht. Hier wäre eine Befreiung des Schülers vom Filmbesuch möglich gewesen, wie das OVG Münster in vorgehender Entscheidung nach ausführlicher Abwägung feststellte. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts lässt dagegen kein Entgegenkommen im Sinne einer pragmatischen „Burkini“-Lösung zu. Es gibt keine Win-Win-Situation, sondern nur ein alles oder nichts: Entweder der Schüler muss ins Kino oder er darf zuhause bleiben. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich für ersteres entschieden.
Die Tendenz: Mehr Schulpflicht, weniger Religionsfreiheit
Die Pflicht zur Teilnahme am Schwimmunterricht im Burkini, die Pflicht zur Teilnahme am Film „Krabat“: Am Ende des Tages bleibt beim ersten Blick auf beide Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts der Eindruck, dass die Schulpflicht im Sinne der Integration aller Schüler in die Gesellschaft auf dem Vormarsch ist.
Alle schauen auf den Burkini. Weil dieser aber für den Einzelfall eine pragmatische Lösung bietet, ist die Zustimmung zu Recht sehr groß. Der Schleier über der Gretchenfrage wird damit erst durch die Entscheidung zum Zeugen Jehovas-Anhänger ein Stück weiter gelüftet. Beim „Krabat“-Filmbesuch wäre eine Nichtteilnahme keine große Sache gewesen. Hier wurde trotzdem die Religionsfreiheit einer Minderheit zugunsten der Schulpflicht beschränkt. Lautet damit vielleicht die Antwort auf die Gretchenfrage: Religion – lieber nicht zu viel davon?
[1] Goethe, Faust I, Vers 3415.
[2] Vgl. zum Kopftuch BVerfGE 108, 282 (298 f.) u. grundlegend BVerfGE 24, 236 (247 f.).
[3] BVerwGE 94, 82-94.
[4] So bspw. BayVGH, 7 B 92.70, KirchE 189-195.