von CHARLOTTE HEPPNER und THOMAS WIERNY
Am 22. September 2013 traten die Wähler an die Urnen und haben 631 Volksvertreter in den 18. Deutschen Bundestag gewählt. „Nur“ einen Monat später – ganz nebenbei bemerkt unter voller Ausschöpfung der 30-Tage-Frist des Art. 39 Abs. 2 GG – fand die konstituierende Sitzung statt. Doch aufgrund der Schwierigkeiten von CDU/CSU und SPD bei der Bildung der Regierungskoalition kommt die parlamentarische Arbeit nicht recht in Schwung: Die für das Tagesgeschäft aufgrund seiner Komplexität unabdingbar wichtigen Ausschüsse, in denen diese Arbeit zum großen Teil stattfindet, sind jedoch bis heute nicht gebildet worden.
Tradition und Machtverteilung
Traditionell werden die Ausschüsse des Bundestages spiegelbildlich zum von der jeweiligen Koalition gewählten Ressortzuschnitt gebildet. Da dieser aber – zumindest offiziell – noch nicht Thema der Koalitionsverhandlungen war, blockieren die Mehrheitsfraktionen im Bundestag die Ausschussbildung. Schließlich geht es auch bei der Besetzung der Ausschüsse um eine Austarierung der Macht… Dass solcherlei Proporzentscheidungen der Arbeitsfähigkeit des Bundestages vorgehen und eine nachträgliche Umbesetzung – möglicherweise gar zu Lasten eines Parteifreundes – keinesfalls in Frage kommt, erschließt sich dem wachen Beobachter quasi sofort.
Ein „Hauptausschuss“ im Bundestag?
Stattdessen wurde für die Plenarsitzung am 28. November ein Antrag auf Einsetzung eines „Hauptausschusses“ als Sonderausschuss angekündigt. Bundestagspräsident Lammert erläuterte, dieser solle bis Januar „all jene Beratungsgegenstände erörter(n), über die der Bundestag nicht ohne vorherige Ausschussberatung befinden will“. Schön, ein handlungsfähiges Parlament ist begrüßenswert. Doch ist es wirklich so einfach?
Ausschüsse im Deutschen Grundgesetz
Zahlreiche Ausschüsse finden im Grundgesetz Erwähnung. Unsere Verfassung gibt dem Bundestag etwa auf, einen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu bilden (Art. 45 Satz 1 GG). Gleiches gilt für die Ausschüsse für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung, beide Art. 45a Abs. 1 GG. Für die Bearbeitung der „Bitten und Beschwerden“ der Bürger hat die Volksvertretung gem. Art. 45c Abs. 1 GG einen Petitionsausschuss zu bestellen. Außerdem sieht das Grundgesetz das in diesen Zeiten äußerst wichtige PKG vor, Art. 45d Abs. 1 GG. Weitere Ausschüsse des Bundestages, die auch auf einfachgesetzlicher Ebene als existent vorausgesetzt werden, wie zum Beispiel der Wahlprüfungsausschuss, seien einmal außen vor gelassen.
Einer für alle(s)?
Kann also vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund tatsächlich ein „Hauptausschuss“ die offenbar vorgegebenen Ausschüsse ersetzen? Der Wortlaut der zitierten Verfassungsartikel lässt durchaus mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu. In Art. 45 Satz 1 GG und Art. 45a Abs. 1 GG heißt es jeweils: „Der Bundestag bestellt einen Ausschuss für (…)“. Stellt man dem den leicht abweichenden Wortlaut der Art. 45c Abs. 1 GG und Art. 45d Abs. 1 GG („…einen Petitionsausschuss“ bzw. „Parlamentarisches Kontrollgremium“ als einzige amtliche Überschrift) gegenüber, scheint eine differenzierende Interpretation wie folgt möglich:
Im ersten Fall steht die Aufgabe, die erfüllt werden soll, im Vordergrund – wohingegen die zweite Formulierung aufgrund der Aufnahme der Aufgaben in den Namen der jeweiligen Institution nahelegt, dass hier eher die Installation des Ausschusses bzw. des Gremiums im Vordergrund steht. Insofern wäre eine Betrauung des „Hauptausschusses“, der auch die Funktionen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union, des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und des Ausschusses für Verteidigung wahrnimmt, mit dem Wortlaut wohl vereinbar. Das kann bei dieser Lesart allerdings keinesfalls für den Petitionsausschuss gelten.
Der Verfassungsgeber hat einige Ausschüsse für so elementar gehalten, dass er ihre Existenz trotz der an sich bestehenden Freiheit des Bundestages, Anzahl und Zuschnitt seiner Ausschüsse selbst zu wählen, durch die explizite Erwähnung im Grundgesetz sicherstellen wollte (Dürig/Klein in: Maunz/Dürig, GG, Art. 45a, Rdnr. 12 sprechen in diesem Zusammenhang von dem Erfordernis unverzüglicher Bestellung). Ausschüsse ermöglichen die Spezialisierung der Abgeordneten auf bestimmte Themengebiete. Bei der Arbeit im angedachten „Hauptausschuss“ dürfte dieser Effekt verpuffen.
In kleineren Runden – die auch weniger Medienaufmerksamkeit hervorrufen – ist eine konzentriertere (Sach-)Diskussion nicht zuletzt durch den Abstand zur großen Polit-Bühne möglich. Auch kommt der Beitrag des einzelnen Abgeordneten dort besser zur Geltung und findet eher Beachtung. Diesen beiden für den Einsatz von Fachausschüssen streitenden Argumenten ist auch durch den „Hauptausschuss“ genüge getan.
Insbesondere hinsichtlich des „Europa-Ausschusses“, der – nach entsprechender Ermächtigung – Kompetenzen des Bundestages direkt wahrnehmen kann, tritt das Argument der besseren Reaktionsfähigkeit von kleinen Gremien hinzu. Von dieser Ermächtigung hat der Bundestag bislang nie Gebrauch gemacht. Die Möglichkeit verdeutlicht aber den entsprechenden Gedanken des Verfassungsgebers. Zwar ist der in Aussicht stehende „Hauptausschuss“ mit 40 bis 42 Mitgliedern nicht ungewöhnlich groß. Er ist jedoch mit einer solch breiten Aufgabenpalette betraut, sodass ausreichende Reaktionsgeschwindigkeit angezweifelt werden darf.
Zwangsurlaub für Abgeordnete?
Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch ein Perspektivwechsel: Neben den genannten objektiven Interessen an der Arbeit des Bundestages, manifestieren sich die Interessen der Allgemeinheit auch in den subjektiven Mitwirkungsrechten der Abgeordneten, die selbstverständlich auch ein eigenes Interesse an der Ausschussarbeit haben (vgl. BVerfGE 44, 308 (319 f.). Bereits im Jahre 1989 stellte das BVerfG fest, wie wichtig die Ausschüsse für den Bundestag, aber auch für den einzelnen Abgeordneten sind.
Es erkannte der Arbeit in den Ausschüssen eine der Plenararbeit „vergleichbare Bedeutung“ zu: „(V)or allem in den Ausschüssen eröffnet sich den Abgeordneten die Chance, ihre eigenen politischen Vorstellungen in die parlamentarische Willensbildung einzubringen (vgl. BVerfGE 44, 308 [317 f.]). Von daher darf ein Abgeordneter nicht ohne gewichtige, an der Funktionstüchtigkeit des Parlaments orientierte Gründe von jeder Mitarbeit in den Ausschüssen ausgeschlossen werden.“ (Rdnr. 120). Genau dies passiert aber bei Umsetzung der in Rede stehenden Pläne mit mindestens 587 Abgeordneten des Bundestages – nicht aus Gründen der Funktionstüchtigkeit, sondern gar zu Ihrem Nachteil.
Von dem „Teil des Entscheidungsprozesses“, der in die Ausschüsse „ausgelagert“ wird, sind somit sage und schreibe 93% (!) der vom Volke gewählten Vertreter ausgeschlossen. Ein „Gremium ‚praeter constitutionem‘“ (so Prof. Dr. Max-Emanuel Geis, Uni Erlangen) vermögen wir hier zwar nicht zu erblicken, mit der Rechtsprechung des BVerfG ist der „Hauptausschuss“ aber schlichtweg nicht vereinbar.
[Update│05.12.2013]
Der Bundestag hat den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Einsetzung des „Hauptausschusses“ mit den Stimmen der antragstellenden Fraktionen angenommen. Der Ausschuss hat nunmehr 47 Mitglieder. Die Zahlen im obigen Beitrag sind daher wie folgt zu aktualisieren: 584 Mitglieder des Bundestages sind momentan von der Ausschussarbeit ausgeschlossen. Damit nehmen 92,5% der gewählten Volksvertreter an der wesentlichen Arbeit des Parlaments nicht teil und hatten beispielsweise keine Stimme bei der Vorberatung der Gesetzesentwürfe bzgl. des EU-Programms „Europa für Bürgerinnen und Bürger“, oder der bzgl. Finanzhilfen des Bundes zur Kinderbetreuung. In Bezug auf den zuletzt genannten Entwurf tagte der „Hauptausschuss“ „als Haushaltsausschuss“ – „Der Auftakt der 18. Wahlperiode war und ist verfassungswidrig.“ (Heribert Prantl)