von CONSTANTIN LADWIG
Die direkte Demokratie wird oft als Wundermittel gegen Politverdrossenheit und aufkommenden Populismus gepriesen. Dabei ist offensichtlich, dass Deutschland nicht auf rein direktdemokratische Weise regierbar ist. Die zentrale Herausforderung, die auch im Zentrum des Falls beim HANSEMOOT stand, ist daher, das richtige Maß bei der möglichen Einführung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene zu finden: Weder sollten potentielle direktdemokratische Elemente nur theoretisch nutzbare Als-ob-Rechte sein, noch darf deren Einführung den für die repräsentative Demokratie essentiellen Zusammenhang zwischen Macht und Verantwortung zerschlagen.
Angesichts der Tatsache, dass Art. 20 II 2 GG Wahlen und Abstimmungen nebeneinanderstellt, ist eine Einführung direkt-demokratischer Elemente jedenfalls durch eine Verfassungsänderung möglich. Ob der Vorrang der repräsentativen Demokratie an sich in Frage gestellt werden darf, erscheint hingegen zweifelhaft.
Zunächst spricht die systematische Erwägung, dass das Grundgesetz die demokratischen Anforderungen an die Landesverfassungen in Art. 28 I 2 GG dahingehend konkretisiert, dass das Volk eine gewählte Repräsentation haben muss, plebiszitäre Elemente hingegen fakultativ sind, gegen eine Gleichrangigkeit.
Vor allem jedoch kann sich die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG denklogisch nur auf die ursprüngliche extrem repräsentativdemokratisch ausgestaltete Fassung des Grundgesetzes beziehen. Bei der Auslegung des Art. 20 II 2 GG muss daher zum einen die bewusste Entscheidung des parlamentarischen Rats gegen direktdemokratische Elemente berücksichtigt werden, zum anderen, dass wegen der Ewigkeitsgarantie auch bei Verfassungsänderungen für die Auslegung von Art. 20 II 2 GG die ursprüngliche Verfassungsidentität maßgeblich ist. Art. 79 III i.V.m. Art. 20 I und II GG schützen nicht irgendein blasses und in jeder Hinsicht formbares Demokratieprinzip, sondern eine Verfassungsidentität, eine Demokratie „im Sinne dieses Grundgesetzes“ (Art. 28 I 1 GG), die sich in einer Gesamtschau der prägenden Faktoren des Grundgesetzes als vorrangig repräsentativdemokratisch präsentiert und nicht beliebig geändert werden darf.
Ist die repräsentative Demokratie die „demokratischere“ Demokratieform?
Karl Popper definierte das zentrale Problem von Herrschaft nicht als die Frage, wer herrscht, sondern wie die Herrschenden aufgrund der Mehrheitsentscheidung der Beherrschten abgelöst werden können. Das leuchtet ein, bedenkt man, dass ein Volk selbst nicht herrschen kann, da es keine einheitliche Konzeption entwerfen und politisch auszugestalten vermag. Demokratie ist damit richtig verstanden nicht Volksherrschaft, sondern Volksbeurteilung der Herrschenden.
Auf dieser Idee basiert die repräsentative Demokratie, in deren Zentrum der Konnex zwischen Wahl einer Regierungsmehrheit, die dadurch ein zeitlich begrenztes Mandat zur Umsetzung eines politischen Programms erhält, und dem Zur-Verantwortung-Ziehen eben dieser Mehrheit bei der nächsten Wahl steht. Die repräsentative Demokratie ist demnach maßgeblich ein dialogisches Verfahren zwischen den Repräsentanten und den Wahlberechtigten, das nur solange funktioniert, wie eine Regierungsmehrheit auch tatsächlich die Möglichkeit hat, eine eigene, ihr zurechenbare Politik zu gestalten.
Dem Volksgesetzgeber dagegen ist dieser Verantwortungszusammenhang fremd, er muss weder Fragen beantworten noch Rechenschaft über seine Entscheidungen ablegen, er kann zugleich den Atomausstieg befürworten und Stromtrassen vom Norden in den Süden ablehnen. Da er nicht abgelöst werden kann, ist er gewissermaßen eine Macht ohne Verantwortung, dem schon aus diesem Grund keine ständige, dem parlamentarischen Gesetzgeber gleichgeordnete Mitgestaltungsfunktion zukommen darf. Daneben ist zu beachten, dass die Etablierung des Volksgesetzgebers als ständiges, dem parlamentarischen Gesetzgeber gleichgestelltes Legislativorgan den dialogischen Zusammenhang zwischen Wahl einer Mehrheit und Verantwortung dieser Mehrheit für die dann folgende Politik zerstört, da das ständige Intervenieren des Volksgesetzgebers eine eigenständige und in sich kohärente Politik des parlamentarischen Gesetzgebers schlechthin vereiteln kann. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der parlamentarische Gesetzgeber geneigt sein dürfte, schwierigen Entscheidungen auszuweichen und lieber das „Volk sprechen zu lassen“. Dabei wird auch eine Stärke des repräsentativen Systems verschenkt, die darin liegt, dass ein parlamentarischer Gesetzgeber auch unpopulären Entscheidungen im Rahmen eines sinnvollen Gesamtkontextes fällen kann.
Ist der Demos demnach ein Demokratiefeind?
Es hat sich gezeigt, dass plebiszitäre Elemente keinen Herrschaftscharakter haben dürfen, da sie den für die Demokratie maßgeblichen Verantwortlichkeitszusammenhang zwischen Entscheidungsträgern und Entscheidungsfolgen mit der möglichen Konsequenz der Absetzung der Entscheidenden nicht kennen. Sie sind gleichwohl weder demokratiefremd noch demokratieschädlich, wenn sie eine Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion einnehmen, indem sie punktuell Entscheidungen der Repräsentationsorgane korrigieren, wenn diese Partikularinteressen durchsetzen oder Mehrheitsinteressen bewusst oder manchmal auch unbewusst ignorieren. Die Stärke der direkten Demokratie liegt somit darin, dass sie die Responsivität der Regierungsmehrheit erhöht, indem sie den Repräsentierten ein Instrument an die Hand gibt, um die Regierungsmehrheit auch zwischen den Wahlen zur Verantwortung ziehen zu können. Daneben helfen direktdemokratische Elemente auch den Repräsentanten, indem sie indizieren, wann das repräsentativdemokratische System in besonders frappierender Weise an seiner Aufgabe, den Wählerwillen in die Gesetzgebung umzusetzen, gescheitert ist. Diese Indikatorfunktion setzt indes voraus, dass plebiszitäre Elemente einen Ausnahmecharakter bewahren.
Beide Effekte tragen dazu bei, den Konnex zwischen Macht und Verantwortung zu stärken, sodass nach diesem Verständnis die direkte Demokratie vorrangig der Stärkung der repräsentativen Demokratie dient.
Ausblick
Direktdemokratische Elemente hätten demnach einen legitimen Platz im grundgesetzlichen Gefüge. Ihre Einführung wäre nicht nur verfassungsmäßig, sondern auch wünschenswert, wenn sie nicht als Herrschaftsinstrument der Repräsentierten, sondern als ein neben den Wahlen zusätzliches Instrument zur Kontrolle der Repräsentanten verstanden werden. Diese Funktion hängt jedoch maßgeblich davon ab, dass Volksgesetzgebung eine Ausnahmeerscheinung bleibt, die nur von einem relevanten Teil der Wahlberechtigten ausgeübt werden kann. Insofern sind anspruchsvolle, aber noch erreichbare Quoren insbesondere bei der Einleitung eines Volksgesetzgebungsverfahrens unabdingbar. Dabei bietet es sich an, sich an die in den Bundesländern erprobten Quoren anzulehnen und diese bei einer eventuellen Einführung auf Bundesebene jedenfalls nicht zu unterbieten. Das hieße auf der Stufe der Volksinitiative jedenfalls nicht weniger als 0,5%, auf der Stufe des Volksbegehrens nicht weniger als 5% der Wahlberechtigten zu fordern. Vor dem Hintergrund, dass die Verfassung auch in unruhigen Zeiten Stabilität bieten soll und plebsizitäre Elemente gerade nicht der „Jagd“ auf die parlamentarische Regierungsmehrheit dienen sollen, wären auch deutlich höhere Einleitungsquoren durchaus begrüßenswert.
Das Zustimmungsquorum beim Volksentscheid sollte dagegen eine geringe Rolle spielen, da es zwei negative Nebeneffekte hat: Zum einen entwertet es die direktdemokratischen Elemente, wenn Abstimmungsberechtigte nicht von ihrem Recht Gebrauch machen, weil sie davon ausgehen, dass das Quorum ohnehin nicht erreicht wird. Zum anderen resultiert ein hohes Zustimmungsquorum häufig in der unbefriedigenden Situation, dass die Abstimmungsmehrheit ein Gesetz unterstützt, ohne das Quorum selbst zu erreichen.
Veröffentlicht unter CC BY NC ND 4.0.