Drei Fragen an den Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof

von JUWISS-REDAKTION

Ferdinand_KirchhofDer HANSEMOOT endete am 14. November 2017 mit der fulminanten Festrede „Demo-crazy? – Zur Zukunft der Demokratie in Deutschland und Europa“ des Vizepräsidenten und Vorsitzenden des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof. In seinem Vortrag beschäftigte sich Kirchhof mit der Zukunft der Demokratie in Deutschland und Europa. Im Anschluss hatten wird die Gelegenheit zu einem kleinen Interview.

Festrede „Demo-crazy? – Zur Zukunft der Demokratie in Deutschland und Europa“

Im Hinblick auf die Lage der Demokratie in unserem Verfassungssystem benannte Kirchhof drei Gefahren. Erstens verschiebe sich das Machtverhältnis zwischen Regierung und Parlament derzeit erheblich in Richtung der Exekutive. Staatstragende Entscheidungen würden zunehmend von der Regierung getroffen und vom Parlament bloß nachvollzogen. Zweitens verändere sich der demokratische Diskurs in bedenklicher Weise. Zunehmend würde der freie Meinungsaustausch durch „moralisierende Missionare“ übernommen, die andere Ansichten tabuisieren und Gegenargumente nicht mehr als legitim akzeptieren. Drittens berge die digitalisierte Steuerung Risiken für die Demokratie. Politisch wertende Entscheidungen könnten sich durch die algorithmische Steuerung in das stille Kämmerlein der Programmierer verschieben, ohne dass die Quellcodes für die Öffentlichkeit transparent sind.

Um das Demokratiedefizit auf europäischen Ebene abzumildern, plädierte Kirchhof für eine Stärkung direktdemokratischer Elemente. Mangels europäischer Parteien, Medien und Diskussionen fehle es an einer originär europäischen Politik. Direkt-demokratische Elemente in Europa könnten daher helfen, nationale Egoismen zu überwinden und eine europäische Öffentlichkeit herzustellen. Eine Stärkung der Teilhabe an europäischen Entscheidungen sei vor dem Hintergrund des stetig zunehmenden Einflusses europäischer Regulierung auf die nationale Rechtsetzung von großer Bedeutung für die Demokratie.

Drei Fragen zu direkter Demokratie

JuWissBlog: Vielfach wird beklagt, die Steuerungskraft des Staates sinke durch die steigende Komplexität und Geschwindigkeit technischer Innovation. Gleichzeitig sinkt das Vertrauen in politische Eliten und populistische Akteure gewinnen an Einfluss. Manche sehen direkt-demokratische Entscheidungen als Ausweg aus dem Dilemma an. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass eine direkte Entscheidungsteilhabe zu einem Lerneffekt der Bürger führen und die Demokratie auf lange Sicht beflügeln könnte. Denken Sie, dass eine unmittelbarere Entscheidungsbeteiligung des Volkes unsere Demokratie bereichern und stabilisieren kann?

Kirchhof: Mehr direkte Demokratie würde die Menschen im Land wieder näher an den Staat heranführen. Die unmittelbare Beteiligung durch Abstimmungen gäbe ihnen Anlass zur Identifikation mit dem eigenen Staat, die momentan sehr im Argen liegt. Sie würde – wie die politische Erfahrung zeigt – nicht lediglich in eine Verweigerung von Änderungen und einem Nein-Sagen münden, sondern den Grundsatz, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, mit neuem Leben erfüllen.

JuWissBlog: Die Digitalisierung erlaubt sehr viel niedrigschwelligere Beteiligungsformate als bisher. Nie waren die Transaktionskosten, Bürger zu informieren oder sie gar an hoheitlichen Entscheidungen teilhaben zu lassen, so niedrig wie heute. Sehen Sie die Digitalisierung als Chance oder als Bedrohung für die Demokratie an?

Kirchhof: PC und Internet erlauben rasche Informationen zu politischen Fragen. Deren Herkunft bleibt aber oft im Dunklen, weil jede beliebige Person zu allem und ohne Belege oder Argumente Stellung nehmen kann. In den „sozialen Medien“ entspannt sich auch kaum eine Diskussion verschiedener Auffassungen über politische Fragen; sie dienen eher als Echokammern, welche die anderen Orts bereits gebildete Meinungen nur wiederholen und verstärken. Deshalb sehe ich die Digitalisierung aus dieser Perspektive mit etwas gemischten Gefühlen.  Auf die eigene Sichtweise kommt es mittlerweile aber gar nicht mehr an. Die Digitalisierung ist da – wir müssen mit ihr leben und uns auf sie einstellen.

JuWissBlog: Angesichts technischer Innovationen regt die Kommission in ihrem Weißbuch zur Zukunft der EU an, die öffentlichen Diskussionen zu erleichtern und die europäische Öffentlichkeit stärker miteinzubeziehen. Welche Potenziale und Wagnisse sehen Sie für eine Fortentwicklung der Elemente partizipativer, assoziativer und direkter Demokratie als ergänzende Faktoren bei der Legitimation europäischer Hoheitsgewalt im europäischen Staatenverbund?

Kirchhof: Das demokratische Defizit der EU verlangt dringend nach mehr unmittelbarer Demokratie. Nach Art. 10 f. EUV verkehren die europäischen Vertragsorgane nur mit den Verbänden der Zivilgesellschaft. Das ist zu wenig und vom Volk zu sehr entrückt. Die dort vorgesehene Volksbeteiligung ist in der zulässigen Thematik und in den Rechtsfolgen erfolgreicher Abstimmungen viel zu weich. Ich würde mir in der EU einen kräftigen Schub in Richtung auf eine direkte Demokratie wünschen. Sonst bleibt sie Projekt einer Elite und wird nicht zur politischen Einheit aller Unionsbürger.

Veröffentlicht unter CC BY NC ND 4.0.

Demokratie, demokratische Legitimation, Digitalisierung, direkte Demokratie, EU, Ferdinand Kirchhof, Hansemoot
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