Große Erwartungen wurden seit der Einführung der Europäischen Bürgerinitiative durch den Vertrag von Lissabon gehegt: Als erstes direktdemokratisches Instrument im Unionsrecht sollte sie das Partizipations- und Legitimationsdefizit auf unionaler Ebene lindern, eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit schaffen, Misstrauen und Verdrossenheit gegenüber den Entscheidungsprozessen der EU abbauen. Im vergangenen Jahr, dem Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger, gelang es der ersten Bürgerinitiative, die Voraussetzungen von einer Million Unterzeichnern und bestimmten Quoren in mindestens sieben Mitgliedstaaten zu erfüllen und zu übertreffen. Nachdem die Initiatoren von right2water ihr Anliegen der Europäischen Kommission im Dezember offiziell unterbreitet hatten, musste diese gem. Art. 10 Abs. 1 lit. c der VO 211/2011 binnen drei Monaten ihre „rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen zu der Bürgerinitiative sowie ihr weiteres Vorgehen bzw. den Verzicht auf ein weiteres Vorgehen und die Gründe hierfür“ darlegen. Die Mitteilung vom 19. März dieses Jahres wird zum Lackmustest für die direkte Demokratie in der EU: In welchem Ausmaß kommt die Kommission den Aufforderungen der Initiative nach oder geht wenigstens auf sie ein? Wenn sie entsprechende Maßnahmen ablehnt: wird dies zufriedenstellend begründet? Die Mitteilung stößt darüber hinaus eine im Schrifttum geführte Diskussion wieder an: Wozu kann die Kommission durch eine Bürgerinitiative aufgefordert werden?
Vorzeitiger (und zeitlich begrenzter?) Erfolg im Konzessionsbereich
Die Initiative right2water hatte mit 18 detaillierten Vorschlägen gefordert, das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung in der EU und weltweit umzusetzen und Wasserdienstleistungen nicht zu liberalisieren. Einen ersten Erfolg konnte die Initiative schon vor Erreichen der Quoren und der offiziellen Vorlage an die Kommission verzeichnen. Der öffentliche Protest in mehreren EU-Staaten, der sich Anfang 2013 gegen die DienstleistungskonzessionsRL und die gefürchtete Privatisierung der Wasserversorgung formierte, wurde von right2water begleitet und führte zu einem rasanten Anstieg der Unterzeichnerzahlen. Der zuständige EU-Kommissar schlug zunächst nur vor, bestimmte kommunale Unternehmen vom Anwendungsbereich der RL auszunehmen. Angesichts des nicht abebbenden zivilgesellschaftlichen Drucks befürwortete er im Sommer schließlich eine Ausnahme für den gesamten Wassersektor –um „den Bedenken so vieler Bürgerinnen und Bürger Rechnung (zu) tragen“. Am 26. Februar 2014 wurde die KonzessionsRL mit einer Ausnahme für wasserbezogene Dienstleistungen (Art. 12) angenommen. Den Einfluss der Öffentlichkeit auf das Rechtsetzungsverfahren bestätigt die Kommission in ihrer Mitteilung an die Initiatoren von right2water (S. 10) – und verzichtet auf den Hinweis, dass sie die wirtschaftlichen Auswirkungen der Ausnahmeregelung auf den Binnenmarkt 2019 (gemäß Art. 53 der RL) einer Prüfung unterziehen wird.
Tröpfchen von Erfolg in der Mitteilung der Kommission
Während die Kommission ihre offizielle Antwort in einer Pressemitteilung als „,Ja‘ zur ersten erfolgreichen europäischen Bürgerinitiative“ bejubelt, halten die Initiatoren sie für „wenig ambitioniert“, unterstützende Organisationen bemängeln, dass sie aus bloßen Absichtserklärungen bestehe, die Presse titelt von der „Arroganz der EU-Kommission“. Auf den ersten Blick fällt auf, dass die Kommission auf fast sechs der 14 Seiten die bisherigen Maßnahmen der EU in den Bereichen Wasserqualität und Wasserinfrastruktur wiedergibt. Das erscheint lang, aber insofern angemessen, als dass die Kommission den bestehenden oder eben nicht bestehenden Handlungsbedarf begründen muss. So formuliert die Kommission auch, dass sie bemüht war, „noch vorhandene Lücken“ und Bereiche, in denen „noch mehr getan werden muss“, ausfindig zu machen (S. 7 f.). Sie sagt allgemein zu, das bestehende EU-Wasserrecht „vollständig umzusetzen“ und „laufend zu überprüfen“ und kündigt beispielsweise eine EU-weite Konsultation zur Trinkwasserrichtlinie und eine Überprüfung der Wasserrahmenrichtlinie an (S. 9). Andere wohlklingende wie vage Versprechen lauten „mehr Transparenz“ in den wasserbezogenen Entscheidungsprozessen (S. 10 f.) und ein „integrativeres Konzept für die Entwicklungshilfe“ (S. 11 f.). Die von der Initiative angestrebte Förderung öffentlich-öffentlicher Partnerschaften wird nur für Partnerschaften mit Nicht-EU-Ländern kurz thematisiert (S. 12). Hinsichtlich einer der Hauptforderungen von right2water, Wasserdienstleistungen nicht der Liberalisierung zugänglich zu machen, führt die Kommission lediglich und lapidar bestimmte Beschränkungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe an und dass sie bei internationalen Handelsverhandlungen „weiterhin aktiv“ daran arbeiten werde, die nationalen Entscheidungen zu Wasserdienstleistungen zu respektieren (S. 10). Kein Wort zu weiteren Ausnahmen in Rechtssetzungsvorhaben wie bei der KonzessionsRL, kein Wort zu Ausnahmen in den geplanten Freihandelsabkommen CETA und TTIP. Was schließlich die Eigentumsverhältnisse an Wasserversorgungsunternehmen anbelangt, verweist sie auf ihre von Art. 345 AEUV verlangte Neutralität hinsichtlich der Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten (S. 9 f.). Zudem gebe es keine Rechtsgrundlage in den Verträgen für Rechtsakte, durch die„Unternehmen eine Verpflichtung für die Neuinvestition ihrer Gewinne auferlegt oder ihre Aktionärsstruktur geregelt würde“ (S. 10). Vielleicht kann die EU-Kommission aber durch die Bürgerinitiative auch zur Änderung der Verträge aufgefordert werden?
Vertragsänderungen als Gegenstand von EU-Bürgerinitiativen?
Dieselbe Frage stellt sich auch bei der primärrechtlichen Verankerung eines Menschenrechts auf Wasser. Der Vizepräsident der Bürgerinitiative Right2Water bedauerte in der Pressemitteilung, dass es keinen Rechtsetzungsvorschlag „für die Anerkennung des Menschenrechts auf Wasser gibt.“ Gemäß Art. 11 Abs. 4 EUV kann die Kommission nur „im Rahmen ihrer Befugnisse“ und „um die Verträge umzusetzen“ zu Vorschlägen aufgefordert werden. Da die Kommission nach Art. 48 Abs. 2 EUV Vertragsänderungsverfahren einleiten kann, würde eine solche Aufforderung zumindest formal von den Befugnissen der Kommission umfasst. Angesichts des Wortlauts von Art. 11 Abs. 4 EUV wird aber ganz überwiegend vertreten, dass die Änderung des Primärrechts nicht von einer Bürgerinitiative erfasst sein kann. Die Kommission hat sich dieser Auffassung angeschlossen, etwa als sie die Registrierung einer Initiative auf ein Menschenrecht auf Selbstbestimmung der Völker ablehnte. Ein nuancierter Ansatz wird hingegen von Dougan (Common Market Law Review 2011) vertreten: eine Änderung oder Ergänzung der Verträge könne auch zur Förderung der Werte und Ziele aus Art. 2 und 3 EUV und damit – wie von Art. 11 Abs. 4 EUV vorausgesetzt – zur Umsetzung der Verträge geschehen. In Art. 2 EUV werden die Achtung der Menschenwürde und die Wahrung der Menschenrechte genannt. Dass die Menschenwürde und das Recht auf Leben durch mangelhafte Wasserversorgung beeinträchtigt werden, hat die Kommission in ihrer Mitteilung anerkannt (S. 3). Eine solche Lesart des Art. 11 Abs. 4 EUV würde die Handlungsanforderungen und den Begründungsaufwand für die EU-Kommission erheblich ausweiten.
Fazit: Wässrige Antwort der Kommission
Die Kommission hat in ihrer Mitteilung nicht einen neuen Rechtsakt erwogen, sondern sich darauf beschränkt, bestehende Vorschriften und Programme aufzulisten und im Rahmen dieser Maßnahmen kleinere Verbesserungen und Bemühungen zuzusichern. Zu einigen Forderungen hat sie nicht einmal ausdrücklich Position bezogen. Auffallend dabei: umwelt- und entwicklungshilfebezogene Maßnahmen werden in den Vordergrund gerückt, die wirtschaftsrechtlichen Fragen rund um Wasserdienstleistungen knapp und oftmals mit Verweis auf die Mitgliedstaaten abgehandelt. Keine der Handlungszusagen bezieht sich auf die (Nicht-)Liberalisierung des Wassermarkts. Die bisherigen Unionstätigkeiten im Wasserbereich werden von der Kommission als quasi umfassend dargestellt, während die Forderungen nach einer über den status quo hinausgehenden Umsetzung des Rechts auf Wasser ohne Antwort bleiben.
Rechtsschutz und: Die Nächste, bitte!
Ob die Initiatoren von Bürgerinitiativen gegen eine solche unvollständige Mitteilung gerichtlich vorgehen können, etwa mit der Untätigkeitsklage nach Art. 265 Abs. 3 oder auch der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV, ist ungeklärt. Die right2water-Initiative könnte daher auch in Sachen Rechtsschutz Pionierin werden. Jedenfalls erhält die Kommission ganz bald erneut Gelegenheit, sich in Sachen direkter Demokratie zu beweisen. Die nächste Bürgerinitiative One of us mit knapp 1,9 Millionen Unterzeichnern und prominenten Unterstützern von Papst Franziskus bis Bundesverfassungsrichter a.D. Böckenförde wurde der Kommission zur Überprüfung vorgelegt. Sie unterbreitet sehr konkrete Änderungsvorschläge für bestimmte Verordnungen, um die „Vernichtung von Embryonen“ durch Haushaltsmittel, Entwicklungshilfe und in der Forschung zu verhindern. Nach dem lebenswichtigen Gut Wasser nun also: das Leben selbst.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Am 28. Mai hat die Europäische Kommission auf die zweite die Quoren erfüllende Europäische Bürgerinitiative „One of us“ geantwortet und die geforderten Änderungen abgelehnt. Auf etwa 12 Seiten legt die Kommission bisherige Maßnahmen der EU dar, auf ca. 5 Seiten geht sie auf die einzelnen Forderungen der EBI ein. Die Kommission sieht die Rechte auf Menschenwürde, auf Leben und körperliche Unversehrtheit in den aktuellen Regelwerken als hinreichend geschützt an.
http://ec.europa.eu/research/eci/one-of-us_en.pdf
Die Initiatoren nannten die Antwort in einer ersten Stellungnahme „hypocritical and disdainful“ und sprachen der Kommission ein Vetorecht ab.
http://www.oneofus.eu/the-commission-vetos-the-citizens-initiative-one-of-us/
Das Europäische Parlament hat einen Bericht zur bisherigen Implementierung der Europäischen Bürgerinitiative veröffentlicht (der diesen Blogbeitrag zitiert, siehe Fn. 66):
http://www.europarl.europa.eu/EPRS/EPRS_IDAN_536343_Implementation_of_the_European_Citizens_Initiative.pdf