von CHRISTOPH SMETS
Aus der Sicht eines Rechtswissenschaftlers, der mit Prof. Di Fabio im Staat keine Bedrohung der Freiheit, sondern ihren Garanten sieht, hinterlässt die Tagung den Eindruck, dass die Mehrheit der jungen Wissenschaft im öffentlichen Recht den Nationalstaat für ein grundlegendes, aber eben nicht notwendiges Übel hält, seine Errungenschaften aber teils durchaus positiv bewertet. In den Referaten und Diskussionen wurde die Frage, ob man den (National-)Staat braucht, recht schnell und weitgehend widerspruchslos verneint.
Staatsanaloge Demokratie ohne Staat?
Jasper Finke etwa erklärte sich zwar in der Frage „Staat oder EU?“ zunächst zur neutralen Schweiz, jedoch nur, um im Folgenden alle Erklärungsmuster für ein Staatsvolk aus Geschichte, Sprache und Kultur als ideologisch zu verwerfen. Aber auch sonst sind seine Aussage wohl als Plädoyer für eine Entkoppelung von (zumindest National-)Staat und Demokratie zu verstehen: Zur Frage, ob Art. 20 i. V. m. Art. 79 III GG es verbietet, Demokratie auf europäischer Ebene staatsanalog zu gestalten, rief er mit Brun-Otto Bryde „Dafür spricht nichts!“ und forderte vehement eine Stärkung des Europäischen Parlaments (welcher ich mich nur anschließen wollte, sollte sie von umfassenden Änderungen im Gesamtaufbau der EU begleitet sein). Man könnte also meinen: Staat ja, Nationalstaat nein.
Meines Erachtens spricht jedoch für den Nationalstaat (und damit für eine Föderation statt eines europäischen Bundesstaats) eine ganze Menge: Demokratie heißt Herrschaft des Volkes. Die sich aufdrängende Frage „Herrschaft worüber?“ beantwortet sie selbst: wiederum über das Volk. In der Realität folgt diesen Feststellungen aber sofort die Frage: Welches Volk? Wer ist legitimerweise von der Herrschaft betroffen? Hier kann und sollte nicht einfach in einem „top-down“-Verfahren ein Volk-Sein verordnet werden: Was sich nicht zueinander zugehörig fühlt, wird nicht dauerhaft zusammen bleiben (man denke an das fragile Belgien, die Separationsbewegung der Basken, Katalanen und die devolution in Großbritannien); andersherum wird man im 25. Jahr des Mauerfalls auch behaupten können: Was sich einander zugehörig fühlt, kann auch 40-jährige Umerziehung nicht trennen.
Rechtsordnung oder Staatsordnung?
Damit ist die bei der Tagung m. E. nur teilweise und mehrheitlich indirekt behandelte Frage, was meinen wir denn, wenn wir vom Staat sprechen? aufgeworfen, die von Philipp Reimer im Gewand der Frage nach dem Wesen als „essentialistisch und deshalb zum Scheitern verurteilt“ gar nicht erst zur Diskussion zugelassen wurde (obwohl ich mit ihm übereinstimme, dass dem Staat wohl kein ontologisches Sein zukommt). Vielmehr wird der Staat mit der Rechtsordnung in eins gesetzt und damit im Grunde nur zur Frage weitergeleitet, ob mit der Reinen Rechtslehre beantwortet werden kann, ab wann eine Rechtsordnung zum Staat wird. Es bleibt der Eindruck, dass die Reine Rechtslehre als Theorie des positiven Rechts eben keine Staatslehre ist und deswegen auch nicht als solche genutzt werden kann.
Private oder öffentliche Souveränität?
Stattdessen bot uns Roya Sangi die These an, dass der Staat noch nie souverän gewesen ist, leider ohne darzustellen, was unter Souveränität zu verstehen sei. Dass Autarkie noch nie bestanden hat, sei ohne Umschweife zugestanden. Soweit ich ihre Auffassung richtig verstanden habe, sei Souveränität aber seit jeher unvollständig gewesen, weil ihr die Macht über das Private fehle. Dies würde aber zur Folge haben, dass Souveränität totale Herrschaft über jeden Lebensbereich bedeutete, was niemand (außer vielleicht der NSA) als wünschenswert erachtet.
Die Staats-Matrix
Im Gegenzug scheint mir der funktionale Staatsbegriff, wie ihn Dominik Elser postuliert, ein wenig ausgreifend: Wenn Staat ist, was Staat tut, muss weiterhin die Frage geklärt werden, wann es denn Staat ist, der tut. Wenn diese Zuweisung wiederum durch staatliche (sic!) Gesetze stattfindet, erhalte ich meine Einschätzung aufrecht, dass diese Auffassung – zumindest in ihrer Bestimmung des Staates – zirkulär ist. Wenn nun eine private Organisationform eine wie auch immer definierte Staatsaufgabe wahrnimmt, werde sie „Staat“ (vor dem geistigen Auge sehe ich die Agenten der Matrix, die durch Berührung neue Agenten schaffen). Als Aufruf zur besseren, deutlicheren Trennung von staatlich und privat kann ich seine Analyse aber durchaus unterstützen.
Weniger (Demokratie) ist mehr?
Meine letzten Bemerkungen müssen dem Referat von Malte Kröger gelten, das unter dem Motto zu stehen schien: „Weniger (Demokratie) ist mehr!“ Die qua europäischem Sekundärrecht ausgesprochene Verpflichtung, Verwaltungskörper zu schaffen, die Unionsrecht anwenden, diene der „größtmöglichen Normanwendung“ (Malte) – jedoch nicht im Sinne effizienter, sondern möglichst einheitlicher Ausübung europäischen Rechts. Wenn diese dabei keinerlei Weisungs-, Aufsichts- oder Letzteintrittsrechten (nicht einmal einer Dienstaufsicht) unterliegen, müssten sie aus der Sicht des Nationalstaats eigentlich als weiße Flecken auf der demokratischen Landkarte erscheinen. Erstaunlicherweise beantwortete Malte die Frage, ob durch bestimmte Rechtsakte die auch von ihm abgelehnte „feindliche Übernahme“ nationaler durch Unionsgewalt nicht bereits stattgefunden habe, mit einem knapp entwaffnendem „ja!“.
Deswegen sollte man aber noch nicht nach Hause gehen und die Verfassungsbeschwerde vorbereiten. Zunächst könnte man noch überlegen, warum (ggf.) 28 nachgerade „souveräne“ Verwaltungsstellen sozusagen „für besondere Aufgaben“ denn nun einen einheitlicheren Vollzug des Unionsrechts sichererstellen, als wenn dies in den klassischen Formen nationaler Verwaltungsstellen geschieht. Die Antwort lautet m. E.: Tun sie nicht. Was sie aber tun, ist den Mitgliedsstaaten die Hoheit über den Verwaltungsvollzug zu nehmen und Felder europäischer Politik dem Zugriff der Mitgliedsstaaten, so gut es ohne einen eigenen Verwaltungsunterbau geht, zu entziehen. Man hätte versuchen können, diese Form des „Durchregierens“ (wieder einmal) über die souveräne Abgabe von Souveränität zu erklären, doch Malte führte aus, dass diese Form des Verwaltens eigentlich sogar demokratischer, zumindest aber gleich demokratisch sei, als wenn die o. g. Aufsichtsrechte bestehen blieben: Zunächst entstehe mehr Transparenz, weil sich die Konflikte mit den Regierungen offen zeigten und nicht mehr im verwaltungsinternen Aufsichtsdschungel verschwänden. Selbst wenn man Transparenz als demokratischen Wert als solchen ansieht, stellt sich aber die Frage, ob bei der Einrichtung als Bundesoberbehörden (die sie dann wohl sein müssten), denn in Anbetracht des jeweiligen Ministeriums als unmittelbar Oberster Behörde das befürchtete schwarze Öffentlichkeitsloch entstünde und ob durch die Verkürzung auf Zitier- und Informationsrechte des Parlaments die Öffentlichkeit stärker erreicht wird, als wenn bereits Berichterstattung über fach- und rechtsaufsichtliche Schritte öffentlich würde.
Schließlich ist mir nicht klar, warum die – zugegebene Fiktion – der (aber immerhin) ununterbrochenen Legitimationskette eine schlechtere demokratische Legitimation bieten solle als das Fehlen einer solchen. Das (im Zusammenhang mit der EU) immer wieder invozierte „Legitimationsniveau“ bezog sich in der Lippeverband-Entscheidung zum einen auf einen Selbstverwaltungsträger (Wasserverband). Zum anderen – und viel entscheidender – entfällt im Falle autonomer Verwaltungskörper aber die personelle Legitimation, ohne dass diese in einem anderen Bereich (sachlich-inhaltlich, institutionell, funktionell) aufgewertet würde. Wie ein absolutes Weniger an Legitimation zu einer besseren führen soll, erschließt sich mir daher leider nicht.
Das Familientreffen im öffentlichen Recht
Bei aller Kritik: Wieder einmal eine hervorragende, ja opulente, Assistententagung mit vielfältigen Referaten und freudigem Wiedersehen, die immer auch ein „Familientreffen“ ist; inklusive ein bisschen Streit, Kaffee, Kuchen und Geschenken. Auf bald, liebe KollegInnen, schön war’s!