Aus der Entscheidung des BVerfG zum Treaty Override folgen neue Differenzierungen hinsichtlich der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Obwohl eine steuerrechtliche Problematik entschieden wurde, hat der Beschluss viel weiter reichende Auswirkungen auf das Verhältnis von einfachem Recht zum Völkervertragsrecht und zum Verfassungsrecht. Bestimmte völkerrechtliche Verträge können einen solchen Einfluss auf das Grundgesetz haben, dass Verstöße gegen sie auch einen Verstoß gegen das Grundgesetz darstellen – dies gilt allerdings nicht für Doppelbesteuerungsabkommen.
Steuerrechtliches Problem
Nach langer Zeit des Wartens wurde nun endlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Treaty Override veröffentlicht. Im Kern hat das BVerfG entschieden, dass ein Treaty Override, also das nachträgliche Überschreiben eines völkerrechtlichen Vertrages (konkret: eines Doppelbesteuerungsabkommens (DBA)) durch eine innerstaatliche Norm, nicht gegen das GG verstößt (Robert Frau hat die Entscheidung bereits in seinem Beitrag zusammengefasst). Dies ist zunächst vor allem für die steuerrechtsanwendenden Praktiker wichtig, da eine ganze Reihe von Vorschriften derzeit im Verdacht stehen, Treaty Overrides zu sein. Wäre eine Verfassungswidrigkeit von Treaty Overrides festgestellt worden, hätten diese Vorschriften verfassungsrechtlich überprüft und in der Folge gegebenenfalls geändert werden müssen. Gerade im steuerrechtlichen und damit finanziellen Bereich wäre mit empfindlichen Reaktionen zu rechnen gewesen.
Einordnung von völkervertraglichen Vorschriften ins Normengefüge
Doch neben diesem eher praktischen steuerrechtlichen Aspekt betrifft diese Entscheidung noch eine ganz andere Frage; nämlich die, wie der deutsche einfache und auch der verfassungsändernde Gesetzgeber ihre Tätigkeit in der internationalen Normenhierarchie einordnen können (und müssen). Traditionell gilt aus nationaler deutscher Perspektive ein Pyramidenaufbau: auf unterster Ebene stehen die einfachen Gesetze, darüber aufgrund ihrer Rangzuweisung durch Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und über allem steht die Verfassung. Aufgrund des Art. 59 Abs. 2 GG werden bilateral zwischen den Staaten geschlossene Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) in Deutschland als einfache Gesetze umgesetzt. Die Anwendungsregeln für einfache Gesetze (lex posterior derogat legi priori und lex specialis derogat legi generali), die auf dieser untersten Ebene regeln, welches Gesetz Anwendung findet, würden in einem derart aufgebauten System einen Treaty Override verfassungsrechtlich problemlos ermöglichen, da ein späterer Gesetzgeber jederzeit eine ältere gesetzliche Vorschrift ändern kann.
Kritik an dieser Ausgangssituation gab es schon lange, da Deutschland nach einem Treaty Override seine mit einem anderen Staat vereinbarten völkervertraglichen Pflichten nicht mehr erfüllt, also vertragsbrüchig wird. Das BVerfG gab dem BFH nun eine neue Perspektive. Dieser konnte in der Görgülü-Entscheidung des BVerfG lesen, dass eine Nichtbeachtung einer Entscheidung des EGMR aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG bedeutete. Der EGMR entschied auf der Basis der EMRK, also aufgrund eines anderen völkerrechtlichen Vertrages. Damit wurde einem solchen plötzlich unabhängig vom traditionellen Pyramidenaufbau aus verfassungsrechtlichen Gründen eine bisher nicht vorgesehene Position in der Normenhierarchie gegeben. Deutsche Gerichte wurden so an die Entscheidung eines (lediglich) auf Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages eingerichteten Gerichtes gebunden. Die Görgülü-Argumentation wurde vom BFH auf den Fall der DBA übertragen und so eine Verfassungswidrigkeit von Treaty Overrides vermutet.
Diesem Gedanken ist das BVerfG mit seinem Beschluss nun nicht gefolgt. Zwar stellt es fest, dass der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit Verfassungsrang hat. Es leitet aus dieser Völkerrechtsfreundlichkeit aber keine verfassungsrechtliche Pflicht zur Befolgung jeder Bestimmung des Völkerrechts ab, sondern sieht diese mehr als Auslegungshilfe. Art. 59 Abs. 2 GG dergestalt völkerrechtsfreundlich auszulegen, dass innerstaatliches Recht Völkerrecht nicht überschreiben darf, hält das BVerfG jedoch für zu weit gehend. Es sei Bestandteil des Demokratieprinzips, dass der spätere Gesetzgeber jederzeit DBA-entgegenstehendes Recht setzen können muss. So entscheidet das BVerfG sich dazu, das Demokratieprinzip, ohne es gegen das Rechtsstaatsprinzip abzuwägen, wirken zu lassen und DBA in ihrer einfachgesetzlichen Form den einfachrechtlichen Anwendungsvorschriften zu unterwerfen. DBA dürfen also durch spätere Gesetze überschrieben werden. Auf diese Weise stellen Treaty Overrides keinen Verfassungsverstoß dar.
Kritik
Das BVerfG hat hier eine Auslegungs- und Abwägungsentscheidung zuungunsten der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG getroffen. Dies ist aus zwei Gründen zu bedauern: Es ist nachvollziehbar, dass die EMRK und DBA inhaltlich unterschiedliche Rechte und Rechtsgüter schützen; menschenrechtliche Fragestellungen können nicht ohne weiteres auf steuerrechtliche Probleme übertragen werden. Aber in der deutschen Rechtsordnung gibt es nun einmal kein abgestuftes System unterschiedlicher Implementierungsmöglichkeiten völkerrechtlicher Verträge, sondern nur den Weg über Art. 59 Abs. 2 GG – und in dieser Vorschrift ist auch kein abgestuftes Wirkungssystem vorgesehen. Hier wird ein Bruch herbeigeführt, wenn noch zusätzlich zu den Möglichkeiten nach Art. 23 GG weitere Verträge (wie die EMRK) auf die Ebene der besonders wichtigen völkerrechtlichen Verträge gehoben werden. Für diese gelten dann Sonderregeln, die sich wiederum nicht auf andere völkerrechtliche Verträge (wie DBA) übertragen lassen. Eine solche Ausdifferenzierung der Völkerrechtsfreundlichkeit ist insbesondere zu bedauern, da der Gesetzgeber im internationalen Steuerrecht bereits ein ganzes Konvolut von Anwendungs-, Auslegungs- und Rangerhöhungsvorschriften (z.B. Art. 2 Abs. 1 und 2 AO, Art. 3 Abs. 2 OECD-MA) geschaffen hat, das zu Unstimmigkeiten führt. Dem Beschluss lässt sich nun auch noch die Aussage entnehmen, dass die Rechtsprechung des BVerfG zu anderen völkerrechtlichen Verträgen keine Orientierung bieten kann, da diese ja stets ebenso besondere Verträge wie die EMRK sein könnten. Bedeutet dies in der Folge, dass für jeden völkervertragsrechtlichen Regelungsbereich und damit auch für das DBA-Recht ein eigener Rang bestimmt werden muss, der mit dem Rang anderer völkervertraglicher Regelungsbereiche nicht vergleichbar ist?
Den zweiten Grund hat König in ihrem Sondervotum angesprochen. Sie zeigt sich enttäuscht, dass das BVerfG sich nicht darauf einigen konnte, das deutsche Recht mit seiner Entscheidung völkerrechtsfreundlicher auszurichten. König schlägt einen Kompromiss vor, indem sie in die Abwägung das Regelungsziel der überschreibenden Vorschrift, die Stellung des Steuerpflichtigen, die Dringlichkeit der Regelung und die Möglichkeiten zur Beendigung oder Anpassung des Vertragsverhältnisses mit einbezieht. Auf diese Weise können Rechtsstaats- und Demokratieprinzip zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden – wie eben die Verfahrensweise bei widerstreitenden Verfassungsgütern sein sollte. Dies würde auch international das richtige Zeichen setzen: Derzeit fordern in Europa Staaten von anderen europäischen Staaten, Verträge, die auch völkerrechtlich geschlossen wurden, einzuhalten. Da erscheint es nicht klug, wenn das BVerfG entscheidet, dass die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG nicht ausreicht, die Wahrung völkerrechtlicher Verträge institutionell zu gewährleisten.
Diese Entscheidung wäre ein guter Anlass gewesen, dem Gesetzgeber den Auftrag zu geben, den bestehenden Missstand kollidierender Rechtsebenen im Rahmen seiner Möglichkeiten zu beheben. Möglich wäre auch festzustellen, dass das GG dem BVerfG keine anderen Entscheidungsmöglichkeiten bietet und so den verfassungsändernden Gesetzgeber aufzufordern, die Stellung von Völker- und Verfassungsrecht zu überdenken.
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„Völkerrecht“ (Charta der Vereinten Nationen) als Bezeichnung für Bestimmungen für ein geordnetes koordiniertes Zusammenwirken von Staaten, deren Gültigkeit von Staaten durch Zustimmung oder Vereinbarung (auch als „völkerrechtliche Verträge“ bezeichnet) anerkannt wurden.
„Völkerrecht“ ist also eine „Koordinationsordnung“, aber kein sogenanntes ius cogens. Mit Bezug auf „Völkerrecht“ werden vertragliche Vereinbarungen zwischen einzelnen Staaten oder anderen „Völkerrechtssubjekten“ auch als „völkervertragliche Vereinbarungen“ bezeichnet.
Das Grundgesetz besitze dazu „Völkerrechtsfreundlichkeit“, „Europarechtsfreundlichkeit“. “Wie viel Direktionskraft dem Postulat der Europarechtsfreundlichkeit im Einzelfall innewohnt, lässt sich heute noch nicht ganz absehen“. (Verfassungsgerichtsbarkeit und europäische Integration Prof. Dr. Andreas Voßkuhle Präsident des Bundesverfassungsgerichts Festvortrag anlässlich des Festaktes zum Österreichischen Verfassungstag am 1. Oktober 2012)
Freundlichkeit ist Bezeichnung für die Beurteilung einer als angenehm empfundenen Äußerung. „Direktionskraft“ hat sie nur und insoweit als eine daraus resultierende Wirkung und die hat Bestand solange wie die empfundene Äußerung als Freundlichkeit beurteilt wird. Freundlichkeit begründet kein sogenanntes ius cogens und ihre „Direktionskraft“ kann nicht rechtlich ausdifferenziert werden.
Wohl auch deshalb hat das BVerfG geschlussfolgert:
„Das „Lissabonner“ Konzept der Integrationsverantwortung soll das Spannungsverhältnis zwischen den verfassungsrechtlichen Anliegen der Mitwirkung am europäischen Integrationsprozess einerseits und des Schutzes der nationalen Verfassungsidentität andererseits bewältigen.“ (ebenda)
„Abweichungen von völkervertraglichen Vereinbarungen [bedürften] einer besonderen Rechtfertigung . . ., deren Voraussetzungen eng seien. Rechtfertigungsgrund sei die Beachtung der Menschenwürde und der Grundrechte.“ Und: „Für den Ausgleich der hier widerstreitenden Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie komme es entscheidend darauf an, ob dem Gesetzgeber gegenüber dem Vertragsbruch ein milderes Mittel zur Verfügung stehe. (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 – 2 BvL 1/12 – Rn. (1-26),)
Ein „milderes Mittel wäre“, einen Vertrag, anstatt zu brechen, ihn zu kündigen, neu anders zu vereinbaren.