Die Brisanz des Verhältnisses zwischen Völkerrecht (insbesondere der EMRK) und Landesrecht ist nicht erstaunlich. Man erinnere sich nur an die entsprechenden Diskussionen im Zusammenhang mit der Verwahrungsinitiative, der Ausschaffungsinitiative, der Minarettverbotsinitiative oder jüngst der Durchsetzungsinitiative. Immer wieder geht es um die Frage, wieviel Gestaltungsspielraum die nationalen Behörden (noch) haben. Etablierte Völkerrechtler verweisen einerseits auf den Vorrang der durch die Schweiz freiwillig eingegangenen internationalen Verpflichtungen („pacta sunt servanda“) und andererseits auf das Risiko von Sanktionsmassnahmen bei Nichteinhaltung dieser Verpflichtungen. Diese Optik wird der Problematik im Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht nicht gerecht. Die Beschneidung des Gestaltungsspielraums der nationalen Politik durch den Vorrang des Völkerrechts ist nicht gerechtfertigt, wenn durch ausufernde Völkerrechtsprechung die ursprüngliche Zustimmung zur Ratifikation einer Konvention nicht mehr gedeckt ist.
Die Ausgangslage im Schweizer Recht heute
Die Schweizerische Bundesverfassung äussert sich nur am Rand zum Verhältnis von Landesrecht und Völkerrecht (s. Art. 193 Abs. 4 bzw. Art. 194 Abs. 2 BV, Art. 139 Abs. 3, Art. 5 Abs. 4 BV und Art. 190 BV).Wie sich Bundesgesetze gegenüber völkerrechtlichen Normen verhalten, lässt die Verfassung offen (s. Botschaft zur BV, S. 92). Den grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts hat das Bundesgericht in Fällen verneint, in denen der Bundesgesetzgeber ein gegenüber den jeweiligen völkerrechtlichen Normen jüngeres Gesetz erlassen und dabei eine Verletzung des Völkerrechts bewusst in Kauf genommen hat (sog. „Schubert-Praxis“). Diese Praxis wendet das Bundesgericht teilweise dann nicht an, wenn eine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) droht bzw. eine Norm zum Schutz der Menschenrechte zur Diskussion steht. Im Einzelnen bleiben viele Unklarheiten.
Zunehmende Verurteilungen durch den EGMR
Historisch gesehen war die EMRK eine Reaktion auf die Gräuel des 2. Weltkriegs. Gerade in Westeuropa bestand das Bedürfnis, einen europaweiten menschenrechtlichen Minimalstandard zu schaffen. Das spricht zwar nicht dagegen, dass der EGMR bei einer Fortentwicklung menschenrechtlicher Standards in allen Unterzeichnerstaaten diese Entwicklung insoweit in seiner Rechtsprechung mitberücksichtigt (vgl. auch die Präambel zur EMRK). Dass der EGMR demgegenüber von sich aus den Gehalt der EMRK ausdehnen und – ähnlich einem Gesetzgeber – neue Ansprüche schaffen könnte, lässt sich aus der EMRK selbst nicht ableiten.
Die Schweiz ratifizierte die EMRK am 28. November 1974. Der Bundesrat versicherte damals in der Botschaft ans Parlament: „Die Konvention garantiert in der Tat Rechte, die zum grössten Teil bereits durch die Bundesverfassung anerkannt und geschützt sind.“ Nicht einmal eine Volksabstimmung fand statt, so selbstverständlich schien die Frage.
In ihrer Allgemeinheit sind die Garantien der EMRK unbestritten. Indes bedürfen sie bei ihrer konkreten Anwendung in erheblichem Ausmass der Auslegung durch die Gerichte und damit namentlich durch den EGMR. Der EGMR hat jedoch seine früher geübte Zurückhaltung gegenüber den Entscheidungen nationaler Gerichte zusehends abgelegt. Das musste auch die Schweiz merken: Gemäss einer bundesrätlichen Antwort auf eine nationalrätliche Interpellation im Mai 2013 wurde die Schweiz seit der Ratifikation der EMRK im Jahr 1974 87 Mal wegen einer EMRK-Verletzung verurteilt. Inzwischen sind weitere Verurteilungen dazugekommen. Deutlich mehr als die Hälfte der 87 Verurteilungen erfolgte allein seit dem Jahr 1995 (vgl. eingehend Hansjörg Seiler, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte: Hüter der Menschenrechte, Appellationsinstanz oder Verfassungsgeber?, in ZBl 2012 S. 223 ff.)
Geschlechtsumwandlung und Beihilfe zum Suizid
Namentlich das Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens (Art. 8 EMRK) oder auch Verhältnismässigkeitsüberlegungen bilden dabei regelrechte Einfallstore für eine Einflussnahme des EGMR auf die nationale Rechtsprechung und teilweise gar die Gesetzgebung. Folgende Beispiele mögen dies verdeutlichen:
Die Strassburger Richter gaben im Fall „Schlumpf“ einer Transsexuellen Recht, welche verlangte, dass die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten für eine Geschlechtsumwandlungsoperation übernehmen müsse. Das damalige eidgenössische Versicherungsgericht verneinte das Recht auf Kostenübernahme namentlich deshalb, weil gemäss Schweizer Rechtspraxis die zweijährige Beobachtungsphase für die Geschlechtsumwandlung als Voraussetzung des Kostenvergütungsanspruchs nicht eingehalten wurde.Der EGMR sah demgegenüber eine Verletzung von Art. 8 EMRK, weil die Schweizer Behörden der besonderen Situation der betroffenen Person zu wenig Rechnung getragen hätten.
Im Fall „Gross“ ging es um Beihilfe zum Suizid bei nicht todkranken Menschen. Gerügt wurde auch hier eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Der EGMR verurteilte die Schweiz, weil unser Land über keine klare Regelung verfüge, unter welchen Bedingungen der Zugang zum tödlichen Mittel Natrium-Pentobarbital ermöglicht werden müsse. „Er befand, dass das Fehlen von klaren gesetzlichen Richtlinien geeignet ist, eine abschreckende Wirkung (chilling effect) auf Ärzte zu haben, die sonst eher bereit sein könnten, einer Person in der Situation der Beschwerdeführerin das ersuchte ärztliche Rezept auszustellen. Diese Ungewissheit habe bei der Beschwerdeführerin grosse Angstgefühle hervorgerufen“ (Zusammenfassung des Urteils durch das Bundesamt für Justiz).
Nicht mehr vergleichbar mit dem Gehalt der EMRK von 1974
Die Fälle verdeutlichen, dass der EGMR heute ohne grosse Zurückhaltung auch dann eine Verurteilung ausspricht, wenn nationale Behörden in einem Rechtsgebiet mit weitgehendem Ermessensspielraum entschieden haben oder gar wenn Fragen rechtspolitischer Natur zur Diskussion stehen. Gerade im Fall Schlumpf hat der EGMR auch bei grosszügiger Sichtweise schlicht die in der EMRK selbst angelegten Anspruchsgrenzen verkannt. So kritisierte auch das Bundesgericht, der Gerichtshof habe „materiellrechtlich Einfluss genommen auf die landesrechtliche Ausgestaltung einer obligatorischen Sozialversicherungsleistung, auf welche die EMRK selbst keinen Anspruch gibt.“
Diese Beobachtung ist keine Dramatisierung, sondern wird auch von führenden Schweizer Persönlichkeiten aus Rechtsprechung und Lehre geteilt: Bundesrichter Hansjörg Seiler äussert sich wie folgt: „Das Grundproblem liegt darin, dass der Menschenrechtsschutz durch den Strassburger Gerichtshof auf eine Art und Weise fortentwickelt wird, die durch die Konvention selber nicht eigentlich abgedeckt ist.“ (s. auch Bundesrichterin Brigitte Pfiffner und Altbundesrichter Martin Schubarth).
Problematik der heutigen EGMR-Rechtsprechung
Man mag gewisse konkrete Auswirkungen dieser Rechtsprechung im Einzelfall begrüssen, als Prinzip ist sie sie indes problematisch. Es werden die Aufgabenteilungen zwischen Politik und Justiz sowie zwischen Nationalstaaten und dem EGMR verwischt. Wiewohl einer Verurteilung des EGMR stets ein Einzelfall zugrunde liegt, müssen die nationalen Behörden ihre Praxis doch in einem grundsätzlicheren Rahmen ändern, um nicht eine neue Verurteilung zu riskieren. Gegebenenfalls ist gar eine Gesetzesänderung auf nationaler Ebene erforderlich. Es ist aber nicht Sache von sieben bzw. 17 europäischen Richtern, ohne Not in das Ermessen der mit der Sache vertrauten nationalen Behörden einzugreifen. Solches verbietet sich bereits aufgrund der kulturellen und geographischen Vielfältigkeit auf dem europäischen Kontinent und damit der Unterschiedlichkeit der sich stellenden Probleme.
Besondere Stellung des EGMR
Zwar ist in mehr oder weniger weitgehendem Ausmass jede Norm auslegungsbedürftig und gerade auch nationale Gerichte legen allgemein gehaltene Normen aus. Doch besteht ein Unterschied zwischen nationalen und internationalen Gerichten: Geht der Politik eine Auslegung des nationalen Rechts durch die nationalen Gerichte zu weit, hat sie grundsätzlich die Möglichkeit, auf demokratischem Weg die geltenden Gesetze zu ändern. Der EGMR entzieht sich demgegenüber einer solchen Kontrollmöglichkeit. Auch auf internationaler Ebene ist keine legislative (oder exekutive) Behörde ersichtlich, die bei einer extensiven Auslegung der Garantien einschreiten würde. Welche Korrekturmöglichkeiten bestehen, wenn sich der EGMR über alle Gepflogenheiten der Zurückhaltung gegenüber letzten nationalen Instanzen und selbst über die in der EMRK selbst angelegten Anspruchsgrenzen hinwegsetzt? Darüber haben jene, die repetitiv vom „Vorrang des Völkerrechts“ sprechen, bisher keine Antwort geliefert.
Neueres Schweizer Recht vor Völkerrecht bei entsprechendem gesetzgeberischem Willen
Bei dieser Problematik sollte die Diskussion um das Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht ansetzen: Es muss für den nationalen Gesetzgeber möglich sein, auf eine allzu extensive Auslegung der Garantien der EMRK reagieren zu können. Aufbauend auf der bereits zitierten Schubert-Praxis sollte deshalb dem nationalen Recht jedenfalls dann Vorrang vor dem internationalen Recht zukommen, wenn der demokratisch legitimierte schweizerische Gesetzgeber in Kenntnis von entgegenstehenden Völkerrechtsnormen bzw. dessen Auslegungen durch die internationalen Gerichte neues, diesen widersprechendes nationales Recht setzt. Das gilt auch im Fall von Volksinitiativen und der sie umsetzenden Bundesgesetze. Um diese Rangordnung transparent und mit der nötigen Verbindlichkeit darzustellen, empfiehlt sich deren Verankerung in der Verfassung selbst. Sodann ist auch der zwingende Revisionsgrund gemäss Art. 122 Bst. a BGG nach Verurteilungen durch den EGMR zu hinterfragen. Das gilt namentlich für Fälle, in denen der EGMR (wie im Fall Schlumpf im Bereich des Sozialversicherungsrechts) materiell-rechtliche Ansprüche anerkennen will, für welche die EMRK gar keine Grundlage bietet.
Dass die Schweiz, wenn sie mit Berufung auf ihr innerstaatliches Recht in gewissen Fällen Landesrecht dem Völkerrecht voranstellt oder entsprechende Verurteilungen des EGMR nicht umsetzt, allenfalls das Risiko von Sanktionen anderer Staaten eingeht, vermag dogmatisch jedenfalls noch keinen Vorrang des Völkerrechts zu begründen.
Will die Schweiz die Vorrangstellung des Landesrechts gegenüber dem Völkerrecht – namentlich der EMRK – auch auf internationaler Ebene verankern und damit das Risiko von Sanktionsmassnahmen gänzlich ausschliessen, bieten sich mehrere Wege an: Neben einer endgültigen Kündigung bestünde eine Möglichkeit darin, die EMRK nach der Kündigung wieder zu ratifizieren, dieses Mal aber mit einem Vorbehalt im besagten Sinn (vgl. Art. 57 f. EMRK). Zwar würde mit einem solchen Vorbehalt zugegebenermassen der Wortlaut von Art. 57 Ziff. 1 EMRK etwas ausgereizt. Dennoch wäre es zumindest verfrüht, ein solches Vorgehen als generell als unvereinbar mit internationalem Recht zu taxieren, wie bisweilen behauptet wird (s. Gutachten, S. 37ff.). Vielmehr bedarf es hier noch vertiefter juristischer und politischer Auseinandersetzungen.
Patrick Freudiger ist Rechtsanwalt in Langenthal, Schweiz, sowie Stadtrat in Langenthal und Grossrat in Bern.
Zur Debatte über den Geltungsrang der EMRK in der Schweiz siehe auch den Beitrag von Nesa Zimmermann „Eine Meinungsverschiedenheit ist noch keine Beziehungskrise – Die EMRK im politischen Kreuzfeuer“.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Das Problem mit dem Beitrag: Pacta sunt servanda ist keine blosse „Optik“ – sondern einer der wichtigsten Grundbausteine des Vertragsrechts – ob Völkerrecht oder nicht. Man kann zwar als Parteimitglied der SVP eine andere Meinung vertreten, muss sich aber bewusst sein, dass man dann nicht gleichzeitig die Durchsetzung des Vertragsrechts fordern kann.
Der Blogpost beruht auf der Prämisse, dass der EGMR von sich aus den Gehalt der EMRK ausdehnen würde und neue Ansprüche schaffe. Semantisch wird dies als „Beschneidung des Gestaltungspsielraums der nationalen Politik“ dargestellt.
Genannt werden zwei Einzelfälle, die viel mediales Aufsehen erregen. Der Autor bespricht aber keines der Argumente, warum die (dem Autor offensichtlich missliebigen) Schlussfolgerungen des Gerichtshofes im Rahmen der zeitgemässen Auslegung der Konvention zumindest liegen KÖNNTEN. Der zitierte Artikel von Brigitte Pfiffner und Susanne Bollinger wiederum erwähnt ein Urteil (Micaleff v Malta) indem es um nichts anderes als die Befangenheit von Richtern ging (der Autor hätte in der Datenbank des Gerichts nachlesen können, dass ein Richter in einem nationalen Verfahren mit einer Partei verwandt war und es bei diesem Urteil nicht etwa um den Anspruch ging, Wäsche im Innenhof eines Hauses aufzuhängen. Die Erwähnung des tatsächlich etwas seltsam anmutenden Sachverhalts, welcher zum nationalen Verfahren in Malta Anlass gab, kann wohl kaum als Anerkennung eines neuen Anspruchs durch den EGMR gleichgestellt werden.).
Wo die Grenzen des Ermessensraumes der nationalen Behörden im Einzelfall zu liegen kommen, ist eine juristische Frage, die der EGMR beantworten muss und soll. Der Fall „Schlumpf“ wird gerne zitiert, weil er in der Öffentlichkeit als Grenzfall wahrgenommen wird. Weniger gerne werden offenbar die zahlreichen Fälle zum Non-Refoulement-Prinzip genannt, die für die Vertreter der Ausschaffungsinitiativen ein bedeutsames Problem sind, sich aber wohl weniger gut für Polemik eignen.
Ich würde mich der Kritik von Evelyne voll umfänglich anschließen. Alleine Wunschdenken über evtl. Gestaltungsspielräume oder dem Völkerrecht vorgehendes nationales Recht (Wie ich es verstehe auch noch als Wunschoption! Wenn mir das Ergebnis aus der EMRK nicht gefällt, dann regele ich halt etwas anderes!) schafft keine juristische Argumentation!
Schön im Übrigen auch, dass im letzten Satz der Eindruck entsteht, dass die geforderte jur. und politische Diskussion sehr zielgerichtet auf eine Ansicht hin erfolgen soll!
Jede Auseinandersetzung mit Verständnissen zu Verhältnissen von Rechten (Jura) bedingt gleiches Verstehen von „Recht“ (Jus), also was mit diesem Wort bezeichnet ist. Rechtswissenschaft und Juristen setzen dieses gleiche Verstehen voraus. Auseinandersetzungen zu Verhältnissen von Rechten offenbaren aber ungleiches Verstehen.
„Pacta sunt servanda“ („Verträge sind einzuhalten“), dieses von Vertragsschließenden vereinbarte Prinzip, ist kein von diesen unabhängig bestehendes Recht, kein Recht, kein „Vertragsrecht“ an sich.
Gleiches gilt auch für „Völkerrecht“. Die mit diesem begriffsunlogischen Wortekonstrukt bezeich-neten (Vertrags-)Bestimmungen sollen das Verstehen derjenigen ausdrücken, welche sie verein-bart haben. Auch kein Recht, kein „Völkerrecht“ an sich.
Auch deshalb nicht, weil mit diesen Bestimmungen nur scheinbar gleiches Verstehen der Vertrags-schließenden ausgedrückt ist: Ein von allen Vertragsschließenden anerkanntes „Völkergericht“, das auf der Grundlage des „Völkerrechts“ urteilen kann, gibt es deshalb nicht. Ebenso nicht eine von allen Vertragsschließenden anerkannte Macht, mit der „Völkerrecht“ durchgesetzt werden soll.
Eine „juristische Argumentation“ zum Beispiel zur Beantwortung der Frage zum Vorrang (zum Ver-hältnis) von „Landesrecht und Völkerrecht“ stößt deshalb an die Grenze des Verstehens, die durch das (unterschiedliche) der Beschließenden/ Vertragsschließenden gezogen ist und immer wieder einmal neu gezogen wird.
Ein gleiches Verstehen von „Recht“ bedingt ein gleiches Verstehen von „Macht“.