von STEFAN SCHLEGEL
In der Schweiz wird Zuwanderung nach wie vor mehrheitlich als eine Art Störung der öffentlichen Ordnung wahrgenommen, welche mit den Mitteln des Polizeigüterschutzes eingedämmt und gesteuert werden muss. Der Versuch, die sogenannte „Masseneinwanderungsinitiative“ umzusetzen, zeigt nun, wie altbacken diese Auffassung inzwischen geworden ist.
Die Schweiz hat einen Fetisch, der anfängt, weh zu tun: Die Idee, Zuwanderung „eigenständig“ steuern zu können und „die Migrationshoheit zu wahren“. Vor einem guten Jahr war dieser Fetisch hauptverantwortlich für die Annahme der sogenannten „Masseneinwanderungsinitiative“, einer Volksinitiative, mit welcher die Verfassung ergänzt worden ist. Deren Umsetzung in Bundesgesetzen und in internationalen Verträgen hat seither den Bundesrat (die Regierung der Schweiz) in eine komplett verfahrene Situation gebracht. Die Präsentation eines Umsetzungsvorschlages am 11. Februar hat gezeigt, bis zu welchem Grad die Schweizer Politik bereit ist, sich in Lebenslügen zu flüchten, statt die Undurchführbarkeit der Umsetzung einzugestehen.
Kontingente für alle
Die Initiative (Art. 121a und Art. 197 Ziff. 11 der Bundesverfassung) geht es stärker um eine Steuerung der Zuwanderung als um deren Begrenzung. Es soll der Schweiz möglich sein, sämtliche Formen der Zuwanderung Mittels jährlich festgelegten Kontingenten zu regulieren. Das heißt, dass künftig nicht nur jene Bewilligungen kontingentiert werden müssen, welche traditionell einer Kontingentierung zugänglich waren (insbesondere Bewilligungen zur Zuwanderung zwecks Ausübung einer Erwerbstätigkeit), sondern auch Bewilligungen zum Familiennachzug, Bewilligungen für anerkannte Flüchtlinge usw.; kurz, jede Form des dauerhaften Aufenthalts.
Immerhin ein Sorgentelefon
Die Volksinitiative ist in erster Linie gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU (und das Schwester-Abkommen der EFTA) gerichtet. Nach rund einem Jahrzehnt der marktgesteuerten Zuwanderung aus der EU/EFTA soll der Produktionsfaktor Arbeit in der Schweiz wieder kollektiviert werden, soweit er importiert wird und durch eine zentrale Planwirtschaft den Arbeitgebern zugeteilt werden. Dumm nur: Die Personenfreizügigkeit ist Teil eines Pakets von Verträgen zwischen der Schweiz und der EU (die sogenannten Bilateralen I), die durch eine Guillotine-Klausel miteinander verknüpft sind, so dass alle Abkommen entfallen, wenn eines davon gekündigt wird. Der Bundesrat will aber nicht kündigen (dazu gibt die Initiative auch gar keinen Auftrag), sondern neu verhandeln. Es besteht nämlich ein breiter Konsens, dass die Schweiz sich zu sehr isolieren würde, wenn die Bilateralen I fallen. Die EU könnte außerdem noch zusätzliche Abkommen aufkündigen, insbesondere Schengen und Dublin, die ohne Personenfreizügigkeit weder Sinn machen noch praktikabel angewandt werden können. Zu diesen Verhandlungen wird es aber kaum kommen. Die EU hat Verhandlungen klar abgelehnt und nebst ihr müssten auch alle 28 Mitgliedstaaten noch einwilligen. Aber die Hoffnungen auf eine Verhandlungslösung halten sich in der Schweiz hartnäckig. Das hängt auch an der Mehrheit der politischen Parteien, die – ostentativen „Respekt vor dem Wille des Volkes“ demonstrierend – am kollektiven Wachtraum mitarbeiten, die EU werde in Verstoß gegen ihre eigenen Interessen und ihre zentralen Prinzipien der Schweiz weiterhin (partiellen) Zugang zu ihrem Binnenmarkt gewähren, ohne dass die Schweiz den Freundschaftspreis dafür weiterhin bezahlen müsse, der ursprünglich abgemacht war. Auch der Bundesrat trägt zum Wachtraum bei, im dem er ein „Verhandlungsmandat“ verabschiedet hat und von „Konsultationen“ berichtet, die er mit der EU durchführe. Die Konsultationen bestehen darin, dass Jean-Claude Juncker eine Person in seinem Stab bezeichnet hat, an welche sich der Bundesrat jeweils wenden darf, wenn er etwas betreffend Personenfreizügigkeit auf dem Herzen hat. Es handelt sich also um eine Art Sorgentelefon, das Juncker netterweise eingerichtet hat.
Auch gegenüber Drittstaaten zum Scheitern verurteilt
Aber am interessantesten scheitert die Masseneinwanderungsinitiative eigentlich nicht an Europa, sondern am unbeholfenen Versuch, künftig Zuwanderung aus Drittstaaten stärker zu steuern. Der Entwurf der Umsetzung im Ausländergesetz (das grundsätzlich nur für Drittstaatsangehörige gilt, solange die Personenfreizügigkeitsabkommen mit EU und EFTA in Kraft bleiben), ist geprägt von der eigenartigen Idee, Anspruchsbewilligungen zu kontingentieren. Das Wesen von Anspruchsbewilligungen besteht darin, dass sie immer dann erteilt werden müssen, wenn jemand alle Bedingungen erfüllt, die einen Anspruch vermitteln – unabhängig davon, ob die Kontingente schon ausgeschöpft sind, oder nicht. Ein Anspruch ergibt sich in der Regel aus dem Völkerrecht und ist daher der „eigenständigen Steuerung“ entzogen. Beispiele für solche Anspruchsbewilligungen sind Aufenthaltsbewilligungen an anerkannte Flüchtlinge und vorläufige Aufnahmen für Personen, deren Rückweisung ins Herkunftsland unzulässig wäre (technisch gesehen handelt es sich dabei nicht um eine Bewilligung. Kontingentiert werden soll sie trotzdem). Ebenfalls dazu gehören Bewilligungen für Dienstleistungserbringer (typischerweise Kadertransfers) aus einigen Staaten, mit denen die Schweiz präferentielle Freihandelsabkommen geschlossen hat und – zahlenmäßig wichtigsten – der Nachzug der Kernfamilie, durch Personen, die in der Schweiz über einen gefestigten Aufenthaltstitel verfügen.
Zusammen mit der Zuwanderung aus Europa macht die Zuwanderung aus Drittstaaten, auf die ein rechtlicher Anspruch besteht, rund drei Viertel der gesamten Zuwanderung aus (das restliche Viertel besteht zu einem großen Teil aus Studierenden und Rentner, gegen die niemand was hat). Weil der Bundesrat weiß, dass diese Zuwanderung höchstens dem Schein nach kontingentiert werden kann, behält er sich vor, die Kontingente „bei Bedarf jederzeit anzupassen“ (Art. 17a Abs. 1 E-AuG). Sprich: sind die Kontingente (die eine Begrenzungs- und Steuerungswirkung entfalten sollen) voll, so müssen sie erhöht werden (so dass sie weder eine Begrenzungs- noch eine Steuerungswirkung entfalten). Solche Kontingente taugen dazu, Rechtsunsicherheit zu schaffen und das Familien- und Wirtschaftsleben eines wachsenden Anteils der Bevölkerung mit obstruktiver und schikanöser Bürokratie zu belasten. Abgesehen davon sind sie gut für gar nichts. Der Trick mit den „flexiblen Kontingenten“ ist so fadenscheinig, dass er selbst für Politiker, die den Schein der „Umsetzung des Volkswillens“ wahren wollen, schwer zu ignorieren sein müsste. Aber bisher trägt die Koalition derjenigen, die von dieser Lebenslüge profitieren und aus dieser Lebenslüge zunehmend eine Obsession machen.
Auf die harte Tour lernen
Als sich die Schweiz 1999 mit der Zustimmung zur Personenfreizügigkeit für eine Lockerung der fremdenpolizeilichen Kontrolle über Zuwanderung entschied, um im Gegensatz dazu partiellen Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten, schien dies noch eine freiwillige Option zu sein, die gegebenenfalls auch wieder rückgängig gemacht werden könnte. Nun, da sie rückgängig gemacht werden soll, scheint es fast nicht möglich, sich an die neuen Umstände zu gewöhnen: Nicht nur ist der Preis für diese Option viel zu hoch, die Option besteht eigentlich gar nicht mehr. Die Struktur des Arbeitsmarkts hat sich inzwischen gewandelt, die Zahl der Grenzgänger hat sich vervielfacht, es gibt keine Grenzkontrollen mehr und Asylbewerber würden die Schweiz als Destination der letzten Chance stürmen, wäre sie nicht mehr Teil von Dublin. Der Familiennachzug ist menschenrechtlich immer besser geschützt, neue Freihandelsabkommen müssen zunehmend zum Preis einer gewissen Liberalisierung von Migration (auf dem etwas versteckten Weg der Dienstleistungsliberalisierung) erkauft werden und selbst Herkunftsstaaten von Asylsuchenden lassen sich die Rücknahme ihrer Staatsangehörigen zunehmend vergolden. Die „Wahrung der Migrationshoheit“ ist in relativ kurzer Zeit zur hohlen Hoffnung geworden und der Versuch, die Ära zu restaurieren, in der Migration durch freies Behördenermessen mittels Kontingenten gesteuert werden konnte, wirkt vor diesem Hintergrund wie eine bewusste, trotzige aber hilflose Verweigerung gegenüber der Realität.
Aber in der Regel passt sich das Recht der Realität an, nicht umgekehrt. Die Schweiz, so scheint es, muss das auf die harte Tour lernen.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Scharf analysiert, danke! Ich kann (leider) nur beipflichten.
Lieber Stefan,
eine treffende, scharfzüngige Analyse des Problems. Was mich interessieren würde ist, ob es auch Vorschläge gibt, wie die Quoten dann unter den Kantonen verteilt werden, also ob in den Kantonen eine Weiterverteilung stattfinde.
Und ich befürchte, dass eine Debatte über „Kontingente“ – die, wie du zutreffend ausführst – vollkommen unnötig ist, auch in Deutschland aufflammen wird. Jedenfalls sind in der Debatte über eine eventuelles neues „Zuwanderungsgesetz“ die Worte Quotierung und Kontingente auffällig oft gefallen.
Beste Grüße,
Carsten
Hallo Carsten,
Danke für deinen Kommentar. Die Umsetzungsvorlage hat mehr Schwächen, als in einem Blogpost beleuchtet werden können. Eine der Schwächen, die ich nicht analysiert habe, ist dass die Strukturierung der Kontingente nicht im Gesetzesentwurf selber spezifiziert wird, obwohl dies für praktisch alle Belange der Umsetzung, von der Einhaltung der Menschenrechte bis zur Planbarkeit für Arbeitgeber, von entscheidender Bedeutung wäre. Für die Verteilung auf die Kantone ist das noch das kleinste Problem, da es hier mit den Kontingenten für Drittstaatsangehörige schon ein Vorbild gibt. Diese werden halbiert. Die erste Hälfte wird nach einem Schlüssel, der der Bevölkerungsstärke folgt, auf die Kantone verteilt, welche die Kontingente verwalten können, ohne dass sie diese weiter auf Regionen oder Branchen aufteilen. Die andere Hälfte hält der Bund zurück und kann sie im Laufe des Jahres den Kantonen zuhalten, die Knapp bei Kontingent sind. Dadurch wird die Planungssicherheit etwas abgefedert, allerdings auch bestehende Strukturen konsolidiert. Wer schon hat, dem werden Kontingente gegeben.
Die Verteilung der Kontingente für Drittstaatler und deren Umfang siehst du in dieser Verordnung, im Anhang am Ende: http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20070993/index.html
Nun, da aber nicht nur Erwerbstätige, sondern auch Flüchtlinge, vorläufig Aufgenommene, Familienangehörige, Dienstleistungserbringer, Rentner, Studierende kontingentiert werden sollen, würde sich vor allem die Frage stellen, ob diese jeweils ein eigenes Kontingent erhalten, ob es eine Art prioritäre Belegung der Kontingente gibt, ob nicht gebrauchte Kontingente des einen Typs (z.B. für Hochqualifizierte) zur Überbrückung von Engpässen im anderen Kontingent (z.B. für Flüchtlinge) verwendet werden dürfen, ob die Struktur der Kontingente im einen Kanton von der in einem anderen Kanton abweichen darf (weil er z.B. mehr Familien, aber weniger Erwerbsmigration hat…), etc. Das sind alles Fragen, die so technisch sind, dass in der hyperventilierten Debatte, die wir führen, noch niemandem richtig aufgefallen ist, dass sie noch gar nicht angeschnitten worden sind.
Was du über Deutschland sagst, ist interessant aber wenig erfreulich. Ich kann mir einfach nicht erklären, weshalb jemand, auch wenn er oder sie eine sehr restriktive Migrationspolitik befürworten, sich für Kontingente ausspricht. Sie sind dermassen unelegant und verursachen soviele Probleme, die selbst andere restriktive Systeme umgehen könnten (z.B. ein Punktesystem oder Auktionen oder Steuern oder ein Versicherungszwang). Es gibt nur zwei Gründe, warum man wirklich für Kontingente sein kann:
– Man will regelmässig in der Lage sein, die Regierung für ihre Migrationspolitik in den Schwitzkasten nehmen zu können, wozu die jährliche Festlegung der Höhe der Kontingente eine Gelegenheit bietet. Für die SVP, die in Daueropposition ist und gern gegen politische Institutionen, besonders die Regierung wettert, ist das eine attraktive Strategie.
– Man möchte möglichst grosses Behördenermessen und möglichst wenig Ansprüche von Migrierenden. Eine Punktesystem und ähnliches vermitteln unter Umständen einen Anspruch auf Zuwanderung, eine Idee, die vielen Fremdenpolizisten ein Gräuel ist. Sie wollen über Zuwanderung möglichst nach freiem Ermessen entscheiden können.
Umso ironischer, dass die Schweiz das System der Kontingente nun auf Fallgruppen anwenden möchte, in denen das Ermessen durch einen Anspruch der Migrierenden ersetzt worden ist und daher das Ermessen, das den Behörden so teuer ist, nur noch eine Kulisse sein kann.
Liebe Grüsse
Stefan