Die Schweiz hat abgestimmt 3/2013
von DOMINIK ELSER
Am 22. September war wieder Abstimmungssonntag. Der JuWissBlog führt seine Serie zu den Schweizer Abstimmungen weiter und beleuchtet wiederum staatsrechtliche Eigenheiten und Pirouetten. Auf dem Programm standen drei Geschäfte auf Bundesebene: eine Volksinitiative zur Aufhebung der Militärdienstpflicht, ein neues Gesetz zum Schutz vor Epidemien und eine Lockerung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen bei Tankstellenshops.
Der Abstimmungskampf ist verhältnismässig ruhig verlaufen – deutliche Mehrheiten waren abzusehen. Mit einer Armee-Vorlage stand aber eine eidgenössische Herzensangelegenheit auf den Abstimmungszetteln, weshalb die Stimmbeteiligung mit rund 46 % über dem Durchschnitt der letzten Jahrzehnte lag.
Die Wehrpflicht bleibt – doch wie kommt es überhaupt zu einer Volksinitiative?
Das Schweizer Stimmvolk will die Militärdienstpflicht für Männer beibehalten, es hat die Volksinitiative „Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht“ mit deutlichen 73.2 % Nein-Stimmen abgelehnt. Die Wehrpflicht bleibt also, aber wie kommt es überhaupt zu einer Volksinitiative? Bevor wir uns in den prozessualen Einzelheiten verlieren, das Grundsätzliche: Volksinitiativen auf Verfassungsänderung sind gewissermassen das Nonplusultra für die direkt-demokratische Schweiz. An den politischen Behörden und gewählten Repräsentanten vorbei kann die Verfassung geändert werden. Noch platter ausgedrückt: Der vom Volk geschriebene Text wird geltendes Verfassungsrecht. Daher würde es einleuchten, dieses Instrument in prozessuale Fesseln zu legen. Diese Fesseln gibt es zwar, doch sie liegen locker.
Das strengste Erfordernis ist, innert 18 Monaten 100’000 Unterschriften von Stimmberechtigten zu sammeln (Art. 139 Abs. 1 BV). Bevor Unterschriften gesammelt werden können, führt die Bundeskanzlei (Stabsstelle der Regierung) eine formelle Vorprüfung durch. Die Anforderungen richten sich nach Art. 68 und 69 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte (BPR) – es geht um Titel der Vorlage, Adresslisten des Initiativkomitees (zwischen sieben und 27 Stimmberechtigte) etc. Die Sammelfrist beginnt, nachdem die Bundeskanzlei die Initiative samt Namen der Urheber im Bundesblatt veröffentlicht. Bevor die Unterschriften eingereicht werden können, muss das Initiativkomitee bei den Kantonen eine sogenannte Stimmrechtsbescheinigung einholen (Art. 62 und 63 BPR). Die Kantone bescheinigen darin, dass die Unterzeichnenden bei ihnen Wohnsitz haben und stimmberechtigt sind.
Von Papierschachteln und Fussgängerzonen
Die Initiativkomitees reichen die Unterschriften – in Papierschachteln, geordnet nach Postleitzahl – oft in einem medienwirksamen Auftritt ein, so auch bei der Wehrpflicht-Initiative. Wie die Einreichung abzulaufen hat – es erstaunt nicht – wird in einem Merkblatt geregelt. Die Bundeskanzlei prüft die bescheinigten Unterschriften und verfügt das Zustandekommen der Initiative.
Erst wenn eine Initiative zustande gekommen ist, befasst sich die Politik inhaltlich mit ihr. Das Parlament prüft die Initiative auf ihre Gültigkeit und gibt eine Abstimmungsempfehlung ab – hier der entsprechende Beschluss zur Wehrpflicht-Initiative. Der Bundesrat erarbeitet vorgängig eine sogenannte Botschaft; im immer gleichen Aufbau behandelt diese formelle Aspekte und Gültigkeit, Ausgangslage für die Entstehung sowie Ziele und Anliegen der Initiativen. Anschliessend würdigt der Bundesrat die Initiative und zeichnet rechtliche und finanzielle Auswirkungen auf. Auch die Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz wird erörtert.
Was sagen uns diese Verfahrensbestimmungen? Formell ist es relativ einfach, eine Volksinitiative einzureichen. Es braucht keinen administrativen Apparat, keine Rechtsetzungsspezialistinnen, es braucht nicht einmal Juristen (was die sprachliche Qualität der Initiativtexte so oder anders beeinflussen dürfte). Die Schwierigkeiten liegen in der Mobilisierung – 100’000 Unterschriften sind zwar nur 2 % des Stimmvolkes. Aber um nur schon jeden fünfzigsten Stimmbürger zu einer Unterschrift zu bewegen, muss man viele Samstage lang in den Fussgängerzonen dieses Landes rumstehen und in schwierigen Gesprächen überzeugen. Die Wehrpflicht-Initiative wurde von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee GSoA lanciert, eine Organisation, die auf überzeugte Mitglieder zählen kann, welche in Freiwilligenarbeit viel Enthusiasmus aufbringen. Anders geht es nicht – eine in Hinterzimmern geschriebene Initiative, deren Unterschriften per Postweg eingesammelt werden sollen, wird scheitern.
Neues Epidemiengesetz – oder: wenn niemand verteidigt, was alle befürworten
60 % des Stimmvolks befürwortete ein neues „Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen“ (Epidemiengesetz). Der Vorgänger stammte von 1970 und war nicht mehr zeitgemäss: die Welt ist mobiler geworden, und mit ihr die Viren. Ein bunter Strauss von Organisationen ergriff das Referendum gegen den neuen Erlass (siehe „Fakultatives Referendum“ im Glossar), weil sie die „Gesundheitsdiktatur durch Bund und WHO“ ablehnten – die detaillierten Argumente sind wie immer im Abstimmungsbüchlein nachzulesen. Konkret ging es um den sogenannten Impfzwang: In Art. 22 des neuen Epidemiengesetzes erhalten die Kantone die Kompetenz, „Impfungen von gefährdeten Bevölkerungsgruppen, von besonders exponierten Personen und von Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären, sofern eine Gefahr besteht.“
Die etablierte Politik war sich allerdings einig, dass diese und andere Bestimmungen genügend Bedingungen und Sicherungen vorsähen – die Zustimmung im Parlament war denn auch deutlich (insgesamt 189 Ja zu 16 Nein). Diese Vorlage ist rechtlich wenig pirouettenhaft, dafür staatspolitisch interessant: Der Abstimmungskampf war – gerade wegen der breiten Zustimmung – ungewöhnlich lasch. Die seltsame Allianz von rechtskonservativen Bewahrern und linksalternativen Medizinzweiflern konnte die Diskussion frei prägen. Die Befürworter wollten kein politisches und anderes Kapital für diese Vorlage einsetzen. Der zuständige Bundesrat – Alain Berset im Innenministerium – griff deshalb zu einer Interview-Kampagne in führenden Medien.
Referendumsbegehren werden begriffsimmanent von einer Mehrheit der Parteien und vom Bundesrat abgelehnt – sie haben ja die Gesetze entworfen und verabschiedet, die bekämpft werden. Die Gegner der Vorlage haben deshalb mehr Drang und auch mehr Interesse an einer heissen Abstimmungskampagne. Die Gegner des Referendums (das heisst die Befürworter des Gesetzes) müssen sich irgendwie formieren und ihre Argumente wirksam kundtun – die Stimmbürger studieren leider häufiger Plakate als dass sie Parlamentsprotokolle lesen. (Das überlässt die Öffentlichkeit dem öffentlich-rechtlichen Wissenschaftsnachwuchs.)
Sortiment an Tankstellenshops – von einzelnen Artikeln und drohenden Trends
Die letzte Vorlage war inhaltlich eigentlich banal: Eine Handvoll Tankstellenshops, die schon über eine 24-Stunden-Bewilligung verfügen, sollen neu auch in der Nacht ihr gesamtes Sortiment anbieten dürfen. Bislang mussten diese Shops zwischen 1 und 5 Uhr in der Früh den Grossteil ihres Lebensmittelangebots absperren – der Abstimmungskampf fokussierte sich in froher Verkürzung folglich auf Bratwürste.
Hinter dem Referendum standen die „Sonntagsallianz“ aus Sozialdemokraten, Gewerkschaften, der sozialdemokratischen Partei, sowie anderen Ruhetagsbefürwortern (Kirchen). Staatsrechtlich interessant ist hier, dass die vorgeschlagene Änderung nichts mit Sonntagsarbeit und Ladenöffnungszeiten zu tun. Die Debatte drehte sich um die Befürchtung, dass dies lediglich ein kleiner Schritt in einem grösseren Liberalisierungstrend sein könnte. Dieses Argument verfing im Stimmvolk nicht – die Änderung des Arbeitsgesetzes wurde mit 55.8 % angenommen. Die Schweiz vertraut darauf, bei jeder noch so kleinen Gesetzesänderung mitbestimmen zu können. Wenn es auch wie in diesem Fall nur einen Absatz in einem Artikel betrifft.
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Glossar der staatsrechtlichen Begriffe
Volksinitiative: Kommt zustande wenn 100‘000 Stimmberechtigte per Unterschrift innert 18 Monaten eine Teilrevision der Bundesverfassung verlangen (Art. 139 Abs. 1 BV). Die Initianten legen in der Regel einen ausformulierten Text vor („ausgearbeiteter Entwurf“, Abs. 2). Die zustande gekommene Initiative muss dem Volk unverändert vorgelegt werden; das Parlament empfiehlt sie zur Annahme oder Ablehnung (Abs. 5).
Teilrevision der Bundesverfassung: Kann vom Volk verlangt (siehe Volksinitiative) oder vom Parlament beschlossen werden (Art. 194 Abs. 1 BV). Zieht zwingend eine Abstimmung nach sich.
Obligatorisches Referendum: Zwingende Abstimmung über gewisse Vorlagen (Auflistung in Art. 140 BV). Häufigster Fall ist die vom Parlament beschlossene Teilrevision der Bundesverfassung. In diesem Fall ist ein Doppeltes Mehr nötig.
Fakultatives Referendum: Gewisse Vorlagen (Auflistung in Art. 141 BV) gelangen nicht zwingend zur Abstimmung. Häufigster Fall ist der Erlass bzw. die Änderung von Bundesgesetzen (Abs. 1 Bst. a). Das Referendum kommt zustande, wenn dies 50‘000 Stimmberechtigten innert 100 Tagen seit der amtlichen Veröffentlichung des Erlasses per Unterschrift verlangen; oder, wenn es in der gleichen Frist acht Kantone verlangen.
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Kleine Korrektur zur Stimmrechtsbescheinigung: Bescheinigende Stellen sind – mit Ausnahme des Kantons Genf (teilweise) – die Gemeinden und nicht die Kantone. Bei nach wie vor 2400 Gemeinden eine nicht zu unterschätzende logistische Herausforderung.
Du hast recht. Art. 62 Abs. 1 BPR verweist lediglich auf die Amtsstelle, „die nach kantonalem Recht für die Stimmrechtsbescheingung zuständig ist.“ Den logistischen Mehraufwand, 2400 Bescheinigungen einzuholen statt nur 26, habe ich nicht bedacht. Danke für den Hinweis, Dennis!