Keine «Tombola» – Schweizer Bundesgericht wird weiterhin nach Parteistärke besetzt

von LUCIEN KÄSLIN-TANDUO

Am 28.11.2021 wurde die Justiz-Initiative abgelehnt. Diese Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung nach Art. 139 Abs. 1 BV wurde als «ausgearbeiteter Entwurf» (Art. 139 Abs. 2 BV) ausgestaltet. Ziel: Änderung der Auswahl, Wahl und Amtsenthebung der Richterschaft am höchsten Gericht der Schweiz. Das Wahlverfahren sollte per Losziehung geschehen, was die größte Welle an empörten Reaktionen im Land auslöste –Richter*innen per Zufallsentscheid? Nicht wissen, wie die Richterschaft politisch eingestellt ist? Geht’s noch? – Was aber ist dran am Vorwurf, die Richterwahlen seien ein politisches Machtspiel und entsprängen einem korrupten System?

Wählbarkeitsvoraussetzung(en)

Die Wählbarkeitsvoraussetzung für die Richterkandidat*innen am Bundesgericht findet sich in der Verfassung in Art. 143 BV: Stimmberechtigung. Die Stimmberechtigung wird in Art. 136 Abs. 1 BV erläutert (= Schweizer Staatsbürgerschaft, Ü-18 und nicht geisteskrank oder geistesschwach). Gemäß Art. 40a ParlG ist die parlamentarische Gerichtskommission unter anderem für die Vorbereitung der Wahl zuständig und prüft die Kandidat*innen auf ihre Eignung. Gewählt wird die Richterschaft vom Parlament (Art. 135 ff. ParlG).

Faktische Voraussetzungen

Die Kriterien der Gerichtskommission für die Eignung als Bundesrichter*in haben sich aus der staatspolitischen Tradition entwickelt und sind weder in einer Norm festgehalten noch transparent. Die entscheidenden Kriterien für eine Wahl sind aber: Juristische Ausbildung und Erfahrung sowie Parteizugehörigkeit. Die aktuell am Bundesgericht tätige Richterschaft weist zusätzlich zum Jurastudium mind. eines der folgenden Kriterien auf: (Ehren-)Doktorat/Habilitation, Zulassung als Anwält*in, Erfahrung als Gerichtsschreiber*in oder Richter*in. Alle wurden von einer Partei zur Wahl vorgeschlagen und bekennen sich zu einer von ihnen.

Die Initiative

Die Initianten wollten primär die Wahlkompetenz von den Parlamentarier*innen auf eine von der Regierung gewählte, unabhängige Fachkommission übertragen – mittels Losziehung wären die von der Fachkommission bestätigten Kandidaten dann bestimmt worden. Nach Ansicht der Initianten hätte dies die richterliche Unabhängigkeit gestärkt. Weitere Änderungen waren geplant (aktuelle Handhabung in Klammern):

  • Fachkommission – vom Bundesrat gewählt auf 12 Jahre – entscheidet über Zulassung der Kandidat*innen zur Losziehung, das Los entscheidet final (parlamentarische Gerichtskommission entscheidet über Wahlvorschlag, Parlament wählt)
  • Im Prüfungsverfahren werden die Kandidaten nach objektiven Kriterien auf fachliche und persönliche Eignung für das Amt geprüft (Gerichtskommission prüft fachliche und persönliche Eignung, entscheidend ist aber die Parteizugehörigkeit)
  • Verlängerung der Amtszeit (von 6 Jahren auf unbegrenzt bis zu 5 Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters)
  • Möglichkeit der Amtsenthebung der Richter*in bei schwerer Amtspflichtverletzung oder Unfähigkeit

Rezeption

Sämtliche Parteien haben vorab entschieden, die Initiative abzulehnen, Bundesrat sowie National- und Ständerat folgten. Es gab zwar Gegenvorschläge, doch im Tenor war in den Räten zu vernehmen, dass man allfällige Änderungen in Ruhe anschauen solle – nicht jetzt sofort, nicht unüberlegt, sondern schweizerisch pragmatisch. Was ist aber das Überzeugende, das Unbestrittene am aktuellen Wahlsystem? Warum sind Reformen so schwierig und zäh?

Dazu gibt es mehrere Antworten: Die Schweiz ist eine rechtsstaatliche Demokratie – kein demokratischer Rechtsstaat. Der Hüter der Verfassung ist das Parlament – nicht ein Verfassungsgericht. Wir kennen keine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene, keine absolute Verfassungsbindung der Gesetzgebung (vgl. dazu Art. 190 BV), viele Schweizer*innen haben Angst vor einem Richterstaat, vor fremden Richtern und vor Fremdbestimmung – es spricht sich immer noch eine ganz deutliche Mehrheit der Stimmbevölkerung gegen einen Beitritt zur EU aus. Vergangene Initiativen haben gezeigt, dass man selbst die Normenhierarchie auf Stufe Völkerrecht/Verfassung infrage stellen kann (wenn auch nicht erfolgreich).

Entsprechend fielen die Reaktionen auf die Initiative bei den Parteien und in der Öffentlichkeit aus: Das geltende System funktioniere, die starke demokratische Legitimation der Bundesrichterschaft sei wichtig. Die Schweizer Judikative genieße sehr hohes Ansehen. Fast durchgängig wurde dabei das Losverfahren als gefährlichster Stein des Anstoßes genannt. Es solle doch keine Lotterie entscheiden, welche Personen am höchsten Gericht arbeiten!

Hauptargumente der Gegner und der Befürworter

Richterliche Unabhängigkeit und demokratische Legitimation:

Die richterliche Unabhängigkeit sei im aktuellen System nicht gewährleistet, argumentierten die Befürworter*innen. Die Eigenheiten des schweizerischen (Wieder-)Wahlverfahrens führe zu hohem Druck und zu konkreten Verhaltensänderungen in der Rechtsprechung, zu Abgeltungshandlungen der Parteien, öffentlicher Anprangerung und Verleumdung. Die Richter*innen könnten nicht frei entscheiden, sondern spürten quasi den «Atem» der Parteien im Nacken. Konkrete Beispiele für Verhaltensänderungen in der Rechtsprechung blieben die Initiant*innen schuldig.

Dagegen brachten die Gegner die demokratische Legitimation ins Feld, die dank der Wahl durch das Parlament und die Einhaltung des Parteiproporzes stark sei. Die richterliche Unabhängigkeit sei wichtig und durch die Bundesverfassung gewährleistet. Bisher habe noch keine Richter*in das eigene Entscheidungsverhalten zugunsten seiner Partei geändert. Auch hier blieb die Belegung des Negativbeispiels aus.

Mandatssteuer:

Die Befürworter*innen argumentierten, bereits 1291 sei festgehalten worden, dass die Eidgenossen «keinen Richter anerkennen [werden], der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat». Bundesrichter sollten keine Mandatssteuer zahlen. Das sei Amtsmissbrauch der Parlamentarier und nicht mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar (was von der GRECO bestätigt worden sei).

Die Gegner*innen argumentierten, die Parteienfinanzierung sei nicht staatlich geregelt und falle deshalb bei fast allen politischen Ämtern an – freiwillig. Dies sichere die Vielfalt und das Überleben der Parteien.

Amtszeit und Wiederwahl:

Die Befürworter*innen wollten, dass die Amtszeit nicht mehr begrenzt und die Möglichkeit der Wiederwahl abgeschafft werde, damit der Druck auf die Kandidat*innen entfalle, sich «wiederwahlmäßig» verhalten zu müssen. Auch garantiere die zum Alter im Zeitpunkt des Eintritts in das Amt relativ lange Amtszeit eine unabhängigere Entfaltung.

Tatsächlich fanden diese beiden Änderungen Anklang bei gewissen Gegner*innen, so z.B. auch bei der Schweizerischen Richtervereinigung SVR. Sie wurden in der Botschaft (s. hier auf S. 6842) sogar als «Vorzüge der Initiative» genannt.

Amtsenthebung:

Konsequenterweise als Ergänzung zur verlängerten Amtszeit und Abschaffung der Wiederwahl forderten die Initianten die gesetzlich geregelte Möglichkeit einer Amtsenthebung. Dies stelle sicher, dass fehlbare Richter*innen bei einer schweren Amtsverletzung oder Unfähigkeit aus dem Amt entfernt werden könnten.

Die Gegner*innen brachten dagegen an, dass damit die Gefahr bestünde, dass die Richter als Individuen dann nicht mehr nur vom Parlament, sondern auch noch von der Regierung abhängen würden, wenn eine Amtsenthebung verlangt würde.

Stimmen von (ehemaligen) Richter*innen

Das Bundesgericht schloss sich der Meinung des Bundesrats in der Botschaft anscheinend an (nicht verlautbar). Auch die Richtervereinigung positionierte sich als Gegnerin der Initiative, verlangte aber, dass die Wiederwahl abgeschafft und die Möglichkeit der Parteilosen, auch am Verfahren teilzunehmen, mittels Gegenentwurf gestärkt werde. Drei ehemalige Bundesrichter*innen konnten der Initiative nicht viel mehr zugestehen, als dass sie schon auch manchmal über die Unzulänglichkeiten des aktuellen Systems nachgedacht hätten. Ich habe keine (ehemaligen) Bundesrichter*innen gefunden, die sich für die Initiative stark machten.

Persönliche Einschätzung und Blick nach vorne

Bei der Analyse sticht hervor, dass die Parlamentarier*innen sich schnell geeinigt haben und geschlossen verlauten ließen, das Losverfahren sei undemokratisch und entspreche nicht der Tradition. Nicht zu wissen, wer gewählt werde, sei gefährlich. Gleichzeitig ist seit Längerem bekannt, dass die Parlamentarier*innen, die nicht der Gerichtskommission oder der Fraktion angehören, grundsätzlich nichts über die Kandidat*innen wissen, sondern sich auf die Fraktionen und die Gerichtskommission stützen. Das lässt immerhin die Frage zu, inwiefern hier, dem Hauptargument der Gegner folgend, tatsächlich von einer höheren demokratischen Legitimation der Richterkandidat*innen gesprochen werden kann. Bei der vorgeschlagenen Fachkommission wäre der Bezug zum Stimmvolk objektiv zwar weniger direkt gewesen, aber eine Gerichtskommission, welche die Prüfung der Kandidat*innen vornimmt und nur zu etwas mehr als der Hälfte aus Jurist*innen (wovon nur vier über Erfahrung im Richteramt verfügen) besteht, erscheint dafür in der Gesamtschau nicht objektiv genug. Durch die Fachkommission hätten Fachleute die Eigenschaften, die eine gute und unabhängige Richterschaft ausmachen, überprüft – so wie in einem Bewerbungsverfahren üblich. Mindestens wird aber deutlich, dass es bei den Äußerungen gegen das Losverfahren vor allem um Machtpolitik geht. Zudem hätten die Parteien auch eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen verloren.

Es bleibt bei einem knappen Drittel der abstimmenden Stimmbevölkerung, welches mit einem komplett anderen Wahlsystem der Bundesrichter*innen einverstanden gewesen wäre – und bei einer weitaus größeren Mehrheit von gut zwei Dritteln, die mit dem aktuellen System einverstanden ist. Bei gewissen Eigenheiten (Mandatssteuer, kurze Amtszeit mit Wiederwahl) fanden die seitens der Rechtswissenschaft geäußerten Bedenken Anklang. So ist es nicht erstaunlich, dass sich Professor*innen wie Richter*innen schon mehrfach dahingehend geäußert und auch Änderungen gefordert haben. Es bleibt zu hoffen, dass diese Stimmen nicht (wieder) ungehört und Reformen auf der Strecke bleiben, nur weil das aktuelle System funktioniert – was auch immer genau damit gemeint ist.

Zitiervorschlag: Lucien Käslin-Tanduo, Keine «Tombola» – Schweizer Bundesgericht wird weiterhin nach Parteistärke besetzt, JuWissBlog Nr. 115/2021 v. 16.12.2021, https://www.juwiss.de/115-2021/.

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