von TIMO LAVEN
Nach längerer Ankündigung wurde in Berlin eine Kommission zur Vergesellschaftung von Wohnraum eingesetzt. Vielfach vergessen wird dabei, dass bereits vor etwa einhundert Jahren eine damals sog. Sozialisierungskommission Fragen der Vergesellschaftung beantworten sollte. Die verantwortliche Initiative „Deutsche Wohnen & Co Enteignen!“ (DWE) warf der SPD in den vergangenen Wochen vor, die Sozialisierung durch die Kommission verhindern zu wollen – eine Kritik, die im Jahr 1919 ebenfalls an die SPD gerichtet wurde.
Einberufung einer Berliner „Sozialisierungskommission“
Gemeinsam mit der Bundestagswahl im September 2021 wurde in Berlin der Volksentscheid zur Initiative „Deutsche Wohnen & Co Enteignen!“ (DWE) mit etwa 57 % der Stimmen angenommen. Darin wurde beantragt, Wohnungskonzernen mit mehr als 3000 Einheiten das Eigentum an den Grundstücken zu entziehen und auf eine neu zu gründende öffentlich-rechtliche Anstalt zu übertragen. Als sog. Beschlussvolksentscheid i.S.d. Art. 62 Abs. 1 S. 2 VvB folgt aus der Annahme nicht die Pflicht, ein entsprechendes Gesetz zu erlassen, weshalb sich die Koalition aus SPD, Grünen und Linken lediglich aus politischer Verantwortung damit befassen musste. Während die Linke das Projekt unterstützt und die SPD es ablehnt, kommt den Grünen eine Vermittlerrolle zu. Die regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey bezeichnete die Sozialisierung gar als „rote Linie“, die mit ihr nicht überschritten werde. Der Senat entschied in seinem Koalitionsvertrag, ein Expert:innengremium in den ersten 100 Amtstagen einzuberufen, was am 29. März geschah. Innerhalb dieser mit 13 Personen besetzten Kommission soll auch die DWE mit drei Mitgliedern vertreten sein.
Die DWE vertagte die Entscheidung über die Entsendung von Mitgliedern zunächst und warf der SPD vor, bewusst Personen ausgesucht zu haben, die einer Sozialisierung kritisch gegenüberstehen – darunter insbesondere Christian Waldhoff und Wolfgang Durner. Beide haben zuvor vertreten, dass eine Sozialisierung durch den Landesgesetzgeber in Berlin an der Landesverfassung scheitere, die keine Art. 15 GG entsprechende Vorschrift enthalte und daher im Sinne des Art. 142 GG einen weitergehenden Eigentumsschutz vorsehe als das Grundgesetz. Darüber hinaus kritisierte die DWE, „die Arbeitsweise der Kommission [sei] völlig unkonkret“, wodurch vertuscht werden solle, dass „die Kommission im Interesse der Immobilienkonzerne“ handle. Schon zuvor bemängelte die Initiative die vermeintlich von der SPD verursachten Verzögerungen im Ablauf. Im Kern lautet der Vorwurf an die SPD also, die Sozialisierung über den Umweg der Kommission verhindern zu wollen.
Bereits die frühere Sozialisierungskommission warf der damaligen MSPD vor, ihre Arbeit unterbinden zu wollen, sodass sich die Frage stellt, ob sich die Geschichte an dieser Stelle wiederholen wird.
Der historische Vorgänger der Kommission
Nach der Novemberrevolution 1918 wurde die Sozialisierung zu einem der wichtigsten Punkte des politischen Tagesgeschehens. Die sozialistischen Vorläuferparteien der heutigen SPD (MSPD und USPD) sahen sich nach der Revolution durch Einsetzung des Rats der Volksbeauftragten in Regierungsverantwortung auf Reichsebene und fühlten sich zumindest nach außen hin ihrer alten Kernforderung verpflichtet. Die MSPD, allen voran Friedrich Ebert, stand der Sozialisierung jedoch distanzierter gegenüber; sie würde die nach dem Krieg angeschlagene Wirtschaft weiter schwächen und damit dem eigentlichen Ziel eines Wiederaufbaus entgegenlaufen. Gleichzeitig forderten die USPD und Teile der Arbeiterschaft weiterhin lautstark den Beginn der Sozialisierungen.
Schon am 18. November 1918 – neun Tage nach der Revolution – wurde die Sozialisierungskommission eingesetzt und damit beauftragt, Vorschläge zur Durchführung der Sozialisierung zu erarbeiten. Sie sollte grundsätzlich alle Wirtschaftsbereiche auf ihre „Sozialisierungsreife“ überprüfen, besonderes Augenmerk wurde aber auf die Kohle- und Elektrizitätsindustrien gelegt. Die Kommission war mit Ökonomen und Parteitheoretikern besetzt, sollte die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit von Sozialisierungen prüfen und Pläne zur Durchführung erarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Arbeit an der Weimarer Reichsverfassung noch nicht begonnen, sodass auf Reichsebene noch kein verfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz galt. Daher richtete sich die sog. „Sozialisierungsfrage“ nicht nach verfassungsrechtlichen, sondern angesichts der Kriegsfolgen nach ökonomischen Kriterien, die von der Kommission überprüft werden sollten.
Die Mitglieder der Kommission warfen der MSPD von Beginn an vor, ihre Arbeit zu erschweren und zu verhindern. Schon die Aufgabenstellung habe das Ergebnis vorwegnehmen sollen, indem sie die Kommission anhielt, beruhigend zu wirken und Befürchtungen unvernünftiger Experimente zu vermeiden. Die Kompetenzen der Kommission waren unklar verteilt, wobei insbesondere ihr Verhältnis zum Wirtschaftsministerium des Reichs nicht eindeutig geregelt war. Dieses war der Ansicht, die Kommission habe nicht die Befugnis, ihre Gutachten selbstständig zu veröffentlichen, sondern arbeite lediglich intern. Die Ministerien verweigerten schließlich Auskünfte über die wirtschaftliche Lage, die die Kommission zur Erstellung des Berichts angefordert hatte. Daneben kritisierte die Kommission die praktische Ausstattung: Es habe an Schreibmaterialien gefehlt, es seien keine beheizten Räume zur Verfügung gestellt worden, Gehälter seien nicht oder lange verspätet ausgezahlt worden.
Personell war das Ergebnis der Kommission bereits im Vorfeld absehbar. Zehn Mitglieder gehörten dem sozialistischen Spektrum an während nur zwei dem liberalen Lager entstammten. Entsprechend sprach sich in dem einzig veröffentlichten, vorläufigen Bericht das Mehrheitsvotum für eine weitgehende Sozialisierung aus, während nur die beiden bürgerlichen Mitglieder ein Minderheitenvotum verfassten, das die Eigentumsverhältnisse nicht unmittelbar berührte. Die Veröffentlichung des Berichts wurde durch das Ministerium mehrfach verzögert, sodass die Kommission schließlich infolge der institutionellen Hürden zurücktrat. Nach dem gescheiterten Kapp-Putsch und der verbreiteten Kritik an der Sozialisierungspolitik wurde im Folgejahr erneut eine Sozialisierungskommission eingesetzt, deren Bericht weitgehende Ähnlichkeiten mit dem zuvor ergangenen hatte, jedoch ebenfalls nicht umgesetzt wurde. Der in der WRV enthaltene Art. 156 blieb daher ebenso wie der derzeitige Art. 15 GG unangewendet.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Weimar und Berlin
In Anbetracht der Kritik der DWE stellt sich die Frage, ob die zu erwartenden Hürden der neuen Kommission mit denen ihrer Vorgängerin vergleichbar sind.
Hinsichtlich der Personalentscheidungen wirkt die Herangehensweise der SPD gegensätzlich zu dem historischen Vorgänger. Während sie ihre Ablehnung 1919 nicht hinreichend deutlich machte und die Kommission mit Befürwortern besetzte, ließ sie heute keinen Zweifel an ihrer Position und traf entsprechende Personalentscheidungen. Zwar lassen die Personalentscheidungen der SPD nicht auf Tatendrang schließen; ein breites juristisches Meinungsspektrum in einem Expert:innengremium zu repräsentieren, kann allerdings entgegen der Kritik von taz und DWE weder als „Affront gegen den Mehrheitsentscheid“ noch als „Dreistigkeit“ bezeichnet werden.
Auch die Kritik an den Rahmenbedingungen der Kommission lässt kaum Vergleiche zu. Der Senat bezeichnete in seiner Pressemitteilung vom 29. März 2022 die Aufgabe der Kommission damit, die Verfassungsmäßigkeit zu prüfen sowie Möglichkeiten und Wege einer Sozialisierung aufzuzeigen. Erst in einem zweiten Schritt sollen „wohnungswirtschaftliche, gesellschaftsrechtliche und finanzpolitische Belange“ berücksichtigt werden. Bislang ist zwar noch kein konkreter Katalog an Aufgaben veröffentlicht worden, allerdings wird das Anliegen aus der Pressemitteilung deutlich und entspricht auch der Absprache aus dem Koalitionsvertrag. Für mit der Weimarer Sozialisierungskommission vergleichbare Sabotagehandlungen bestehen keinerlei Anhaltspunkte.
Schließlich unterscheiden sich die beiden Kommissionen in ihrer fachlichen Ausrichtung voneinander. Während in der frühen Weimarer Republik ein Bericht über die wirtschaftliche „Sozialisierungsreife“ erbracht werden sollte, stehen heute verfassungsrechtliche Fragestellungen im Vordergrund. Die grundsätzliche Problematik eines Expert:innengremiums, das über politisch umstrittene und (für Teile der Regierung) unliebsame Themen entscheidet, bleibt jedoch erhalten. Die zugrundeliegenden Fragen nach Ausmaß und Grenzen politischer Einflussnahme stellen sich daher gleichermaßen.
Im Gegensatz zur historischen Situation sind es heute nicht die Rahmenbedingungen der Kommission, die einer Sozialisierung entgegenstehen werden, sondern womöglich das Ergebnis ihrer Arbeit. Während die Sozialisierung in der Weimarer Republik an vielfältigen politischen und wirtschaftlichen Problemen scheiterte, könnte ein negatives Gutachten des Gremiums gegenwärtig eine ausreichende Argumentationsgrundlage liefern, um das Projekt politisch zu begraben. Von einem Déjà-vu lässt sich also zwar hinsichtlich der Existenz einer Sozialisierungskommission und der ablehnenden Haltung der (M)SPD sprechen, ihre Herausforderungen liegen heute jedoch in anderen Bereichen als vor 100 Jahren.
Zitiervorschlag: Timo Laven, Die „Sozialisierungskommission“ in Berlin – Ein rechtshistorisches Déjà-vu?, JuWissBlog Nr. 25/2022 v. 28.4.2022, https://www.juwiss.de/25-2022/
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[…] lediglich, sich damit inhaltlich auseinanderzusetzen. Infolgedessen setzte der Senat trotz tiefgreifender Skepsis der SPD eine Expert:innenkommission ein, die ein Gutachten über die Verfassungsmäßigkeit der […]