von QUIRIN WEINZIERL
Seit der Stadionverbot-Entscheidung des BVerfG ist absehbar: Soziale Netzwerke sind – was den Zugang und das Löschen von Content betrifft – faktisch voll an Grundrechte gebunden. Gleichzeitig intensivieren staatliche Gerichte die Überprüfung diesbezüglicher Entscheidungen. Die weitgehende Selbstregulierung sozialer Plattformen scheint am Ende. Doch besteht ein Weg, sich diesem rechtlichen Zwangsgriff de facto zu entziehen: der Aufbau einer eigenen Verbandsgerichtsbarkeit. Facebook könnte diesen Weg mit seinem von Mark Zuckerberg angekündigten Supreme Court of Facebook beschreiten – ein Grund jedenfalls zur Vorsicht.
Der Druck auf Facebook hinsichtlich der Grenzen seiner Selbstregulierung wächst stetig. Gerade hat die deutsche Justizministerin ihn noch einmal erhöht. Facebook versucht gegenzuhalten und insbesondere staatlicher Regulierung und Aufsicht vorzubeugen. Zentrales Element sind Strategien zur Content Moderation. Hier hat Mark Zuckerberg angekündigt, für „Independent Governance and Oversight“ zu sorgen. Er plant, eine Einrichtung zu schaffen, die über Beschwerden hinsichtlich (auch automatisierter) Entscheidungen über freie Meinungsäußerung (und „Sicherheit“) befindet. In Zuckerbergs Worten: „almost like a Supreme Court”. Ein solcher Supreme Court of Facebook könnte dem Netzwerk dabei helfen, die Kontrolle über den Content weitgehend zu behalten.
„Facebook, Inc.“: Grundrechtsbindung und staatliche Gerichte
Im Moment steuert Facebook, jedenfalls was den Content und die Mitgliedschaft im Netzwerk betrifft, auf eine umfassende staatliche Regulierung zu. Neben denkbaren gesetzgeberischen Initiativen legen die (staatlichen) Gerichte Facebook enge Fesseln an.
Unter der Theorie der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte bindet das BVerfG private Akteure in besonderen Positionen de facto an Grundrechte. An der Spitze dieser Entwicklung, die über die Fälle Fraport und Flashmob verlief, steht die Stadionverbot-Entscheidung. Hierin hat das BVerfG festgestellt, dass Fußballclubs als Stadionbetreiber gegen einzelne Besucher ihr Hausrecht nur innerhalb enger grundrechtlicher Bindungen durchsetzen können. Wer mag, kann hierin die Grundlagen für eine (fast) vollständige (mittelbare) Geltung der Grundrechte für soziale Plattformen sehen. Facebooks Freiheit, Mitgliedschaft und Content selbst zu regeln, ist damit – in materieller Hinsicht – quasi auf null reduziert.
Wesentlich für diese Beschränkung der Selbstregulierung ist jedoch ein zweiter Aspekt: Die materiell zu berücksichtigenden Rechte der Nutzer können diese auch prozessual geltend machen. Denn über die Rechte der Nutzer wachen die staatlichen Gerichte. Pflichten und Rechte unter Facebooks AGB, das heißt Nutzungsbedingungen und Community Standards, sind als (vor-)vertragliches Schuldverhältnis vor den ordentlichen Gerichten justiziabel (s. hierzu LG Bamberg). Bei deren Auslegung haben die staatlichen Gerichte die volle (wenn auch mittelbare) Grundrechtsbindung Facebooks zu verwirklichen. So geht etwa das OLG München davon aus, dass Facebook einen Beitrag nicht löschen darf, wenn er „die Grenzen zulässiger Meinungsäußerung nicht überschreitet”.
Die Verbindung aus materieller mittelbarer Grundrechtsbindung und der Justiziabilität betreffender Streitigkeiten vor staatlichen Gerichten legt der Facebook, Inc. enge, an sich aber zu begrüßende, grundrechtliche Schranken auf.
Verbandsschiedsgericht – der (faktische) Weg aus der Grundrechtsbindung
Gleichzeitig weist (nicht nur) die deutsche Rechtsordnung einen Weg aus diesem rechtlichen Zwangsgriff: Das Modell der außergerichtlichen Streitbelegung in Form der Verbandsschiedsgerichtsbarkeit. Streitigkeiten sind hier der staatlichen Gerichtsbarkeit und damit auch (de facto) der Geltung der Grundrechte weitgehend entzogen.
Das im Augenblick bedeutendste Beispiel für die Effektivität dieses rechtlichen Vehikels ist der Court of Arbitration for Sport (CAS). Sportverbände schließen mit ihren Mitgliedern Schiedsvereinbarungen. Damit unterwerfen sich die Athleten der Verbandsgerichtsbarkeit und verzichten, anerkannt durch die große Mehrheit der staatlichen Rechtsordnungen, auf den Zugang zu staatlichen Gerichten. Legitimierender Gedanke hinter diesem Ausschluss der staatlichen Gerichtsbarkeit ist die Privatautonomie sowie die Vereinigungsfreiheit. Die Wirksamkeit der Schiedsklauseln sowie die Unabhängigkeit der Verbandsgerichtsbarkeit standen jüngst in den Fällen Pechstein (vor dem BGH und dem EGMR) sowie Cañas v. ATP Tour (vor dem Schweizerischen Bundesgericht) auf dem Prüfstand – und haben bestanden.
Zwar ist gerade der CAS bemüht, seinem Handeln und seinen Urteilen den Anstrich einer staatlichen Gerichtsbarkeit zu geben. Insbesondere stellt er oft auf menschenrechtliche Bestimmungen ab. Doch ist dies nicht mit der Grundrechtsbindung staatlicher Gerichte vergleichbar. Mögen Grundrechte dogmatisch – als „verfassungsrechtliche Wertentscheidungen“, die als „Richtlinien“ in das Zivilrecht einstrahlen – auch im Rahmen privater Streitbeilegung Geltung beanspruchen. Entscheidend ist etwas anderes: Die Grundrechte lassen sich von dem Einzelnen faktisch nicht mehr durchsetzen. Denn wo die Rechtsordnung die Streitentscheidung durch private Schiedsgerichte anerkennt, können staatliche Gerichte nicht mehr entscheiden – und damit die Grundrechte auch nicht mehr zur Geltung bringen.
„Facebook e.V.“: Supreme Court of Facebook als Verbandsschiedsgericht?
Voraussetzungen dafür, dass die Rechtsordnungen derartige Konstruktionen – gerade mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie – akzeptieren, sind zwei Dinge: Die Wirksamkeit der Schiedsklausel bzw. die Anordnung der Schiedsgerichtsbarkeit und die Ausformung des Schiedsgerichts. Dies gilt in Deutschland wie auch in den USA und dem Rest Europas. Dort sind die Anforderungen teils sogar niedriger als in Deutschland. Der von Facebook notwendigerweise zu beschreitende internationale Weg wäre damit unter ähnlichen Erwägungen zu beleuchten. Ob Facebook diese Hürde nehmen könnte, ist ungewiss – unmöglich scheint es nicht.
Eine wirksame Schiedsklausel bedarf in Verbraucherverträgen der Schriftform und ist abgetrennt vom Hauptvertrag zu schließen (§ 1031 Abs. 5 ZPO). Dass Facebook eine monopolartige Stellung hat, mag dabei ein Problem sein – jedenfalls aber im Sport halten der BGH und der EGMR (sowie das Schweizer Bundesgericht) die Klauseln. Daneben besteht jedoch ein zweiter Weg, Schiedsklauseln zu etablieren: Sie lassen sich durch Vereinssatzung und damit ohne die Formvorschrift des § 1031 ZPO vorsehen (vgl. § 1066 ZPO, hierzu BGH). Gänzlich ausgeschlossen scheint es nicht, dass Facebook versucht, sich hinsichtlich erlaubter Meinungsäußerungen als Verband seiner Mitglieder zu gerieren. Ein Beitritt zum Netzwerk wäre dann auch ein Beitritt zu einem zu gründenden „Facebook e.V.“, der den Content im Netzwerk sowie den Zutritt verwaltet.
Um als Schiedsgericht im Sinne der §§ 1034 ff. ZPO zu gelten, ist erforderlich, dass Rechtsstreitigkeiten „der Entscheidung durch eine unabhängige und unparteiliche Instanz unterworfen“ sind (BGH, Rn. 15). Hier ist nun bedeutend, wie der Supreme Court of Facebook genau ausgestaltet sein wird. Mark Zuckerberg legt gerade auf das Element der Unabhängigkeit besonderen Wert. Er führt aus, dass der Supreme Court of Facebook von den Content-Moderatoren, aber auch von den Anteileignern und deren kommerziellen Interessen unabhängig sein soll. Wie genau sich eine solche Unabhängigkeit – gerade innerhalb des Unternehmens – umsetzen lässt, bleibt zu klären (für ein Modell der Unabhängigkeit nach Vorbild des U.S. Supreme Courts s. hier). Undenkbar ist es nicht – etwa im Rahmen des „Facebook e.V.“ und etwa dem Abhalten Facebook-weiter „Richterwahlen“. Derartige Community-Entscheidungen waren bereits einmal Ziel Facebooks.
Eine Überprüfung der Entscheidungen des Supreme Court of Facebook wäre dann nur in den engen Grenzen des § 1059 ZPO bzw. des Art. V New York Convention möglich, etwa auf Ordre Public-Verstöße – ggf. überhaupt nicht (s. Art. 190 Abs. 2 Schweizerische IPRG).
Auf eine Vollstreckbarerklärung der Entscheidungen des Supreme Court of Facebook wird es hingegen nur selten oder gar nie ankommen. Ähnlich der Sportverbände kann Facebook die Entscheidungen (s)eines Supreme Court of Facebook selbst vollstrecken. So wie der Ausschluss von einem Wettkampf nicht der Mitwirkung staatlicher Vollstreckungsorgane bedarf, kann auch Facebook Beiträge selbst löschen oder gar Mitglieder aus dem Netzwerk entfernen.
Ein weiter Weg – jedenfalls ein gefährlicher
Der Weg hin zu einem Supreme Court of Facebook ist weit. Ebenso sind die juristischen Hürden hoch, die es zu überwinden gilt, um den Zugriff staatlicher Gerichte abzuschütteln. Unmöglich scheint es gleichwohl nicht.
Facebook könnte versuchen, auf den sich stets weiter beschleunigenden Zug der Schiedsgerichtsbarkeit aufzuspringen. Einen gangbaren Weg zeigen Sportverbände auf. Facebook, Inc. könnte etwa nur noch als Infrastrukturlieferant fungieren und den Inhalt sowie Zutritt zu seinem Netzwerk in die Hand eines aus den Mitgliedern und sich selbst gebildeten „Facebook e.V.“ legen.
Eine derartige Entwicklung wäre mit größter Vorsicht, wenn nicht Sorge zu beobachten. Mag der Sport auch eine wichtige gesellschaftliche Rolle erfüllen, so trifft doch gerade der CAS nur einige wenige Spitzensportler. Geben deren Schicksale bereits Anlass für Bauchschmerzen, so ist die gesamtgesellschaftliche Bedeutung doch nicht vergleichbar mit der, welche der Regulierung der öffentlichen Foren des 21. Jahrhunderts innewohnt. Die Höchst- und Verfassungsgerichte wären insoweit wohl aufgefordert, ihren lockeren Umgang mit Schiedsklauseln kritisch zu hinterfragen. Eines hingegen ist klar: Facebook kann auf diesem Weg bis zu ersten verfassungsgerichtlichen Entscheidungen Zeit gewinnen und wohl über Jahre Fakten schaffen.
Zitiervorschlag: Weinzierl, Ein Supreme Court of Facebook – wie das Netzwerk seiner Selbstregulierung neuen Spielraum verschaffen könnte, JuWissBlog Nr. 40/2019 v. 12.3.2019, https://www.juwiss.de/40-2019/
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[…] QUIRIN WEINZIERL is not at all convinced that Mark Zuckerberg deserves applause for his idea of a "Supreme Court of Facebook". […]