von ERIC RÜCKER
Die israelischen und US-amerikanischen Angriffe gegen den Iran sind rechtswidrig. Die öffentliche Debatte verlagert sich dennoch auf eine moralisch-politische Ebene, die die Bedrohung voraussetzt, aber nicht problematisiert, sondern funktionalisiert. Damit stellt die Debatte nicht die notwendigen Fragen, sondern rechtfertigt die falschen Antworten.
Diskursdissonanz
Im Überblick: Ein Selbstverteidigungsrecht i. R. v. Art. 51 UN-Ch scheidet für die Operation Rising Lion aus. Es lag kein bewaffneter Angriff des Irans vor, und für einen im Sinne der Caroline-Kriterien dem Grunde nach legalen präemptiven Schlag (Rn. 45) fehlen Beweise. Die hätte ohnehin Jerusalem zu liefern (Rn. 56), woran selbst verletzte iranische Aufklärungspflichten (ausgehend von Art. III NVV) nichts zu ändern vermögen. Auch die Beteiligung der USA, die Operation Midnight Hammer, lässt sich unter diesen Gesichtspunkten offenkundig nicht rechtfertigen. Eine Einschätzung, die von der englischsprachigen blogosphere mehrheitlich geteilt wird.
Die deutsche Völkerrechtswissenschaft ordnet die Rechtslage augenscheinlich sogar einhellig und in bemerkenswerter Klarheit entsprechend ein. Während jedoch hierzulande Beiträge mit juristischer Expertise zu einem konsistenten Ergebnis gelangen, schlagen die übrigen in eine andere Richtung um. Und genau dort liegt das, wie ich finde, zentrale Problem dieses Diskurses: Die moralisch-politische Auseinandersetzung beschränkt sich fast ausschließlich auf die Legitimität als moralische Rechtfertigung eines rechtswidrigen Verhaltens.
Die falschen Fragen
War der Angriff nachvollziehbar, gar legitim? Konnte Israel nicht anders? War es gleichsam gezwungen? War der Angriff vielleicht alternativlos? Dieses Handeln also existenziell? Solche Fragen, um nur manche zu nennen, ersetzen die Auseinandersetzung mit der zugrundeliegenden Problematik – den Umgang mit einem potenziellen iranischen Atomwaffenprogramm – durch eine Rationalisierung bereits erfolgter, rechtswidriger Gewalt.
Die, oder zumindest eine, entscheidende Frage aber – Wie (auch zukünftig) mit einer möglichen Bedrohung durch iranische Massenvernichtungswaffen völkerrechtskonform und sicherheitspolitisch verantwortlich umgehen? – wird in der Debatte vielfach nicht oder nur unzulänglich gestellt.
Geltungsanspruch
Wenn ein Staat eine völkerrechtliche Norm mit in ihr selbst angelegten Ausnahmen zu rechtfertigen versucht, wird angenommen, dass er sie eher bestätigt, als schwächt (Rn. 186). Obgleich es auch hier freilich Graustufen gibt: Die völkerrechtliche Norm ist, im luhmannschen Sinne, im Kern kontrafaktisch stabil.
Hingegen sind meines Erachtens die oben beobachteten Untersuchungen für das Völkerrecht hochproblematisch. Denn sie entkoppeln politische Entscheidungsfindung von normativen Grenzen. Gewaltakte werden nicht mehr im Licht des geltenden Rechts beurteilt, sondern anhand subjektiver Maßstäbe. Sie ignorieren das Völkerrecht als solches. Sie bemühen sich nicht einmal mehr innerhalb der Systemlogik, in ihrer Sprache, zu argumentieren. Sie gehen davon aus, dass uni-, jetzt: bilaterale Angriffe grundsätzlich zur Debatte jenseits des Rechts stehen können.
Einschub: Moral und Recht
Womit mitnichten gesagt sein soll, dass niemals nie eine Bezugnahme auf die Moral erfolgen darf. Ganz im Gegenteil führt ja das methodische Nachdenken über die Legitimität jenseits der Legalität gerade zu einer unabhängigen Beurteilung rechtlicher Ordnungen, zur Kritik an bestehenden Normen, zur Entwicklung von Reformvorschlägen (vgl. S. 320-1).
Eine moralorientierte Debatte ist deshalb notwendig, um zu einer Einschätzung zu kommen, ob das Völkerrecht an einer Stelle dysfunktional oder gar „unmoralisch“ ist. Dies gilt umso mehr, wenn der Tatbestand – wie hier der des Selbstverteidigungsrechts – zwecks Missbrauchsvorbeugung besonders eng gefasst ist aber dadurch manchmal unpraktikabel erscheint. Genau wie das Völkerrecht im Feuilleton zur Sprache kommen darf, soll es auch die Moralphilosophie.
Leerstellen werden ignoriert
Die zugrundeliegende Problematik wird also vorausgesetzt, aber kaum je zum Ausgangspunkt für eine regelbasierte, strategische, institutionelle Lösung gemacht; stattdessen zur nachträglichen Legitimationsgrundlage eines Regelbruchs umfunktioniert.
Dabei drängen sich doch rechtspolitische Leerstellen auf: Wie soll die Weltgemeinschaft nun reagieren, wenn Abwarten angesichts einer Bedrohungslage als sicherheitspolitisch unzumutbar gilt, wenn dies zur Destabilisierung der gesamten Region führen könnte, gleichzeitig aber keine mögliche völkerrechtskonforme Reaktion offensichtlich erscheint? Etwa weil der Sicherheitsrat durch das Vetorecht einzelner Mitglieder, Art. 27 UN-Ch, blockiert ist (exemplarisch) und die Generalversammlung mangels entsprechender Befugnisse jedenfalls keine autorisierende Rolle (A. 1.) bei der Gewaltanwendung i. S. d. Kap. VII UN-Ch einnehmen kann.
Notwendig wäre eine moralorientierte und rechtspolitisch fundierte Debatte, die diese Herausforderungen ernst nimmt – und über Handlungsfähigkeit, Reformoptionen und Alternativen innerhalb oder außerhalb der bestehenden Sicherheitsarchitektur nachdenkt: Ist diese unter den Bedingungen multipolarer Machtverhältnisse überhaupt noch tragfähig? Und wenn nicht, was wären denkbare Alternativen – etwa eine stärkere Rolle regionaler Organisationen in der Friedenssicherung (vgl. Rn. 30)? Zumal völkerrechtlich explizit angelegt, Art. 52 (3) UN-Ch.
Streit
Nicht jede sicherheitspolitische Krise muss Anlass zur großen Reformfrage geben. Zumal journalistische Diskurse diese kaum umfassend leisten können. Eine substanzielle Reform der UN-Charta erscheint – seit langer Zeit – ohnehin unrealistisch, da sie die freiwillige Machtabgabe der sogenannten Vetomächte voraussetzte. Und auch alternative Mechanismen (etwa Gewaltmandate durch regionale Organisationen) blieben, so sie nicht durch den Sicherheitsrat autorisiert wären, de lege lata rechtswidrig.
Gerade deshalb ist es aber notwendig, offen über Systemmakel zu sprechen. Um mögliche Entwicklungen in der völkerrechtlichen Praxis (etwa durch fortgebildete Interpretation, multilaterale Koordination oder soft-law-Initiativen) sowie realistische Anpassungen im bestehenden Rahmen auszuloten. Und über Antworten hierauf zu streiten.
Um nur beim oben angeführten Beispiel zu bleiben – die verstärkte regionale Zusammenarbeit unterhalb der Schwelle militärischer Gewalt: Ohne Einbettung in eine regelbasierte Ordnung droht ihre geopolitische Instrumentalisierung (vgl. Rn. 38), etwa im Rückgriff auf eine Ordnungsidee, wie sie Carl Schmitt schon in seiner Großraumtheorie entwickelte. Was als pragmatischer Umgang mit einer schlechten Sicherheitsarchitektur beginnen würde, könnte schnell die Souveräne Gleichheit der Staaten, Art. 2 (1) UN-Ch, unterlaufen.
Westliche Arroganz?
Stattdessen wiederholt sich doch allmählich ein Muster selektiver Normanwendung, gemeint: positiver Völkerrechts- und nichtpositiver Moralnormen – das bereits bei früheren westlichen Interventionen deutlich wurde, allem voran im Kosovo (1999), aber auch im Irak (2003).
Gerade in ebendiesem Rahmen der sogenannten Operation Allied Force, wurde juristische Kritik an den NATO Bombardements Jugoslawiens erst marginalisiert – und dann doch rehabilitiert: Der Bericht der Independent International Commission on Kosovo brachte die späte westliche „Einsicht“ ob der Völkerrechtswidrigkeit in der bekannten Formel „illegal but legitimate“ auf den Punkt (S. 4).
Ursprünglich jedoch mindestens auch als kritischer Befund (z.B. S. 173-5, 186) und nicht nur beschwichtigender ex post Rechtfertigung angesehen – „The intervention was not legal […]. This is a troubling fact and one which the necessity and legitimacy of the action cannot conjure away.“ (S. 290) –, wird diese Formel zunehmend wie ein rhetorisches Sedativum gelesen.
In der von mir kritisierten moral-politischen Debatte verkommt sie so in jener aufgezwungenen sedierenden Funktion zu einer bloßen Prämisse: dass es stets die Möglichkeit gebe, zwar illegal, aber immerhin legitim und damit akzeptabel Gewalt anzuwenden. Streiten in diesem Modus überspringt jedoch die notwendige Prüfung von Alternativen und moralischer Abwägung und verschafft damit diskursive Deutungsmacht ohne diskursive Verantwortung zu übernehmen.
Die gegenwärtige Debatte läuft damit Gefahr, den Ausnahmecharakter völkerrechtswidriger Gewaltakte durch moralische Aufwertung zu entgrenzen und dadurch Doppelstandards zu etablieren. Solche Diskursverschiebungen werden international freilich nicht folgenlos bleiben: Je häufiger moralisch begründete Regelverstöße nicht geahndet werden, desto schwerer fällt es, der vor allem im Globalen Süden verbreiteten Wahrnehmung eines partikularen Völkerrechts überzeugend zu widersprechen. Der Begriff der regelbasierten Ordnung ist hierzulande in aller Munde – ihn unter solchen Vorzeichen ernst zu nehmen, wirkt zunehmend zynisch.
Fazit
„[I]llegal but legitimate“ ist längst zu einer rhetorischen Entlastungsformel geworden, nimmt eine moralische Bewertung vorweg, die eigentlich das Ergebnis eines offenen, kritischen Diskurses sein müsste. Gerade deshalb braucht es Debatten, die nicht nur den Einzelfall moralisieren, sondern strukturelle Fragen stellen: Was kann das Völkerrecht leisten, wenn seine Institutionen blockiert sind? Und wie lässt sich Rechtstreue erhalten, ohne sich bloß an ihrer Erosion abzuarbeiten?
Es geht dabei nicht um systemische Illusionen. Eine Reform der UN-Sicherheitsarchitektur ist unrealistisch, regionale Alternativen sind rechtlich begrenzt und geopolitisch ambivalent. Doch genau das erfordert ein reflektiertes Nachdenken über Maß und Mitte des Völkerrechts in einer sich verschiebenden Weltordnung.
Zitiervorschlag: Rücker, Eric, Angriffe auf den Iran: eine moralisierte Debatte – Die deutsche Öffentlichkeit im Modus von „illegal but legitimate“ , JuWissBlog Nr. 58/2025 v. 26.06.2025, https://www.juwiss.de/58-2025/
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