von THOMAS SCHODITSCH

Thomas Schoditsch - sw

Typischerweise wird über Rechtspolitik nur im Kontext der Gesetzgebung diskutiert. Rechtspolitik passiert aber auch auf Ebene der Vollziehung von Gesetzen, nämlich durch Gerichtsentscheidungen. Beschäftigt man sich mit der Rechtspolitik durch Gerichte, ist damit im Kern das Handeln der Vollziehung angesprochen. Damit geht es nicht um die Erzeugung von Gesetzen, sondern um ihre Anwendung: Da Gesetze durchaus unterschiedlichen Auslegungen zugänglich sind, sind auch Fragen der Methodenlehre angesprochen.

Rechtspolitische Entscheidungen und das „Folgen-Argument“

Probleme bereitet freilich die Erkennbarkeit von rechtspolitischen Entscheidungen. Nur äußerst selten werden in Gerichtsentscheidungen rechtspolitische Absichten offen gelegt; meistens erschöpfen sich die Begründungen von Entscheidungen in Ableitungen aus bekannten dogmatischen Grundsätzen. Daher ist die Frage aufzuwerfen, wie sich rechtspolitische Entscheidungen überhaupt erkennen lassen.

Dabei scheint es nicht zielführend, rein auf die subjektive Sichtweise des Betrachters abzustellen: Denn die bloße Behauptung, eine Entscheidung sei von rechtspolitischen Absichten getragen, ist kaum nachvollziehbar; sie ist beliebig und von der jeweiligen Weltanschauung und den Werten des Betrachters abhängig. Ein objektives Argument für die Diskussion um die Erkennbarkeit lässt sich mE vor allem aus dem „Folgen-Argument“ gewinnen: Die rechtspolitische Dimension einer Gerichtsentscheidung lässt sich häufig erst an ihren gesellschaftlichen Konsequenzen erkennen. Deshalb bietet sich ein Blick auf die Folgen einer Gerichtsentscheidung an, um eine objektive Grundlage für die Frage zu gewinnen, inwieweit eine Entscheidung von rechtspolitischen Überlegungen getragen war. Anhaltspunkte dafür lassen sich nicht zuletzt aus der Begründung der Entscheidungen gewinnen: Häufig stellt ein (verkürztes) argumentum ad absurdum („Das kann wohl nicht so sein“) einen Hinweis dafür dar, dass sich das Entscheidungsorgan durchaus mit den Folgen seiner Entscheidung auseinander gesetzt hat.

Zulässigkeitsgrenzen für das rechtspolitische Handeln der Gerichte

Hat man eine Entscheidung erst einmal als „rechtspolitische Entscheidung“ identifiziert, sagt das noch nichts darüber aus, ob die Entscheidung als dogmatisch korrekt oder verfehlt zu beurteilen ist; ja noch einmal darüber, ob die Gerichte die Grenzen für die Zulässigkeit ihres Handelns überschritten haben. Zuvor wurde darauf hingewiesen, dass Gerichte bei ihren Entscheidungen Gesetze anwenden: Gerade im Hinblick auf rechtspolitische Entscheidungen ist somit die Diskussion um die Auslegung von Gesetzen – und somit die juristische Methodenlehre – angesprochen. Daher liegt es nahe, dass die Zulässigkeitsgrenzen für das rechtspolitische Handeln der Gerichte in der juristischen Methodenlehre zu finden sind.

Im Hinblick auf das demokratische Prinzip (Art. 1 B-VG) gibt die Verfassung Grenzen für die Auslegung von Gesetzen durch die Vollziehung vor; damit werden die Gerichte – als Vollziehungsbehörden – an das demokratisch legitimierte Gesetz gebunden. Allerdings können die verfassungsrechtlichen Grenzen der Gesetzesinterpretation je nach Rechtsbereich unterschiedlich ausgestaltet sein. So räumt die präkonstitutionelle Vorschrift des § 7 ABGB Gerichten im Bereich des Privatrechts großzügige Auslegungsmöglichkeiten ein: Sie haben sogar die Kompetenz zur Rechtsfortbildung – etwa durch Analogie und teleologische Reduktion; dazu werden sie von § 7 ABGB sogar explizit aufgefordert. Dies spricht dafür, dass im Privatrecht die Zulässigkeitsgrenze für rechtspolitische Entscheidungen der Gerichte im Verbot des Judizierens „contra legem“ liegt.

In anderen Rechtsbereichen hingegen setzt die Verfassung der Gesetzesinterpretation hingegen strengere Grenzen. So ordnet die Verfassung im Strafrecht mit Art. 7 MRK („nulla poena sine lege“) ein striktes Analogieverbot – zumindest zulasten des Angeklagten – an; dies gilt auch für das Verwaltungsstrafrecht. Ähnliches gilt im Verwaltungsrecht, wo die hM auf Basis des strengen Legalitätsprinzips des Art. 18 B-VG ein „faktisches Analogieverbot“ vertritt. In diesen Bereichen ist eine rechtspolitische Entscheidung jedenfalls unzulässig, wenn die methodischen Grenzen der Rechtsauslegung – also der „lex-lata-Grenze“ – überschritten wird.

Damit bewahrheitet sich die These Rüthers, dass Methodenfragen letztlich Verfassungsfragen sind. Zusammenfassend ergibt sich daraus, dass die Verfassung den Vollziehungsbehörden je nach anzuwendendem Rechtsgebiet unterschiedliche Grenzen für die Interpretation von Gesetzen setzt: Werden sie überschritten, ist eine rechtspolitische Entscheidung der Gerichte jedenfalls unzulässig.

Nutzen und Gefahr von rechtspolitischen Entscheidungen

Rechtspolitische Entscheidungen der Gerichte lassen sich nicht immer in die Kategorien von Schwarz und Weiß einteilen: Für die einen überwiegen die Vorteile, für die anderen die Nachteile. Eine funktionale Betrachtung lässt mE jedoch erkennen, was insgesamt Vor- und Nachteile der rechtspolitischen Aktivität von Gerichten sein können.

Aus staatsrechtlicher Sicht ist die Gesetzgebung zur Schaffung von schematischen Vorgaben von Konflikten – insb bei Grundrechtskollisionen – verpflichtet. Freilich müssen die Gesetze als generelle Normen ein hohes Maß an Abstraktion aufweisen, um eine Vielzahl an Fällen abzudecken. Manchmal hat der Gesetzgeber aber nicht alle relevanten Fallgruppen vor Augen; in anderen Situationen bedarf es einer Abwägung und Auslegung der gesetzlichen Vorgaben, um die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen. Dies ist die wesentliche – und wohl auch vornehmste – Aufgabe der Gerichte: Sie sind für die „Feinabstimmung“ der Gesetze im Einzelfall zuständig. Ergänzt eine rechtspolitische Entscheidung der Gerichte als Feinabstimmung die Absichten des Gesetzgebers, liegt darin ein großer Nutzen für das gesamte Rechtssystem.

Problematisch werden rechtspolitische Entscheidungen hingegen dann, wenn infolge eines starken „judicial activism“ die vom Gesetzgeber gezeichneten Vorgaben sehr extensiv interpretiert oder überhaupt verlassen werden; dafür brauchen nicht immer die Grenzen der Methodenlehre gesprengt werden. Diese Situationen sind aus verfassungsrechtlicher Perspektive heikel: Steht die Entscheidung eines – demokratisch idR nicht legitimierten – Vollziehungsorgans in einem Spannungsverhältnis zur Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, so ist dies im Hinblick auf das demokratische Prinzip und den Grundsatz der Gewaltenteilung bedenklich: Darin liegt die Gefahr rechtspolitischer Entscheidungen.

Arzthaftung als praktisches Beispiel

Die Beispiele für rechtspolitische Entscheidungen von Gerichten könnten meterlange Listen füllen. Die zuvor aufgestellten Thesen werden im Folgenden am eingänglichen Fall ärztlicher Aufklärungspflichten veranschaulicht; sie wurden in Österreich besonders im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik kontrovers diskutiert. Grundsätzlich gehen die Gerichte im Bereich der Arzthaftung von einer strengen Aufklärungspflicht für Ärzte im Rahmen der Behandlung aus. Dabei trifft den behandelnden Arzt die Beweislast dafür, dass er eine ausreichende Aufklärung des Patienten vorgenommen hat. Um in einem eventuellen Prozess vor Haftungsansprüchen gesichert zu sein, wappnen sich Ärzte regelmäßig mit umfangreichen Aufzeichnungen, in denen Aufklärungsgespräche dokumentiert werden; zusätzlich werden Patienten mit – für Laien schwer verständlichen – mehrseitigen Informationsblättern „aufgeklärt“.

An den Folgen dieser Rspr. zu ärztlichen Aufklärungspflichten wird deutlich, dass sie durchaus den rechtspolitischen Entscheidung von Gerichten zugerechnet werden kann. Wollen Ärzte ihre Haftung vermeiden, so sind sie gezwungen, umfassende Dokumentationen über ihre Aufklärungstätigkeiten zu verfassen; diese müssen zudem von den Verwaltungseinheiten des jeweiligen Krankenhauses verwaltet werden. Anstatt Zeit für die Betreuung von Patienten zu verwenden, müssen Ärzte – und insb die Krankenhausträger – Zeit dafür verwenden, sich vor potentiellen Haftungsansprüchen zu sichern. Patienten erhalten aufgrund dieser Rspr. häufig statt ärztlichem Beistand va Formblätter, deren Inhalt wenig greifbar ist. Freilich sollen durch diese strengen Aufklärungspflichten Patienten geschützt werden, die infolge zu geringer Aufklärung im Rahmen ihrer Behandlung erlitten haben: De facto beeinträchtigt die Angst der Ärzte vor Haftungsansprüchen unweigerlich das Arzt-Patienten-Verhältnis. Dies geht somit zum Nachteil all jener Patienten, die bei ihrer Behandlung keinen Schaden erleiden, aber angesichts der Vielzahl von potentiellen Risiken, über die sie aufgeklärt wurden, verunsichert zurück bleiben. Daher ist es zu begrüßen, dass es – zumindest im Bereich der Pränataldiagnostik – in jüngerer Zeit die Tendenz zu einer Reduktion des Haftungsmaßstabs für Ärzte gibt.

Diese Rsp ist ein Beispiel dafür, dass rechtspolitische Entscheidungen durchaus methodisch zulässig sein können. So kann die strenge Haftung für die Verletzung von Aufklärungspflichten durchaus aus den Regeln über die Haftung von Sachverständigen (§ 1299 ABGB) des altehrwürdigen ABGB aus 1811 abgeleitet werden; damit bleiben die zuvor aufgezeigten methodischen Grenzen gewahrt. Dennoch ist das Gefühl nicht zu verdrängen, dass diese Rsp zwar gewisse Probleme gelöst, dafür andere neue geschaffen hat.

Schlussfolgerungen

Rechtspolitik wird nicht nur im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren gemacht, sondern auch auf Ebene der Vollziehung: nämlich durch Entscheidungen der Gerichte. Erkennbar werden rechtspolitische Entscheidungen insbesondere aufgrund ihrer Folgen („Folgen-Argument“). Die Grenzen für die Zulässigkeit solcher Entscheidungen werden durch die juristische Methodenlehre gezogen: Werden die Grenzen der Interpretationsregeln überschritten, ist eine rechtspolitische Entscheidung jedenfalls unzulässig. Innerhalb dieser methodischen Grenzen ist eine rechtspolitische Entscheidung rechtlich zulässig; allerdings können ihre Folgen diskussionswürdig sein.

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