von VANESSA BLIECKE
Vergangenen Monat hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Möglichkeit bestätigt, die Nicht-Berücksichtigung einzelner Prüfungsleistungen aufgrund einer Behinderung wie z.B. Legasthenie sowie die Diagnose der Behinderung selbst auf dem Abiturzeugnis zu vermerken (1 BvR 2577/15). Diese Benachteiligung sei nicht nur verfassungsrechtlich gerechtfertigt, sondern unter Gesichtspunkten der Chancengleichheit und Transparenz sogar geboten (Rn. 58-112). Während die verfassungsrechtliche Aufbereitung des Urteils bereits andernorts geschehen ist (z.B. Lischewski, hier), beschränkt sich dieser Beitrag darauf, den Umgang des Urteils mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (BRK) zu analysieren und – so viel vorweg – scharf zu kritisieren.
Zunächst sollen jedoch zwei positive Punkte herausgestellt werden: Begrüßenswert ist, dass Legasthenie als Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne eingestuft wurde und dass das BVerfG seine Rechtsprechung zur Heranziehung der BRK bei der Auslegung des Grundgesetzes grundsätzlich bestätigt hat (Rn. 118). Sodann wird jedoch besorgniserregend knapp festgestellt, dass hier schon kein Verstoß gegen die BRK vorliegen könne, da es sich bei der Nichtbewertung von Leistungen lediglich um eine positive Maßnahme i.S.d. Art. 5(4) BRK handle, zu der es völkerrechtlich keine Verpflichtung gebe (Rn. 119). Die Argumentation des BVerfG ist unter drei Gesichtspunkten zu beanstanden: Sie legt ein veraltetes Verständnis von Behinderung zu Grunde, missinterpretiert das Recht auf inklusive Bildung und kann deshalb auch rechtsdogmatisch nicht überzeugen.
Veraltetes Verständnis von Behinderung
Das BVerfG hält an seinem etablierten Behinderungsbegriff fest und stellt lediglich auf einen regelwidrigen Zustand und die daraus resultierenden Einschränkungen für die eigenständige Lebensführung ab (s. 1. Leitsatz, Rn. 35-43). Die Behinderung wird damit als medizinischer Zustand begriffen, den es auszugleichen gilt. Kernelement des modernen menschenrechtlichen Behinderungsverständnisses, das auch der BRK zugrunde liegt, ist hingegen eine soziale Komponente: Nicht die individuelle Beeinträchtigung, sondern eine unzulänglich inklusive Gesellschaft sind Grund dafür, dass die Personen in der Ausübung ihrer Rechte und ihrer individuellen Lebensführung eingeschränkt werden. Diese unterschiedlichen Behinderungskonzeptionen sind nicht rein-theoretischer Natur, sondern wirken sich materiell-rechtlich auf den Gewährleistungsgehalt sämtlicher Rechte der BRK aus. Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung (der Ausschuss) hat mehrfach betont, dass die Zugrundelegung eines medizinischen Verständnisses die effektive Umsetzung der BRK erschwert (siehe z.B. Allgemeine Bemerkung Nr. 6, Rn. 8).
Es wäre eine erfreuliche Überraschung gewesen, wenn das BVerfG das Urteil genutzt hätte, um diese soziale Komponente hervorzuheben und das eigene Behinderungsverständnis entsprechend zu modifizieren. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass Deutschland erst kürzlich erneut von dem Ausschuss dafür gerügt wurde, dass es verbreitet ein medizinisches Behinderungsverständnis anwendet (Rn. 5). Raum hätte es in dem Urteil dafür zu Genüge gegeben, denn gerade das Verständnis von inklusiver Bildung im Sinne der BRK basiert fundamental auf einem menschenrechtlichen Verständnis von Behinderung.
Inklusive Bildung vs. Integrative Bildung
Das Urteil erkennt zutreffend, dass Art. 24 ein Recht auf Bildung „ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit““ gewährt (Rn. 119), ohne allerdings das Erfordernis der Inklusivität zu erwähnen. Dieses Versäumnis ist sicherlich schon in der (rechtlich nicht verbindlichen) Deutschen Übersetzung der Konvention begründet, die von „integrativer Bildung“, statt „inklusiver Bildung“ spricht. Der Ausschuss unterscheidet jedoch klar zwischen integrativer Bildung, die nicht den Anforderungen von Art. 24 BRK genügt, und inklusiver Bildung, die zur Umsetzung von Art. 24 BRK (wenn auch unter dem Vorbehalt der progressive realization) etabliert werden muss. Integrative Bildung zeichnet sich dadurch aus, dass Schüler*innen mit Behinderung in den Regelunterricht unter der Voraussetzung integriert werden, dass sie sich (ggf. durch zusätzliche Fördermaßnahmen) an die Regelerwartungen anpassen. Inklusive Bildung hingegen fordert einen systemischen Reformprozess, der Veränderungen und Anpassungen von Inhalten, Lehrmethoden, Ansätzen, Strukturen und Strategien im Bildungswesen umfasst (Allgemeine Bemerkung Nr. 4, Rn. 11).
Die unsaubere Übersetzung der Konvention, für die Deutschland ebenfalls kürzlich gerügt wurde (Rn. 17(b)), liefert damit den Ausgangspunkt für ein fehlgeleitetes Verständnis von inklusiver Bildung, das sich in dem Urteil deutlich wiederspiegelt. So heißt zum Beispiel: „Eine rechtliche Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung ist nur dann zu rechtfertigen, wenn es nicht möglich oder zumutbar ist, die Benachteiligung durch auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahmen und Assistenzsysteme zu beseitigen“ (Rn. 95). Das BVerfG fokussiert sich also maßgeblich auf die individuelle Beeinträchtigung und ob und wie diese ausgeglichen werden kann, um den genormten Anforderungen zu entsprechen. Dies spiegelt ein medizinisches Verständnis von Behinderung und ein integratives Konzept von Bildung wider, dass die Notwendigkeit der Anpassung des Systems und der Anforderungen selbst verkennt.
Dogmatisches Argument
Vor genau diesem Hintergrund kann das rechtsdogmatische Argument, es würde sich bei der Nichtberücksichtigung von Prüfungsleistungen lediglich um eine freiwillige positive Leistung nach Art. 5(4) BRK handeln, nicht überzeugen oder hätte jedenfalls einen erhöhten Begründungsaufwand erfordert. Denn freiwillige positive Maßnahmen sind gerade keine Maßnahmen, die vom substantiellen Gewährleistungsgehalt einzelner Rechte erfasst werden. Sinn und Zweck der Konvention ist es nämlich, die universellen Menschenrechte behinderungsspezifisch zu konkretisieren und zu modifizieren. Die im Urteil zutreffend erkannten geforderten „angemessenen Vorkehrungen“ (Art. 5(3) i.V.m. Art 2(4) BRK, Rn. 119) sind deshalb weitreichend durch spezielle Rechte der BRK konkretisiert. Ein Verweis auf Art. 5(4) BRK allein ist deshalb insofern nicht zielführend, als dass der Artikel selbst keine Aussage darüber trifft, welche positiven Maßnahmen rechtlich verpflichtend sind. Er stellt lediglich fest, dass Maßnahmen, durch die Menschen mit Behinderung faktisch bevorzugt werden, keine Diskriminierung im Sinne der Konvention darstellen. Stattdessen wäre eine intensive Auseinandersetzung mit Art. 24 BRK erforderlich gewesen, um feststellen zu können, ob es sich bei der Nichtberücksichtigung von Leistungen um eine positive Maßnahmen handelt, die zur Gewährleistung von inklusiver Bildung notwendig und damit auch völkerrechtlich geboten ist. Das BVerfG stellt jedoch lediglich knapp unter Verweis auf einschlägige Literatur fest, es sei anerkannt, dass nur die „Herstellung prüfungsrechtlicher Chancengleichheit“ eine solche „angemessene Vorkehrung“ darstellen würde, nicht jedoch die „Modifikation der allgemeinen Leistungsanforderungen“ (Rn. 119). Dies steht im eindeutigen Kontrast zum Verständnis von inklusiver Bildung durch den Ausschuss, der strukturelle Maßnahmen und vor allem gerade Anpassungen am Curriculum selbst für die Umsetzung von Art. 24 BRK fordert. Legt man dieses Verständnis von inklusiver Bildung zu Grunde, spricht einiges dafür, die Nichtberücksichtigung von Prüfungsleistungen nicht als freiwillige positive Maßnahme einzustufen, sondern als vom Gewährleistungsbereich von Art. 24 BRK direkt erfasst und damit völkerrechtlich auch geboten.
Nun sind die Ausführungen des Ausschusses freilich völkerrechtlich nicht bindend und das BVerfG ist davon durchaus schon mehrfach abgewichen (z.B. BVerfGE 151, 1, Rn. 65, 77). In der Vergangenheit hat das BVerfG ein solches Abweichen jedoch begründet und festgestellt, dass dem Ausschuss bei der Auslegung „erhebliches Gewicht“ zukomme und sich nationale Gerichte deshalb mit dessen Auffassungen „in gutem Glauben argumentativ auseinandersetzen“ sollten (BVerfGE 142, 313, Rn. 90). Es ist deshalb schlicht unverständlich, warum diesmal von einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Verständnis der inklusiven Bildung des Ausschusses abgesehen wurde. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit hätte es jedenfalls geboten, sich in aller Genauigkeit mit dem Gewährleistungsgehalt von Art. 24 BRK zu beschäftigen.
Fazit
Die Auseinandersetzung des Urteils mit der BRK fällt stark unzulänglich aus und erweckt regelrecht den Eindruck des „Abfrühstückens“. Meine an anderer Stelle gewagte Hoffnung, das BVerfG würde sich in naher Zukunft zum menschenrechtsbasierten Behinderungsbegriff und zum damit korrespondierenden Verständnis von inklusiver Bildung bekennen, hat damit einen schallenden Dämpfer erhalten. Deutschland setzt damit seinen Trend fort, den Ausführungen des Ausschusses vor allem im Bildungsbereich nicht zu folgen und läuft damit Gefahr, bei der Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der BRK zu scheitern.
Zitiervorschlag: Bliecke, Vanessa, Zum Umgang des BVerfG mit der Behindertenrechtskonvention im Urteil „Zeugnisbemerkungen“, JuWissBlog Nr. 69/2023 v. 07.12.2023, https://www.juwiss.de/69-2023/.
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