von ALEXANDER STARK
Die rechtswissenschaftliche Aus- und Vorbildung schärft den Blick nahezu ausschließlich für das rechtlich Relevante, für das kognitive Durchlaufen und Abspulen der einprogrammierten Prüfungspunkte, kurz: für die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme und des rechtlich Möglichen unter Zuhilfenahme der über- und vermittelten dogmatischen Figuren. Theorien und Modelle, die nicht dem juristischen Kontext entspringen, also nicht den juristischen Denkstrukturen verhaftet sind, forcieren andere Gesichtspunkte, verwenden von den Rechtsarbeitern nicht bedachte Erklärungsmuster und können einem auch bereits juristisch bearbeiteten Untersuchungsgegenstand eine andere, nicht-juristische Lesbarkeit abgewinnen und zuschreiben. Die Rezeption ebensolcher Theorien durch die Rechtswissenschaft(en) birgt das Potenzial, bisher nicht berücksichtigte, auch für den binnenjuristischen Wissenschaftsdiskurs anschlussfähige Deutungen zu entdecken. Dass nachbarwissenschaftlichen Erkenntnissen irritierendes Potenzial innewohnt, ist daher zu Recht ein Gemeinplatz. Konsequenterweise hallt durch alle Gassen der Ruf nach Interdisziplinarität.
Dem Ruf folgten erfreulicherweise auch Michael Wrase und Christian Boulanger. Sie haben vergangenes Jahr den 13 Beiträge umfassenden Band „Die Politik des Verfassungsrechts. Interdisziplinäre und vergleichende Perspektiven auf die Rolle und Funktion von Verfassungsgerichten“ herausgegeben. Die Beiträge untersuchen die Funktionen und internen Entscheidungsprozesse von Verfassungsgerichten – jeweils durch die je eigene disziplinäre Brille blickend. Die Herausgeber erhoffen sich zweierlei: Die Beiträge sollen – erstens – die internen Entscheidungsprozesse von Verfassungsgerichten verdeutlichen und verstehen helfen. Zudem soll die interdisziplinäre Beleuchtung (der Entscheidungspraxis) von Verfassungsgerichten – zweitens – fruchtbringend für die juristische Methodenlehre sein. Dass Letzteres richtig ist bzw. sein kann, wird hier nicht bezweifelt, ob die Explikation aber auch gelingt (bzw. überhaupt zufriedenstellend gelingen kann), bleibt abzuwarten.
Rechtswissenschaft ist Entscheidungswissenschaft. Bei der Rezeption nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse geht es – nicht ausschließlich, aber im Kern – darum, diese an den juristischen Entscheidungskontext durch rechtliche Brücken anzudocken. Anders formuliert: Die bloße Perspektivenerweiterung genügt nicht, die durch interdisziplinäre Forschung gewonnenen Erkenntnisse müssen vielmehr auch innerhalb des binnenjuristischen Diskurses anschlussfähig sein. Die Rechtsarbeiter hantieren nur mit dem rechtlich Relevanten, das Nichtrechtliche muss in die Sprache des Rechts übersetzt werden. So verbreitet diese Erkenntnis doch (mittlerweile) ist, so selten sind konkrete Umsetzungsversuche. Den Versuch unternommen zu haben, diesen Mangel zu verringern, ist ein Verdienst des vorliegenden Bandes.
Obschon die Kapazitäten des Internets unbegrenzt sind, der sprichwörtliche „Rahmen“ mit einer Darstellung aller 13 Beiträge also nicht „gesprengt“ wäre, wird im Folgenden lediglich der Beitrag von Michael Wrase untersucht (S. 21ff.). Titel: „Verfassungsgerichtsforschung auf der Schnittstelle zwischen Rechts- und Politikwissenschaften – Überlegungen am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts“. Worum geht’s? Um Überlegungen zur Verfasstheit theoretischer Modelle, die geeignet sein sollen, die normativ-rechtliche mit der empirischen Perspektive zu verbinden. Exemplifiziert wird die Verschleifung dieser beiden Perspektiven im Kontext der Verfassungsgerichtsforschung, namentlich der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts.
Das Bundesverfassungsgericht ist eine Institution. Eine Institution ist „eine Struktur aus Organisation, Normen und Praxis, die durch symbolische Formen, Leitideen und normative Diskurse geprägt ist, diese aber […] durch die Praktiken der handelnden Akteure ständig reproduziert, hervorbringt und verändert“ (S. 30). Dieser institutionelle Rahmen ist zu berücksichtigen, will man die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verstehen: Es gibt nicht die Bedeutung von Normen und würde es sie geben, man fände sie nicht in den Normen. Die Sinngebung endet nicht beim Wortlaut einer Norm. Sinngebung ist nicht invariant, vielmehr kontextabhängig. Genauer, in den Worten Wrases: „Eine juristische Deutung oder Konkretisierung von Verfassungsnormen ist danach eine spezifische Form der Sinngebung, die in einen historisch geprägten institutionellen und diskursiven Zusammenhang eingebettet ist und sich in ihrer symbolischen Form auf den Verfassungstext bezieht, zugleich aber das Akteurshandeln expliziert und steuert“ (S. 27). Verfassungsgerichtsforschung muss folglich notwendigerweise das tatsächliche Handeln der Akteure im politisch-sozialen Kontext, insoweit also die empirische Perspektive berücksichtigen. Das theoretische Gerüst hierfür findet Wrase in (neo-)institutionalistischen Ansätzen.
Fruchtbarer Anknüpfungspunkt für theoretische Modelle zur Analyse der Verfassungsgerichtsforschung ist der professionelle – bourdieusche – Habitus. Die Richterinnen und Richter sind durch die eingangs erwähnte „rechtswissenschaftliche Aus- und Vorbildung“ professionell sozialisiert (worden). In Verbindung mit einer weitestgehend geteilten professionellen Überzeugung der Rationalität des eigenen Vorgehens entsteht eine „Kohäsion des praktischen Handelns und Denkens der Akteure“ (S. 29). Beeinflusst nunmehr diese Kohäsion flächendeckend die Handlungslogiken der Richterinnen und Richter, so entsteht, so Wrase in Anlehnung an Bourdieu, ein hierdurch abgegrenztes, relativ autonomes juristisches Feld. Das vorliegend Entscheidende ist die Relativität der Autonomie – sie ist das Eingangstor für die Politikwissenschaft. Sie ergibt sich u.a. aus der politischen Wirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sowie dem sozialen Lebensbereich, der einer Entscheidung zugrunde liegt. Eine gerichtliche Entscheidung im Rundfunkrecht, beispielsweise, wird zwar primär anhand der (verfassungs-)rechtlichen Vorgaben vorgenommen, die tatsächlichen Umstände des Rundfunks sowie dessen gesellschaftspolitische Bedeutung etc. haben aber selbstverständlich Einfluss auf die Entscheidung.
Die Bedeutung der Autonomie des juristischen Feldes zeigt sich v.a. bei der (intendierten) Wirkung von Entscheidungen. Wirkung ist eine Form der Interaktion des juristischen Feldes mit anderen, nicht-juristischen Feldern. Die Anerkennung und Implementation von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts setzt voraus, dass die anderen – v.a. politischen – Akteure das Bundesverfassungsgericht, genauer: „seine Rolle und Funktion innerhalb des Verfassungsgefüges“ respektieren und achten. Und das wiederum ist v.a. dann der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht seinem Habitus entsprechend handelt, also rechtlich entscheidet und insoweit die „Autonomie des rechtlichen Handelns, insbesondere gegenüber der Politik und ihren Handlungslogiken begründen kann“ (S. 31). Die Notwendigkeit, die (relative) Autonomie des juristischen Feldes zu wahren, zeigt, dass gerade nicht (partei-)politisch argumentiert werden kann; das politisch argumentierende Gericht kann nicht juristisch überzeugen. Die Reaktionen auf politische bzw. politiknahe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dokumentieren diesen Zusammenhang von Habitus und Überzeugungskraft bestens. Gesellschaftspolitische Überzeugungen haben jedoch über die bereits beschriebenen Eingangstore durchaus mittelbaren Einfluss auf die Entscheidung. Spannend wird die Berücksichtigung des Habitus-Akzeptanz-Zusammenhanges v.a. auch dann, wenn das Bundesverfassungsgericht zur eigenen Kontrolldichte Stellung bezieht („institutionelle Selbstpositionierung“). Hier gilt es, in überzeugender, d.h. heißt rechtlich argumentierender Weise den Balanceakt zwischen verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte und gesetzgeberischem Entscheidungsspielraum zu wahren. Ein weiteres Beispiel Wrases zur Verdeutlichung seines Anliegens ist die Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts; hier könne man „analysieren, wie durch verfassungsgerichtliche Rechtsprechung grundlegende gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen über das Verhältnis von Religion, kultureller Vielfalt und gesellschaftliche (sic!) Integration anhand eines gesellschaftlichen Konflikts in judizielle Governance übersetzt werden“ (S. 32f.). Wie genau die genannte Übersetzung erfolgt, bleibt offen.
Offen bleibt leider auch, wie bei Wrase das zweite, im Vorwort angestrebte Anliegen – die juristische Methodenlehre zu bereichern – in concreto umgesetzt werden soll. Die Einsicht, dass Deutungen der Richterinnen und Richter eben nicht nur auf einem vorgeprägten Norm- und Rechtsverständnis beruhen, sondern zumindest auch auf die politischen und sozialen Wirkungen, die Rolle und Funktion ihrer jeweiligen Institution u.v.m. zurückzuführen sind, kann hiermit kaum gemeint sein. Auch den – in der Sache instruktiven – Ausführungen zur Rolle parteipolitischer bzw. gesellschaftspolitischer Überzeugungen im Kontext der Entscheidungsfindung kann keine Bereicherung der juristischen Methodenlehre entnommen werden. Zugestandenermaßen ist ein Beitrag in einem Sammelband nicht das passende Publikationsformat, dieser Frage ausgiebig nachzugehen. Eine zumindest kursorische Thematisierung der Problematik, wie die anhand des institutionellen Ansatzes gewonnenen Erkenntnisse die juristische Methodenlehre – oder auch die Rechtsdogmatik – bereichern können, wäre aber wünschenswert gewesen; v.a. in Anbetracht der Andeutungen im Vorwort. Weder Wrase noch die weiteren Autoren thematisieren (explizit) den Ertrag für die juristische Methodenlehre. Der Beitrag ist jedoch in zweierlei Hinsicht erfreulich. Erstens: Die rechtswissenschaftliche Rezeption der Arbeiten Bourdieus. Die Soziologie Bourdieus ist der Rechtswissenschaft noch verhältnismäßig fremd; dass Bourdieu den Juristinnen und Juristen aber viel zu sagen hat, zeigt Wrase. Zweitens: Die erhellende Betonung der Bedeutung des institutionellen setting für die Analyse und das Verständnis von Gerichtsentscheidungen. Ebendies gilt es weiterhin zu untersuchen, will man das irrationale Moment der Rechtsverwirklichung in rationales Licht rücken.
Alexander Stark ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Umweltrecht und Rechtsphilosophie an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg (Prof. Dr. Ivo Appel).
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Vielen Dank für die Besprechung. Der Volltext der Einleitung ist hier veröffentlicht:
https://www.researchgate.net/publication/259196292