Kein Regenbogen über Budapest – Die Rechte der LGBT-Gemeinschaft in Ungarn im Lichte der neuen Gesetzgebung

Von MARK VARSZEGI

Die ungarische Legislative verabschiedete am 15.06.2021 ein Gesetz, welches europaweit heftigen Protest auslöste und sogar der Fußball-Europameisterschaft seinen Stempel aufdrückte. Kritiker sprechen von einer offenen Diskriminierung homosexueller und transsexueller Menschen, während Viktor Orbáns Fidesz sich schlicht auf den Schutz von Minderjährigen beruft und eine europaweite Kampagne zur Verleumdung Ungarns zu erkennen wähnt. Grund genug, einen Sprung über die Sprachbarriere zu wagen und kurz den ungarischen Originaltext unter die Lupe zu nehmen.

Stadien in LGBT-Farben und Proteste in der Politik – berechtigte Kritik oder Ergebnis einer Desinformation?

Viktor Orbán, ehemaliger Fußballspieler und bis heute bekennender Fan des Sports, blieb dem wichtigen EM-Spiel zwischen Ungarn und Deutschland am 23.06.2021 in München fern. Vieles spricht dafür, dass das Bild, welches den Abend prägte, nicht nach seinem Gusto gewesen wäre. Der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft setzte mit seiner bunten Armbinde ein Zeichen gegen Homophobie, und zahlreiche Fans brachten mit Worten und mit Flaggen ihre Sympathie für die LGBT-Gemeinschaft zum Ausdruck – all dies als Protest gegen das neue ungarische Gesetzespaket, welches nicht nur LGBT-Personen, sondern auch zahlreiche Spitzenpolitiker in ganz Europa schockierte.

Ungarns Staatspräsident János Áder ließ sich weder von der europaweiten Kritik noch von Demonstrationen in Ungarn beeindrucken und gab mit seiner Unterschrift grünes Licht für den Gesetzesentwurf. Außenminister Péter Szíjjártó wiederum sprach in Luxemburg von einem „globalen Fake News-Feldzug“ und riet den europäischen Politikern und Journalisten dazu, den Gesetzesentwurf zu studieren, bevor sie sich eine Meinung bildeten. Dem Rat des Ministers soll hier gefolgt und die am stärksten umstrittenen Punkte des Entwurfs dem deutschsprachigen Leser vorgestellt werden.

Pädophile, Homosexuelle und Transsexuelle als „Gefährdung“ für die Jugend

Der Entwurf ändert zahlreiche Gesetze aus verschiedensten, miteinander kaum verbundenen Rechtsgebieten. Der Titel lässt allerdings den Zusammenhang zwischen ihnen erkennen: Gesetz über das strengere Auftreten gegenüber pädophilen Straftätern sowie über die Änderung bestimmter Gesetze im Interesse des Schutzes von Kindern.

Im Einklang mit dem Titel dreht sich der weit überwiegende Teil des Entwurfs um Bestimmungen, die Kinder und Jugendliche vor Sexualstraftätern schützen und derartige Straftaten zurückdrängen sollen. Neben Verschärfungen des Strafgesetzbuches (§§ 14-21) finden sich z.B. Bestimmungen über den Schutz von Minderjährigen gegen sexuelle und gewalttätige Inhalte im Internet (§ 2), über die Aufnahme von Informationen über einschlägig verurteilte Straftäter in Datenbanken (§§ 4-8), sowie über für diesen Personenkreis einzuführende Berufsverbote (§§ 12-13, 18). Diese ausgesprochen repressiven Vorschriften (die z.B. kein Wort über Therapieangebote für Personen mit pädophilen Neigungen verlieren), stellen eine kriminalpolitische Entscheidung dar, über welche man geteilter Meinung sein kann – sie stellen auf jeden Fall die konsequente Umsetzung einer Law & Order-Politik dar, einem der wichtigsten Grundsätze des 2010 verabschiedeten Regierungsprogramms.

Weniger Raum für geteilte Meinungen bieten hingegen zwei Bestimmungen, die offenbar das Ziel verfolgen, das sexuelle Identitätsgefühl von Minderjährigen vor vermeintlichen Übergriffen zu schützen. Gerade diese Bestimmungen sind es, die den Protest ausgelöst haben. Als erstes fügt Punkt 1. des Entwurfs § 1. des Gesetzes über den Schutz von Kindern und über die Verwaltung in Vormundschaftssachen einen neuen Abs. (3) hinzu, der besagt:

(3) Im System des Kinderschutzes schützt der Staat das Recht der Kinder auf eine Identität, die ihrem jeweiligen angeborenen Geschlecht entspricht.

Zweitens fasst Punkt 6. des Entwurfs den neuen Wortlaut von § 1. Abs. (1) und (2) des Gesetzes über den Schutz der Familien wie folgt neu:

(1) Der Staat schützt – auch wegen der in ihnen selbst zum Ausdruck kommenden Würde und ihres Wertes – die Institutionen der Familie und der Ehe, mit besonderem Hinblick auf das die Grundlage der familiären Verbindung bildende Verhältnis zwischen den Elternteilen und dem Kind, in welchen die Mutter eine Frau und der Vater ein Mann ist.

(2) Der Schutz der geordneten Familienverhältnisse, sowie das Gedeihen des Rechtes der Kinder auf eine Identität, die ihrem jeweiligen angeborenen Geschlecht entspricht, haben eine hervorgehobene Bedeutung für die Bewahrung der körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheit.

LGBT-Propaganda seitens der „Feinde der Nation“

Die Bezugnahme auf ein „Recht“ des Kindes auf eine (offensichtlich sexuelle) „Identität“, welche dem „angeborenen“ (d.h. biologischen) Geschlecht des Kindes entspricht, ist die wohl am meisten Aufsehen erregende und kritisierte Bestimmung des Gesetzesentwurfs. Die heterosexuelle oder die dem biologischen Geschlecht entsprechende (sprich: nicht transsexuelle) Identität, welche der Mehrheit der Menschen eigen ist, ist kein „Recht“, auf welches ein irgendwie gearteter „Anspruch“ bestehen kann. Vielmehr ist die sexuelle Identität eines jeden Menschen Teil seines innersten und unveränderbaren Wesenskerns und damit seiner Eigenschaft als Mensch.

Erkennbar wird die Absicht des Gesetzgebers, wenn man die zitierte Bezugnahme auf die „körperliche, geistige und seelische Gesundheit“ im Hinterkopf behält und zudem einen Blick in die Begründung wirft. Diese spricht in ihrem allgemeinen Teil über eine angeborene und vermeintlich „unveränderbare“ Identität des Kindes, verliert aber kein Wort darüber, dass diese nicht zwingend der heterosexuellen „Norm“ der Mehrheitsgesellschaft entspricht. Im selben Atemzug ist von „empörenden und inakzeptablen Vorkommnissen der letzten Zeit“ die Rede, welche den Gesetzgeber dazu bewogen haben sollen, den Schutz der Kinder zu stärken.

Diese Bezugnahme auf vermeintlich „empörende und inakzeptable“ Vorkommnisse wirft Licht auf die Beweggründe der Regierung, stellten doch in der letzten Zeit mehrere Politiker und dem Fidesz nahe stehende Medien Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen, die mit ihrer Aufklärungsarbeit (im Fidesz-Jargon: „Propaganda“) Minderjährigen angeblich LGBT-Lebensentwürfe „schmackhaft machen“ wollten, als Bedrohung für die „gesunde“ ungarische Nation dar. Es ist offensichtlich, dass durch die Änderung der Gesetze zum Schutz der Kinder bzw. der Familien derartigen Tätigkeiten (z.B. in Schulen oder direkt bei den Organisationen) seitens des Staates ein Riegel vorgeschoben werden soll.

Diese Inhalte benachteiligen die LGBT-Gemeinschaft nicht nur durch symbolische Bestimmungen, sondern erschweren auch ihre Aufklärungstätigkeit. Daneben wirkt es auch demütigend für LGBT-Menschen, dass die vermeintliche „Gefahr“, die von ihnen ausgeht, durch Gesetze gebannt werden soll, die in demselben Gesetzesentwurf enthalten sind, der auch die Strafen für schwere Sexualstraftaten gegen Kinder regelt. Dieses Vermengen von LGBT-Menschen mit Kinderschändern ist ein altes, in homophoben Kreisen verbreitetes Klischee.

Sollte das Gesetz in Kraft treten, würde es der langen LGBT-feindlichen Kampagne in Ungarn eine schändliche Krone aufsetzen. Dabei geht es an der Realität vorbei: Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Ungarn keine Vorurteile gegenüber LGBT-Menschen hegt und diese nicht mit Kinderschändern vergleicht. Somit dient der Gesetzesentwurf lediglich dem Ziel, Fidesz-Anhänger zu radikalisieren und die ungarische Gesellschaft noch weiter zu spalten. In Kenntnis dieser Tatsachen sollte die Aussage des niederländischen Premiers Rutte, derzufolge Ungarn nichts mehr in der EU zu suchen habe, ein wenig präzisiert werden: das Ungarische Volk gehört zu Europa. Orbán nicht.

 

Zitiervorschlag: Mark Varszegi, Kein Regenbogen über Budapest – Die Rechte der LGBT-Gemeinschaft in Ungarn im Lichte der neuen Gesetzgebung, JuWissBlog Nr. 74/2021 v. 5.7.2021, https://www.juwiss.de/74-2021/

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