von STEPHAN KLENNER
Am 28. Oktober stimmen die Hessen parallel zur Landtagswahl über 15 Verfassungsänderungen ab. Die älteste Landesverfassung Deutschlands soll an die Realität des 21. Jahrhunderts angepasst werden – dies gelingt nur unvollständig.
Geht es nach dem Hessischen Landtag, wird am 28. Oktober ein peinliches Kuriosum beendet: Die Todesstrafe soll endlich aus der Hessischen Verfassung verschwinden. Bislang regelt Art. 21 Abs. 1 S. 2 HV, dass „bei besonderes schweren Verbrechen (…) zum Tode verurteilt werden“ könne. Die Norm ist durch Art. 102 GG seit 1949 aufgehoben. Trotzdem hat sie im Verfassungstext immer noch Bestand. Ein Grund dafür dürfte sein, dass jede Verfassungsänderung in Hessen gemäß Art. 123 Abs. 2 HV der Zustimmung durch eine Volksabstimmung bedarf. Das Risiko, etliche Stimmberechtigte könnten sich der Streichung der Todesstrafe verweigern, erschien offenbar lange Zeit als zu hoch. Es ist sehr zu begrüßen, dass der Hessische Landtag jetzt endlich den Mut findet, eine Änderung der Norm vorzuschlagen.
Weitere Relikte im Verfassungstext
Die Todesstrafe ist allerdings nicht der einzige Punkt, an dem die grundgesetzliche Realität den Text der Landesverfassung längst überholt hat. Folgende Normen sind ebenso reformbedürftig, wurden aber bei den 15 Änderungsvorschlägen, die zur Abstimmung stehen, nicht berücksichtigt:
- Art. 23 HV erlaubt, Kranke in eine Anstalt einzuweisen, sofern sie ihre Mitmenschen gefährden. Die Norm ignoriert den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG.
- Art. 29 Abs. 1 HV verlangt ein einheitliches Arbeitsrecht für alle Angestellten, Arbeiter und Beamten. Ein solches Einheitsrecht verstieße gegen die Garantie der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums durch Bundesverfassungsrecht (Art. 33 Abs. 5 GG).
- Art. 29 Abs. 5 HV verbietet ausnahmslos die Aussperrung. Das Bundesarbeitsgericht entschied bereits 1980, dass diese Norm unvereinbar mit dem Bundestarifrecht ist. Das Bundesverfassungsgericht betrachtet zumindest Aussperrungen mit suspendierender Wirkung als Bestandteil der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG.
- Art. 35 HV ordnet an, dass eine für das gesamte Volk verbindende Sozialversicherung zu schaffen sei. Dies ist bedeutungslos, da das Recht der Sozialversicherung gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegt und der Bundesgesetzgeber die klassischen Sozialversicherungszweige (Rente, Krankheit, Unfall, Pflege) abschließend geregelt hat. Schon aufgrund der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den Bundesländern ist nicht zu erwarten, dass sich der Bund aus diesem Regelungsbereich zurückzieht.
- Gemäß Art. 39 Abs. 2 HV ist Vermögen, das die Gefahr eines Missbrauchs wirtschaftlicher Freiheit in sich birgt, in Gemeineigentum zu überführen. Diese Anordnung widerspricht Art. 15 GG, der solche Vergesellschaftlichungen auf bestimmte sozialisierungsfähige Gegenstände beschränkt, nur optional vorsieht und eine Entschädigung verlangt.
- Art. 41 Abs. 1 Nr. 1 HV regelt, dass der Bergbau, die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Energiewirtschaft und das Verkehrswesen in Gemeineigentum überführt werden. Nach der Rechtsprechung des Hessischen Staatsgerichtshofs (StAnz 1952, S. 516 ff.) wurde mit Inkrafttreten der Verfassung den bisherigen Rechtsträgern das Eigentum entzogen. Dennoch waren die praktischen Auswirkungen gering: Nach heftigem Streit um den Wortlaut der Norm und einer politischen Posse um die erforderlichen Ausführungsgesetze im Landtag sorgte Ministerpräsident Georg August Zinn (SPD) mit seinem „produktiven Sozialismus auf pragmatischer Grundlage“ dafür, dass kaum Betriebe betroffen waren. Heute hat die Verfassungsnorm jegliche Bedeutung verloren.
- Art. 42 HV sieht eine Bodenreform mit Entziehung des Großgrundbesitzes vor. Streubesitz soll durch Umlegung leistungsfähiger gemacht und Grundbesitz, der nicht ordnungsgemäß bewirtschaftet wird, in der Regel entschädigungslos entzogen werden. In der Praxis beschränkte sich die Bodenreform auf freiwillige Landabgaben. Die Regelung zum Streubesitz ist aufgrund von Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG gegenstandslos, die Bestimmung zur entschädigungslosen Enteignung widerspricht Art. 14 Abs. 3 GG.
- Art. 101 Abs. 3 HV verbietet Angehörigen der Häuser, die bis 1918 in Deutschland oder einem anderen Land regiert haben oder regieren, Mitglied der Landesregierung zu werden. Dies verstößt gegen Art. 28 GG, da aufgrund des Demokratieprinzips der Staat seine Ämter keinem Bürger wegen dessen familiärer Herkunft verwehren darf. 1994 wurde Rupert von Plottnitz (Bündnis 90/Die Grünen), Sohn eines preußischen Adoptivprinzen, unproblematisch hessischer Landesminister.
Verfassungsreform dringend geboten
All diese Normen machen deutlich, dass Hessen dringend einer großen Verfassungsreform bedarf. Dem kann nicht entgegengehalten werden, die Vorschriften kämen wegen des Vorrangs des Bundesrechts (Art. 31 GG) ohnehin nicht zur Anwendung. Eine Verfassung, die über einen längeren Zeitraum obsolete Vorschriften konserviert, kann ihre Funktion als Garant des gesellschaftlichen Grundkonsenses nicht erfüllen.
In der Vergangenheit gab es bereits mehrere Versuche, die überkommenen Bestimmungen zu reformieren. Bereits 1970 brachte die FDP-Landtagsfraktion einen Antrag zur Verfassungsreform ein, zog ihn aber wieder zurück, als sich keine Mehrheit dafür abzeichnete. Zwanzig Jahre später sprach sich der Landtag dafür aus, zu Beginn der 1991 beginnenden Wahlperiode eine Enquetekommission zur Verfassungsreform einzusetzen, was allerdings nicht erfolgte. Erst im Jahr 2003 bestellte das Parlament auf Initiative der Grünen eine solche Enquetekommission, die für etliche der angesprochenen Normen überzeugende Neuformulierungen erarbeitete. Leider kamen diese nie zur Umsetzung: Die damalige SPD-Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti fürchtete um die „Substanz der Verfassung“ und meinte, die Öffentlichkeit sei zu wenig beteiligt worden. Während der Kommissionsarbeit kam es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen der Fraktionen. Der Abschlussbericht wurde von CDU, Grünen und FDP beschlossen, während die SPD die Teilnahme an der Abstimmung verweigerte. Die Fraktionen verfolgten die Reformvorschläge letztlich nicht weiter, da sie keine Volksabstimmung gegen den Willen der Sozialdemokraten veranlassen wollten. Dabei blieb es auch nach einem denkwürdigen Festakt zum 60. Jubiläum der Verfassung, bei dem Bundespräsident Horst Köhler in fast unpräsidialer Deutlichkeit eine Verfassungsreform anmahnte.
Die damaligen Erfahrungen prägten die Arbeit der Ende 2015 eingesetzten Enquetekommission, die jene 15 Änderungsvorschläge des Verfassungstexts erarbeitet hat, die den Hessen nun zur Abstimmung vorliegen. Der unbedingte Konsenswille war so groß, dass man sich darauf verständigte, mit Ausnahme der Todesstrafe alle überkommenen Bestimmungen unberührt zu lassen. Stattdessen ersann die Kommission neue Staatszielbestimmungen, die zwar juristisch umstritten sind, in denen sich aber jede politische Richtung irgendwie wiederfinden kann.
Die Vorschläge zur anstehenden Verfassungsabstimmung sind ein Zeugnis der Halbherzigkeit. Besser wäre gewesen, die Normen umfassend zu reformieren. Sollte sich eine große Reform als zu komplex für eine Volksabstimmung erweisen, ist zu erwägen, Verfassungsänderungen wie in anderen Bundesländern künftig mittels Zweidrittelmehrheit des Landtags zuzulassen. Dies hat bereits die 2003 eingesetzte Enquetekommission vorgeschlagen. Die jetzigen Abgeordneten übernahmen den Vorschlag leider nicht. Dabei könnte dies der Weg sein, die notwendigen Verfassungsänderungen in Hessen endlich zu realisieren.
Zitiervorschlag: Klenner, Hessische Halbherzigkeit, JuWissBlog Nr. 76/2018 v. 4.9.2018, https://www.juwiss.de/76-2018/
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