Von JAN KEESEN und JACOB ULRICH
Hessen betritt im Rahmen der Verfassungsreform mit seiner Landesverfassung Neuland: Erstmals wird ein Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ausdrücklich in einer deutschen Verfassung geregelt. Ob die Regelung eines solchen Grundrechts innovativ ist oder bloße Symbolik, hängt von der Ausgestaltung des Grundrechts und der Wirksamkeit von Landesgrundrechten allgemein ab.
Das Internet ermöglicht uns nahezu grenzenlosen Zugang zu Informationen und hat die weltweite Gemeinschaft näher zusammenrücken lassen. Kehrseite der Medaille? Mit unseren persönlichen Daten wird gehandelt und das teilweise ohne unser Wissen oder Einverständnis. Regierungen und Konzerne können uns jederzeit überwachen. Die Bürger werden gläsern und können nicht mehr wissen, wer was bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Angesprochen auf das PRISM-Überwachungsprogramm der NSA antwortete Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2013: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“
So neu, so unbekannt waren die Probleme um Zugriffe durch Behörden auf private Daten und Computersysteme aber auch wieder nicht. Schon 2008 sah sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage konfrontiert, ob die Überwachung von Computern durch unbemerkt installierte Überwachungssoftware des Verfassungsschutzes des Landes Nordrhein-Westfalen verfassungsgemäß sei. Die Karlsruher Richter schufen in ihrem Urteil das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (sog. IT-Grundrecht) als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. In Schleswig-Holstein gibt es eine entsprechende Staatszielbestimmung.
Das Land Hessen will nun seinerseits verfassungsrechtliches Neuland betreten: Im Zuge einer großen Verfassungsreform legt das Bundesland mit der ältesten Landesverfassung seinen Bürgern am 28.10.2018 nun unter anderem ein Gesetz zur Änderung der Verfassung vor (eine Verfassungsänderung bedarf in Hessen einer Volksbefragung), das die Aufnahme eines IT-Grundrechts in die Hessische Landesverfassung vorsieht.
Wir fragen uns: Handelt es sich dabei um reine Symbolpolitik oder um eine innovative Fortentwicklung des (hessischen) Verfassungsrechts?
Zur Dogmatik: Alter Wein in neuen Schläuchen?
Man kann sich fragen, welche Reichweite dem hessischen IT-Grundrecht zukommen wird. Zwar ist ausweislich der Gesetzesbegründung lediglich eine Kodifizierung der Rechtsprechung des BVerfG zur Online-Durchsuchung angedacht. Weitergehende Forderungen wie etwa ein Recht auf Teilhabe an der digitalen Infrastruktur wurden, anders als in Schleswig-Holstein, nicht berücksichtigt. Allerdings stellt sich die Frage, ob der hessische Staatsgerichtshof das Recht ähnlich wie das BVerfG auslegen wird. Hessen möchte dem IT-Grundrecht durch dessen Kodifikation gerade eine größere Bedeutung zumessen. Auch macht es einen Unterschied, ob das Grundrecht „nur“ auf richterrechtlicher Grundlage steht oder positivrechtlich kodifiziert ist: Eine ausdrückliche Erwähnung in der Verfassung vereinfacht es, das Grundrecht extensiv auszulegen und ihm so einen weitergehenden Anwendungsbereich zu verschaffen. Es bestehen also Chancen hinsichtlich einer Weiterentwicklung der Dogmatik des IT-Grundrechts, gleichzeitig entsteht allerdings Konfliktpotential gegenüber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Seine primäre Bedeutung entfaltet Landesverfassungsrecht zunächst für das Verfassungsleben in den Ländern selbst. Aus der Normenhierarchie ergibt sich, dass einfaches Landesrecht landesverfassungsgemäß sein muss. So finden sich in den Verfassungen der Länder jeweils Regelungen dazu, wie ein Landesgesetz formell (landes-)verfassungsgemäß zustande kommt. Vielfach enthalten die Landesverfassungen Grundrechtskataloge, die bisweilen über diejenigen des Grundgesetzes hinaus gehen.
Daher stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des Landesverfassungsrechts zum Grundgesetz. Bei Grundrechten gilt nicht die Faustformel „Bundesrecht bricht Landesrecht“ aus Art. 31 GG, sondern als lex specialis Art. 142 GG. Nach diesem bleiben Grundrechte der Landesverfassungen insoweit Kraft, „als sie in Übereinstimmung“ mit Art. 1-18 GG stehen. Dies wird auch bei „ungeschriebenen“ Grundrechten wie dem bundesrechtlichen IT-Grundrecht der Fall sein, ist die Verfassung doch ein „lebendes Dokument“ und nicht kreationistisch zu verstehen. Fragen kann man sich indessen, ob IT-Grundrechte auf Bundes- und Landesebene nach Maßstab des Art. 142 GG „übereinstimmen“. Geht man mit dem Bundesverfassungsgericht davon aus, dass auch eine weiterreichende Gewährleistung von Grundrechten mit dem Maßstab des Art. 142 GG vereinbar ist, sollten auch die oben angesprochenen Erwägungen die Geltung des hessischen IT-Grundrechts – jedenfalls im klassischen, bipolaren Verhältnis Bürger-Staat – nicht gefährden. Freilich gelten die spezifischen landesverfassungsrechtlichen Regelungen, die über das Grundgesetz hinausgehen, jeweils in den betreffenden Ländern: Nur hessische Sachverhalte lassen sich unter das hessische Grundrecht subsumieren, ohne dass dies die Entwicklung der Dogmatik des IT-Grundrechts im restlichen Bundesgebiet irgendwie beeinflusste.
Mehr als nur reine Symbolik?
Abschließend stellt sich also die Frage: Was bringt die Einführung eines IT-Grundrechts im Rahmen der Hessischen Verfassung? In der Anhörung zum Verfassungskonvent wurde angemerkt, dass sich die Entwicklungen in der Lebenswelt der Hessinnen und Hessen, welche sich seit 1946 vollzogen haben, in der Hessischen Verfassung nicht abgebildet sind. Möchte man sich der Digitalisierung offensiv widmen und diesen unaufhaltsamen Prozess mitgestalten, so tut man gut daran, ihn auch in der Verfassung abzubilden. So ist die bloße Erwähnung dieses Rechtes schon ein Signal an die hessischen Bürgerinnen und Bürger, dass der Staat sich den Herausforderungen der Digitalisierung bewusst ist und ihr hohe Wichtigkeit beimisst.
Neben diesen positiven Erwägungen gibt es auch Bedenken. So handelt es sich bei der vorgesehenen Formulierung des Grundrechts lediglich um eine Kodifikation der Rechtsprechung des BVerfG, die nur wenig inhaltliche Akzente setzt. Ist es wirklich innovativ, eine bereits zehn Jahre alte Rechtsprechung zu kodifizieren oder wäre eine mutigere Lösung nicht wünschenswerter gewesen? Gerade zu den eigentlichen Gefahren für die Integrität informationstechnischer Systeme, die von privaten Anbietern wie Facebook und Google ausgehen, wird an dieser bedeutsamen Stelle nichts gesagt. Entscheidend im Kontext dieser „Bedrohung“ durch Unternehmen wird letztlich die Auslegung des Grundrechts durch den hessischen Staatsgerichtshof sein, der hierbei Akzente setzen und neuen Schwung in die juristische Debatte bringen kann.
Der digitale Wandel verändert unsere Gesellschaft: Sie entwickelt sich rasant weiter und dringt dabei immer mehr in das „neue Land“ vor. Andere staatspolitische Akteure schaffen es trotz vorhandener verfassungsändernder Mehrheit nicht, über grundlegende Erneuerungsprozesse überhaupt nachzudenken – man denke in diesem Zusammenhang etwa an die Große Koalition in den Jahren 2013 bis 2017. In Hessen ist es gelungen, mit Beteiligung aller relevanten politischen Kräfte einen Konsens zu erzielen. Und so muss allein der Versuch, mit der Einführung des Art. 12a Hessische Verfassung dem gesellschaftlichen und technologischen Fortschritt zu begegnen, positiv bewertet werden. Ob sich über die reine Symbolik dieses Vorgehens hinaus in der Lebenswirklichkeit der hessischen Bürgerinnen und Bürger durch das landesverfassungsrechtliche IT-Grundrecht allerdings tatsächlich etwas ändern wird, bleibt abzuwarten.
Zitiervorschlag: Jacob Urlich/Jan Keesen, Verfassungsrechtliches Neuland: Braucht Hessen ein eigenes Computer-Grundrecht?, JuWissBlog Nr. 91/2018 v. 25.10.2018, https://www.juwiss.de/91-2018/
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