Integration qua Wohnsitznahmeverpflichtung nach § 12a AufenthG?

von TOBIAS BRINGS-WIESEN UND INGA META MATTHES

brings_swInga_Meta_Matthes_Foto (134x200) (4)Der jüngste Vorstoß der Bundesregierung zur Bewältigung der sogenannten „Flüchtlingskrise“ und Erleichterung der Integration der Bleibeberechtigten, das Integrationsgesetz, ist am 6. August 2016 in Kraft getreten. Bereits an anderer Stelle wurde dargestellt, dass das Gesetz aus Perspektive der Praxis einige in ihrer vermeintlich integrativen Zielgerichtetheit durchaus fragwürdige Modifikationen vorgenommen hat. Unterzieht man einige Änderungen einer genaueren rechtlichen Analyse, wachsen auch die Zweifel an deren Konformität mit internationalem Recht – so bspw. im Falle des neu eingefügten § 12a Abs. 1 AufenthG.

Dabei ist die Maßnahme der Wohnsitzauflage kein Novum im deutschen Aufenthaltsrecht. Die Möglichkeit zu deren behördlicher Erteilung war bereits vor Inkrafttreten des Integrationsgesetzes über § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG als Nebenbestimmung zu einer Aufenthaltserlaubnis möglich.

Inhalt des neuen § 12a AufenthG

12a AufenthG ist nun das Ergebnis einer seit Ende des letzten Jahres (rechts-)politisch wie (rechts-)wissenschaftlich intensiv geführten Debatte und geht darüber hinaus. Die Vorschrift beinhaltet in Abs. 1 Satz 1 für alle Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 22, 23, 25 Abs. 1 bis 3 AufenthG (und deren nachziehende Familienangehörige, § 12a Abs. 6 AufenthG) bereits eine gesetzliche Wohnsitznahmeverpflichtung für einen Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Bundesland, in welches sie im Rahmen des Asylverfahrens oder im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens zugewiesen wurden. Die Pflicht greift nur dann nicht, wenn der Ausländer oder ein Mitglied der Kernfamilie einer i.S.v. §§ 20, 22 SGB II unterhaltssichernden Tätigkeit oder einer anerkannten Form der Ausbildung nachgeht. § 12a Abs. 5 AufenthG sieht darüber hinaus vor, dass die Verpflichtung auf Antrag der Betroffenen unter bestimmten Voraussetzungen aufgehoben werden kann. Gem. § 12a Abs. 2, 3 AufenthG können die genannten Personengruppen durch behördliche Entscheidung weiter verpflichtet werden, ihren Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen, wenn dadurch ihre Integration erleichtert werden kann. Vice versa kann ihnen „zur Vermeidung von sozialer und gesellschaftlicher Ausgrenzung“ gem. § 12a Abs. 4 AufenthG auferlegt werden, ihren Wohnsitz nicht an einem bestimmten Ort zu nehmen.

Rechtliche Bewertungsmaßstäbe

Trotz dieser gemeinsamen Rechtsgrundlage bestehen für die betroffenen Personengruppen im Einzelfall gewichtige Unterschiede hinsichtlich der rechtlichen Bewertungsmaßstäbe. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit sollen hier nur die anerkannten Flüchtlinge und subsidiär Geschützten im Fokus stehen (vgl. § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).

Für sie greift zum einen Art. 33 der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU, QRL), wonach ihnen Freizügigkeit (nach einem zurecht extensiven, die freie Wohnsitzwahl erfassenden Verständnis, vgl. EuGH in Rs. Alo und Osso, Rn. 22 ff, unter Anknüpfung an GA Villalón, Rn. 31 ff) innerhalb der Mitgliedstaaten zu den gleichen Bedingungen und Einschränkungen wie anderen Drittstaatsangehörigen zu gewähren ist. Sofern die Wohnsitznahmeverpflichtung an den Bezug von Sozialleistungen anknüpft, ist darüber hinaus Art. 29 QRL einschlägig, nach dem ihnen die notwendige Sozialhilfe unter den gleichen Bedingungen zu gewähren ist wie eigenen Staatsangehörigen.

Diese Vorschriften des Sekundärrechts müssen zudem im Lichte der EU-Grundrechtcharta ausgelegt werden. Einschlägig sind – wie von GA Villalón konkretisiert – vor allem die Rechte auf soziale Sicherheit, Art. 34 GRCh, und Freizügigkeit, Art. 45 GRCh (i.V.m. Art. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK und Art. 12 des IPBPR), aber auch das Diskriminierungsverbot gem. Art. 21 GRCh i.V.m. Art. 14 EMRK. Für anerkannte Flüchtlinge sind zusätzlich Art. 23 (Öffentliche Fürsorge) und Art. 26 (Freizügigkeit) der GFK zu berücksichtigen, die im Kontext der QRL auch auf subsidiär Geschützte anwendbar sind, soweit ihnen vom Unionsgesetzgeber bewusst dieselben Recht und Leistungen gewährt werden (vgl. Art. 20 Abs. 2 QRL).

Gemein ist diesen Vorschriften, dass sie die Frage der Rechtmäßigkeit von Wohnsitznahmeverpflichtungen sowohl in freiheits- als auch in gleichheitsrechtlicher Hinsicht betreffen.

Rahmenvorgaben durch das BVerwG und den EuGH

Wohnsitzauflagen für anerkannte Flüchtlinge waren bereits 2008 Gegenstand eines Urteils des BVerwG. Das Gericht hielt sie für potentiell zulässig, bewertete die im konkreten Fall getroffene Behördenentscheidung jedoch als ermessensfehlerhaft, weil sie nicht nur den nach Art. 26 GFK bezüglich der Freizügigkeit geltenden Grundsatz der Ausländer-, sondern auch den Art. 23 GFK entspringenden Grundsatz der Inländergleichbehandlung verletzt hatte. Die unterschiedliche Behandlung von anerkannten Flüchtlingen gegenüber eigenen Staatsangehörigen erachtete das BVerwG grundsätzlich als einer Rechtfertigung zugänglich. Dies gelte jedoch dann nicht, wenn die Ungleichbehandlung zugunsten rein fiskalischer Zwecke wie „der angemessenen Verteilung öffentlicher Sozialhilfelasten“ erfolgte, da derartige Lasten für alle Gruppen von Sozialhilfeempfängern unterschiedslos anfielen. „Migrationspolitische Gründe“ wie ein „besondere[r] Bedarf an Integrationsmaßnahmen“ könnten hingegen eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Für eine solche Rechtfertigung verlangte das BVerwG aber, dass der Staat die integrationspolitischen Probleme beschreiben, mögliche soziale Brennpunkte benennen und die Eignung von Wohnsitzauflagen, einen Beitrag zur Lösung dieser Probleme zu leisten, jedenfalls in Umrissen angeben kann.

Im März 2016 schloss sich der EuGH in der Rs. Alo und Osso diesen Wertungen der Sache nach an: Er wertete die in Rede stehenden Wohnsitzauflagen für zwei in Deutschland subsidiär schutzberechtigte Syrer als mit den Art. 29, 33 QRL unvereinbar, insoweit sie dem Zweck einer Lastenverteilung auf die Bundesländer dienen sollten. Bezweckten Wohnsitzauflagen hingegen eine Integrationsförderung, könnten sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, sofern subsidiär Schutzberechtigte tatsächlich in einem stärkeren Maße mit Integrationsschwierigkeiten konfrontiert seien als andere Drittstaatsangehörige.

Überprüfung der rechtlichen Umsetzung dieser Vorgaben in gleichheitsrechtlicher…

Es bleibt die Frage, ob § 12a Abs. 1 AufenthG diesen rechtlichen Anforderungen in ihrer gleichheits- und freiheitsrechtlichen Dimension genügt.

Den gerichtlich gerügten Problemen der Ungleichbehandlung begegnet der Gesetzgeber mit einer vermeintlich exklusiv integrationsorientierten Zweckrichtung der Vorschriften. Mit einem solchen Ansatz ließe sich eine Ungleichbehandlung zu Inländern ohne weiteres rechtfertigen. In der Begründung zum Gesetzentwurf (S. 42 ff) erachtet der Gesetzgeber wegen einer fehlenden „Vergleichbarkeit“ der Situation der verschiedenen Drittstaatsangehörigen sogar eine Ausländerungleichbehandlung als zulässig. Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Geschützte stünden „aufgrund ihrer Fluchterlebnisse und Verfolgungsschicksale vor besonderen Herausforderungen“ – ihnen fehlten im Vorfeld der Flucht die Möglichkeiten zur „integrationsfördernden Vorbereitung“, vor Ort bereits integrierte berufliche oder persönliche Kontakte und auch ihre „Voraussetzungen hinsichtlich Sprache, Qualifikation und Motivation“ unterschieden sich „wesentlich von denen anderer zugewanderter Drittstaatsangehöriger“.

Dieser Ansatz klingt plausibel. Die legislative Umsetzung hingegen hält nicht, was die Gesetzesbegründung verspricht. Die angemessene Verteilung öffentlicher Sozialhilfelasten wird als Zweck einer Wohnsitznahmeverpflichtung nicht benannt, jedoch knüpft § 12a Abs. 1 AufenthG in zweifacher Hinsicht an klar fiskalisch motivierte Kriterien an:

Zum einen ist als Rechtsfolge vorgesehen, dass die Wohnsitznahme des Betroffenen in dem Bundesland zu erfolgen hat, „in das er zur Durchführung seines Asylverfahrens […] zugewiesen worden ist“. Diese Zuweisung erfolgt wesentlich gemäß dem „Königsteiner Schlüssel“ (§ 45 Abs. 1 Satz 2 AsylG), nach dem die Verteilungsquoten zu 2/3 nach den Steuereinnahmen und zu 1/3 nach der Bevölkerungszahl des jeweiligen Bundeslandes bestimmt werden. In der Gesetzesbegründung (S. 44) spricht die Bundesregierung der Tatsache, dass der Schlüssel insofern überwiegend nach „Wirtschaftskraft“ gewichte, ein „wesentliches integrationspolitisches Element“ zu, da bereits hier die für eine gelungene Integration relevanten Kriterien „Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und vorhandene (Bildungs-)Infrastruktur“ abgebildet würden. Erscheint aber schon der Schluss von einer finanziellen Leistungskraft des Bundeslandes zu der (für eine Arbeitsmarktintegration relevanten) örtlichen Wirtschaftskraft nicht zwingend, so erweckt die Anknüpfung an ein (heute umfassend eingesetztes) Instrument der Lastenverteilung zwischen den Bundesländern den unweigerlichen Eindruck, dass das Ziel der Integration in dieser Hinsicht mehr Alibi als Anlass der Verpflichtung ist.

Zum anderen sieht § 12a Abs. 1 Satz 2 AufenthG eine gesetzliche Ausnahme von der Verpflichtung nur vor, wenn der Betroffene oder ein Mitglied seiner Kernfamilie einer i.S.v. §§ 20, 22 SGB II unterhaltssichernden Tätigkeit oder einer anerkannten Form der Ausbildung nachgeht. Auch hier misst die Vorschrift fiskalischen Erwägungen ein entscheidendes Gewicht zu.

Konkrete Integrationserwägungen, die den Einzelfall in den Blick nehmen, werden erst im Falle eines Antrags auf Aufhebung der Wohnsitznahmeverpflichtung nach § 12a Abs. 5 AufenthG wirklich relevant. Es bleibt der Eindruck, dass das von der Bundesregierung angeführte Ziel der Integrationsförderung hier eine allzu pauschale Umsetzung ohne haltbare Begründung erfährt. Die vom BVerwG verlangte Beschreibung der integrationspolitischen Probleme und deren Lösung durch die gesetzliche Wohnsitznahmeverpflichtung bleibt aus.

…und in freiheitsrechtlicher Hinsicht

Unterstellt man demgegenüber, dass § 12a Abs. 1 AufenthG tatsächlich das Ziel der Integrationsförderung verfolgt, stellt sich in freiheitsrechtlicher Hinsicht die Frage der Geeignetheit zur Erreichung dieses Ziels. Die Bundesregierung erkennt an, dass konkrete Integration (insbesondere) erst nach der Weiterverteilung in die Kommunen stattfindet (S. 43 f). Worin die wohl durch Abs. 1 zu erreichende abstrakte Integration liegen soll, bleibt jedoch unklar. Wie bereits dargelegt schließt der Gesetzgeber von der „Wirtschaftskraft“ des Bundeslandes auf einen integrationsfördernden „Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und vorhandene (Bildungs-)Infrastruktur“. Dabei überrascht, dass der Gesetzgeber dem Königsteiner Schlüssel ohne weiteres diese „wesentlichen integrationspolitischen Elemente“ zu entnehmen vermag, wo das Instrument doch eigentlich einen völlig anderen Zweck verfolgt. Er bleibt jedoch der einzige erkennbare Anknüpfungspunkt für eine Integrationsförderung in § 12a Abs. 1 AufenthG, andere integrationsfördernde Aspekte fänden erst im Falle einer bloß möglichen Weiterverteilung auf bestimmte Orte nach § 12a Abs. 2, 3 AufenthG Berücksichtigung.

Insofern bestehen auch mit Blick auf die Angemessenheit der gesetzlichen Wohnsitznahmeverpflichtung Bedenken. Bereits erzielte Integrationserfolge – bspw. in Sprach- oder Integrationskursen – oder persönliche Kontakte vor Ort, die dem Gesetzgeber zwar als Differenzierungsmerkmal zu anderen Drittstaatsangehörigen dienen, finden keine Berücksichtigung. Relevant sind ausschließlich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder einer Ausbildung, die jedoch im Asylverfahren praktisch kaum realisierbar ist. Die erhebliche Beschränkung der Freizügigkeit für dem Grunde nach alle anerkannten Flüchtlinge und subsidiär Geschützten wird durch die Option der Aufhebung auf Antrag nach § 12a Abs. 5 AufenthG nur geringfügig abgemildert, da auch hier lediglich die Integration in den Arbeitsmarkt und persönliche oder familiäre Härtefälle Berücksichtigung finden. Angesichts der sehr fragwürdigen Geeignetheit der Verpflichtung zur Förderung von Integration bestehen an der Angemessenheit der Regelung erhebliche Zweifel.

Fazit

Die rechtliche Bewertung von § 12a Abs. 1 AufenthG am Maßstab der völker- und unionsrechtlichen Vorgaben in der Lesart von EuGH und BVerwG offenbart, dass die Vorschrift einer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten würde. Auch unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums sind die gesetzlichen Anforderungen schlicht zu weit vom postulierten Ziel der Integrationsförderung entfernt, als dass sie eine kategorische Beschränkung der Freizügigkeit von anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Geschützten zu rechtfertigen vermögen. Wenn überhaupt sollte diese Entscheidung der Exekutive überlassen bleiben, die im Einzelfall angemessene Entscheidungen zu treffen vermag.

Freizügigkeit, Inga Meta Matthes, Integrationsförderung, Integrationsgesetz, Lastenverteilung, Sozialleistungen, Tobias Brings-Wiesen, Wohnsitzauflage
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