von CHRISTIAN RICHTER

Heute vor 10 Jahren zerstörten zwei 500-Pfund-Bomben zwei Tanklastzüge in einer Furt in der Region Kundus und töteten die umstehenden Personen. Befohlen wurde der Angriff vom damaligen Oberst Georg Klein. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung stellte der Generalbundesanwalt die These auf, dass das allgemeine Strafrecht neben dem Völkerstrafrecht anwendbar sei, also auch die §§ 211, 212 StGB neben dem VStGB Anwendung fänden. Das VStGB soll also bei militärischen Schädigungshandlungen keine Sperrwirkung entfalten. Die völkerstrafrechtliche Literatur stimmt dieser Auffassung nahezu einheitlich zu. Trotzdem überzeugt sie nicht. Die angebliche gleichzeitige Anwendbarkeit von VStGB und StGB wird in der Völkerstrafrechtslehre mit einem Verweis auf die Gesetzesbegründung gerechtfertigt. Der Gesetzgeber will mit der zusätzlichen Anwendung des StGB Rechtslücken schließen. Dabei wird verkannt, dass das Strafrecht per se rechtslückenfeindlich ist. Es muss daher sehr gut begründet werden, wenn eine Handlung dem schärfsten Schwert des Staates unterfallen soll. Das StGB ist jedoch nicht in der Lage, hier Rechtslücken zu schließen. Das Völkerstrafecht und das Humanitäre Völkerrecht werden mit dem VStGB schon präziser und umfassender erfasst sowie normiert als im StGB. Dieser Umstand ist gerade die raison d’être des VStGB, welche anhand der Völkerstrafrechtsgeschichte besonders sichtbar wird.

Leipziger Prozesse

Nach der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg musste sich die deutsche Reichsregierung unter anderem in Art. 228 Versailler Vertrag dazu verpflichten, als Kriegsverbrecher beschuldigte deutsche Soldaten an die Alliierten auszuliefern. Nachdem es über Parteigrenzen hinweg zu massivem Widerstand in der deutschen Bevölkerung gekommen war, wurde ein Kompromiss gefunden, nachdem das Deutsche Reich selbst Strafverfahren gegen die Beschuldigten durchzuführen hatte. Diese Aufgabe wurde dem Reichsgericht in Leipzig übertragen. Dort kam man zu der Auffassung, dass keine strafrechtlichen Normen existierten, die Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht unter Strafe stellten. Notgedrungen wurde in den sogenannten Leipziger Prozessen also das StGB und Militärstrafrecht prinzipiell auch auf letale Schädigungshandlungen im Krieg angewendet. Zu einer Verurteilung kam es dann nicht, wenn eine Regel des Humanitären Völkerrechts die Schädigungshandlung rechtfertigte. Diese Notkonstruktion wurde grundsätzlich in der Bundesrepublik Deutschland fortgeführt, indem man nur einzelne völkerstrafrechtliche Tatbestände, wie das Verbot des Angriffskrieges, § 80 in das StGB einführte, im Übrigen aber das allgemeine Strafrecht auf Kriegshandlungen anwenden wollte.

Das Völkerstrafgesetzbuch

Der Mangel an positiven Normen, die Kriegsverbrechen unter Strafe stellen, wurde mit der Verkündung des VStGB im Jahr 2002 behoben. Insofern bedarf es keines behelfsmäßigen Rückgriffes mehr auf Normen des StGB. Dies verkennt der Generalbundesanwalt, wenn er die Anwendung der §§ 211, 212 StGB damit begründen will, dass diese doch bereits schon durch das Reichsgericht in Leipzig angewendet wurden. Letzteres spricht gerade nicht dafür, das StGB weiter neben dem VStGB anzuwenden. Im Gegenteil belegt die Anwendung als reiner Notbehelf, dass das StGB neben dem VStGB nicht mehr angewendet werden muss und darf.

Die Gesetzesbegründung selbst nennt zu Recht als erstes Ziel des VStGB, spezifisches Unrecht der Verbrechen gegen das Völkerrecht besser zu erfassen, als dies nach allgemeinem Strafrecht seinerzeit möglich war (S. 12). Das StGB war als Notkonstrukt eben nur deutlich eingeschränkt zur Ahndung von Kriegsverbrechen geeignet. So befand sich beispielsweise kein Straftatbestand für die Verwendung von sogenannten Dum-Dum-Geschossen im StGB. Das allgemeine Friedensstrafrecht umfasst auch nicht den kriegsvölkerrechtlich unzulässigen Befehl, dass kein Pardon gegeben werde. Vor Inkrafttreten des VStGB gab es deswegen Strafbarkeitslücken für rechtswidriges militärisches Handeln. Diese sollten vom VStGB geschlossen werden. Wenn die Anwendung des StGB neben dem VStGB für Taten im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt mit dem Verweis auf die Vermeidung von Gesetzeslücken begründet werden soll, ist dies folglich eine contradictio in adiecto und ein völkerstrafrechtshistorischer Anachronismus zugleich.

Völkerrecht und Grundgesetz

Strafbarkeitslücken kann nur konstatieren, wer die Sachlage mit der Prämisse betrachtet, dass jegliche militärische Gewalt soweit wie möglich und per se zu kriminalisieren ist. Diese grundsätzlich nicht unsympathische pazifistische Grundhaltung mag moralisch vertretbar sein. Mit der Rechtslage ist sie jedoch nicht vereinbar.

Nach Art. 25 GG stehen das Humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht in ihrer gewohnheitsrechtlichen Ausprägung nämlich über dem einfachen Bundesgesetz, also auch über dem VStGB und dem StGB. Dem völkergewohnheitsrechtlichen Humanitären Völkerrecht und dem völkergewohnheitsrechtlichem Völkerstrafrecht sind gerade kein Verbot, tödliche Schädigungshandlungen vorzunehmen, zu entnehmen. Dort gilt die Prämisse, das letale Schädigungshandlungen im bewaffneten Konflikt, umgangssprachlich Krieg naturgemäß erlaubt sind, und die Vorschriften dieser Erlaubnis mit dem Ziel, unnötiges Leid zu verhindern, einschränken. Dabei wägt das Humanitäre Völkerrecht genau, zwischen gebotenem humanitärem Schutz und militärischer Notwendigkeit ab. Andernfalls besteht nämlich die Gefahr, dass das Humanitäre Völkerrecht im bewaffneten Konflikt keine Beachtung fände. Eine pauschale Kriminalisierung der kriegstypischen Schädigungshandlung durch die herrschende Lehre konterkariert diese notwendige Balance und gefährdet so zumindest indirekt die Akzeptanz des Humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts.

Dem Grundgesetz kann auch keine Prämisse entnommen werden, dass jegliche militärische Gewalt per se zu kriminalisieren ist. In Art. 87a Abs. 1 GG stellte der verfassungsgebende Gesetzgeber klar: Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Streitkräfte sind Teil der Exekutive und werden durch besondere Strukturgesetzlichkeiten geprägt: Neben Befehl und Gehorsam, militärischer Gliederung, einer auf Kameradschaft beruhenden Zugehörigkeit zu einer Gefahrengemeinschaft sind es eben die Ausstattung mit letalen Waffensystemen und dem Kampfauftrag zum Töten unter Einsatz des eigenen Lebens. Dem Grundgesetz ist also keine pazifistische Werteordnung zu entnehmen, die den einfachen Gesetzgeber legitimieren würde, militärische Gewalt per se zu kriminalisieren. Auch das Friedenssicherungsrecht der Charta der Vereinten Nationen, das in seiner völkergewohnheitsrechtlichen Geltung nach Art. 25 GG ebenfalls über dem einfachen Bundesgesetz steht, etabliert ebenfalls keine pazifistische Weltordnung. Im Übrigen differenziert auch die EMRK in Art. 15 Abs. 1 und 2 hinsichtlich des menschenrechtlichen Schutzes im Falle bewaffneter Konflikte.

Der deutsche Soldat ist kein gerechtfertigter Mörder, wenn er innerhalb der Regeln des Humanitären Völkerrechts in einem bewaffneten Konflikt seinen verfassungsrechtlichen Auftrag ausführt und tödliche Gewalt anwendet. Insofern gilt also noch, was Augustinus von Hippo bereits festgestellt hat: Ich bin der Überzeugung, dass ein Soldat, der den Feind tötet, wie auch … keine Sünde begehen; indem sie so handeln, befolgen sie das Gesetz.

Zitiervorschlag: Christian Richter, Gesetzliches Töten im Krieg, JuWissBlog Nr. 86/2019 v. 4.9.2019, https://www.juwiss.de/86-2019/

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Bewaffneter Konflikt, Christian Richter, Kundus, Kundus-Luftschlag, Leipziger Prozesse, StGB, VStGB
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • John Philipp Thurn
    5. September 2019 16:53

    Der Vorwurf der „pauschale[n] Kriminalisierung der kriegstypischen Schädigungshandlung durch die herrschende Lehre“ erinnert mich an die (gespielte) Empörung aus der Ärzteschaft, wenn juristisch korrekt eine Operation tatbestandlich als (gefährliche) Körperverletzung klassifiziert wird, die in aller Regel wegen informierter Einwilligung gerechtfertigt ist…

    Auch im Übrigen kann ich die Argumentation schwer nachvollziehen. Weder Wortlaut, noch Begründung oder Zweck des VStGB ergeben, dass mit seinem Erlass die vorher unumstrittene Geltung des allgemeinen Strafrechts in bewaffneten Konflikten aufgehoben werden sollte – es ging allein um die herausgehobene Ahndung von besonders schweren Verletzungen des Völkerrechts.

    Verfassungsrechtlich müsste übrigens die Kernfrage sein, weshalb es mit dem Vorbehalt des Gesetzes vereinbar sein soll, dass die auch im Ausland und gegenüber Ausländern an die Verfassung gebundene Bundeswehr in das Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eingreift, ohne dafür über spezielle gesetzliche Befugnisse zu verfügen. Dass das Grundgesetz Streitkräfte vorsieht, kann nach demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen (Stichwort Wesentlichkeitslehre) allein dafür nicht ausreichen. Warum soll es keine klaren und verständlichen Regelungen geben müssen, unter welchen Voraussetzungen, zu welchen Zwecken und auf welche Weise im bewaffneten Konflikt (oder gar bei anderen Einsätzen) tödlicher Zwang angewendet werden darf?
    (Empfehlenswert dazu: Martin Kutscha, Das Grundrecht auf Leben unter Gesetzesvorbehalt – ein verdrängtes Problem, NVwZ 2004, 801.)

    Antworten
  • Christian Dr. Richter
    10. September 2019 14:40

    Sehr geehrter Herr Thurn,
    vielen Dank für Ihr Interesse an meinem Beitrag und an der Sache. Zunächst kann ich Ihnen versichern, dass ich weder empört, noch gespielt empört bin. Ihrer Argumentation muss ich leider widersprechen.
    Ärzte nehmen Schädigungshandlungen vor, um zu heilen. Soldaten nehmen im bewaffneten Konflikt Schädigungshandlungen vor, um zu schädigen und um den Gegner damit im clausewitzschen Sinne den eigenen Willen aufzuzwingen. Insofern greift der Verweis auf die ärztlichen Schädigungshandlungen gerade nicht.
    Der Gesetzgeber wollte mit dem Erlass des VStGB die Geltung des allgemeinen Strafrechts im bewaffneten Konflikt explizit nicht aufheben. Insofern haben Sie uneingeschränkt Recht – ich habe aber auch nichts anderes geschrieben. Nur, dass die Geltung vorher unumstritten gewesen sein soll, stimmt eben nicht. Die Anwendung des StGB war vielmehr nur ein Notbehelf (vgl. nur Gerd Hankel, Leipziger Prozesse, 2003). Im Übrigen fand schon allein das Wort „Kriegsverbrechen“ erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Lassa Oppenheim eine relevante Verbreitung. Bluntschli hatte es schon 1872 verwendet (vgl. nur Marc Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?: Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen fachwissenschaftlichen Debatte 1872-1945, 2007).
    Sie fragen nach „spezielle(n) gesetzliche(n) Befugnisse(n)“ und verweisen auf den Gesetzesvorbehalt des Art. 2 (2)S 3 GG. Wenn Sie weiter wörtlich fragen: “Warum soll es keine klaren und verständlichen Regelungen geben müssen, unter welchen Voraussetzungen, zu welchen Zwecken und auf welche Weise im bewaffneten Konflikt (oder gar bei anderen Einsätzen) tödlicher Zwang angewendet werden darf?“ lautet die Antwort: Diese gibt es schon; und zwar für den bewaffneten Konflikt, nur über diesen habe ich hier geschrieben. Und das Recht des bewaffneten Konflikts ist nach Art. 25 GG nicht nur Bestandteil des Bundesrechts, sondern steht im Rang sogar über dem einfachen Gesetz. Beides hatte ich in meinem Beitrag ebenfalls erwähnt. Wenn Sie nun trotzdem eine gesetzliche Grundlage mit Verweis auf Art. 2 (2)S 3 GG fordern, würde man gleichsam parallel zum völkerrechtlichen Recht des bewaffneten Konflikts ein innerstaatliches deutsches Regelungssystem schaffen, dass letztlich nur eine Kopie des Rechts des bewaffneten Konfliktes wäre.
    Mit freundlichen Grüßen
    Christian Richter

    Antworten

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