von PHILIPP SCHÖBEL
Digitalisierung ist ein wichtiges Werkzeug, um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Dafür müssen digitale Dienste und Produkte barrierefrei sein. Bisher ist dies oftmals nicht der Fall. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verpflichtet seit dem 28. Juni 2025 erstmals auch Akteure der Privatwirtschaft, alltägliche Produkte und Dienstleistungen barrierefrei anzubieten. Ausnahmeregelungen und Übergangsfristen darin stoßen jedoch auf Kritik. Das BFSG ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch ist bereits jetzt deutlich, dass weiterer Anpassungsbedarf besteht.
Digitale Barrieren und digitale Teilhabe
Mangelnde Barrierefreiheit ist nicht nur in der physischen Umgebung, sondern auch im digitalen Raum ein Problem für Betroffene (dazu Borgstedt et al., S. 64). Dabei sind barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnologien entscheidend für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Digitale Teilhabe umfasst die Teilhabe an, durch und in digitalen Technologien (dazu Kreuder-Schock et al., S. 6f.). Die digitale Barrierefreiheit gehört zum ersten Bereich und ist Voraussetzung für die beiden anderen.
Laut Eurostat haben ca. 28 % der deutschen Bevölkerung eine Behinderung. Allerdings sind nicht alle gleichermaßen von digitalen Barrieren betroffen. Digitale Barrieren betreffen viele Menschen, auch wenn die individuellen Herausforderungen unterschiedlich sind. Gehörlose Menschen, Menschen mit Sehbehinderung, Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Menschen mit motorischen Einschränkungen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Die Art der Behinderung bestimmt maßgeblich, welche Maßnahmen Barrieren reduzieren oder abbauen können (Kreuder-Schock et al., S. 5). Menschen mit Sehbehinderungen nutzen häufig Sprachausgabe- oder Vergrößerungsfunktionen. Gehörlose Menschen profitieren dagegen von Untertiteln oder Transkripten. Der Beauftragte der Bundesregierung für Informationstechnik empfiehlt eine Reihe von Maßnahmen, um digitale Barrieren abzubauen: übersichtliche Webseitenstrukturen, Optimierung von Kontrasten, Tastaturbedienung, Gebärdensprachvideos und Untertitel, Leichte Sprache und klare Strukturen sowie die Bedienung von mehreren Sinnes- und Informationswegen. Diese Anforderungen müssen kumulativ erfüllt sein, um Barrierefreiheit zu gewährleisten.
Digitale Barrieren im E-Commerce
Digitale Barrieren können auch die Teilnahme am Wirtschaftsleben verhindern – so etwa im E-Commerce. Viele Online-Shops sind aber nicht barrierefrei. Ein Test der Aktion Mensch vom Juni dieses Jahres zeigte, dass nur rund ein Drittel der 65 meistbesuchten Online-Shops in Deutschland vollständig barrierefrei ist. Eine weitere Studie vom November 2024 untersuchte mehr als 2400 deutsche Onlineshops. Das Ergebnis: Nur 28 erfüllten die Anforderungen des BFSG. Einmal erzielte Fortschritte bleiben zudem nicht immer bestehen. So ist etwa das aktuelle Online-Buchungssystem der Deutschen Bahn inzwischen nicht mehr barrierefrei.
Grund- und menschenrechtlicher Rahmen
Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG enthält ein eigenständiges Grundrecht. „Aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ergibt sich für den Staat das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wegen Behinderung und ein Auftrag, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung auch durch Dritte zu schützen“ (BVerfGE 160, 79, Ls. 1). Bei der Erfüllung seiner Schutzpflicht steht dem Gesetzgeber grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (BVerfGE 160, 79, 115; 96, 56, 64; 121, 317, 356; 133, 59, 76; 153, 182, 268). Der grundrechtliche Schutzauftrag kann sich aber unter bestimmten Bedingungen zu einer Handlungspflicht des Staates verdichten – etwa in Situationen struktureller Ungleichheit (BVerfGE 160, 79, 114). Bei der Auslegung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ist zudem die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 160, 79, 111).
Art. 9 Abs. 1 S. 1 der UN-BRK verpflichtet die Vertragsstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zu Informationen und Kommunikation – einschließlich digitaler Technologien – zu gewährleisten. Diese Maßnahmen umfassen auch die Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren (Art. 9 Abs.1 S. 2 UN-BRK). Private Anbieter von Einrichtungen müssen ebenfalls Barrierefreiheit sicherstellen (Art. 9 Abs. 2 lit. b UN-BRK). Die UN-BRK geht über den deutschen Grundrechtsschutz nicht hinaus (BVerfGE 160, 79, 116).
Sekundärrechtlicher Hintergrund und nationale Umsetzung
Die Anforderungen an Barrierefreiheit werden durch europäisches Sekundärrecht und nationales Recht weiter konkretisiert. Für Staat und Privatwirtschaft gelten dabei dieselben technischen Standards nach der harmonisierten Norm EN 301 549, die auf den WCAG-Richtlinien basiert (zum Zusammenhang beider Normen hier und hier).
Der European Accessibility Act (EAA) harmonisiert die Anforderungen für bestimmte Produkte und Dienstleistungen, darunter Computer, Betriebssysteme, Geldautomaten, Ticket- und Check-in-Automaten, Smartphones, oder E-Book-Reader. Erfasst sind auch elektronische Kommunikationsdienste, Bankdienstleistungen für Verbraucher:innen oder Dienstleistungen im Bereich Personenbeförderung. In Deutschland setzt das BFSG den EAA um und verpflichtet private Anbieter, bestimmte Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten (§ 3 Abs. 1 S 1, 2 BFSG). Die Details regelt die Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV). Das BFSG fungiert als einfachgesetzliche Umsetzung des Schutzauftrags des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und des Art. 9 UN-BRK. Der Grund- und Menschenrechtsschutz hinsichtlich digitaler Barrierefreiheit in Privatrechtsverhältnissen wird daher durch den Anwendungsbereich des BFSG ausgestaltet. Die Grenzen des Anwendungsbereichs des BFSG sind somit auch die Grenzen des tatsächlich gewährten Grund- und Menschenrechtsschutzes. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass der Schutzbereich nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 9 UN-BRK vollständig durch das BFSG einfachgesetzlich ausgefüllt wird. Der Art. 9 UN-BRK kann mehr Produkte und Dienstleistungen erfassen, als der deutsche Gesetzgeber in den Anwendungsbereich des BFSG stellt. Dort liegt die Kritik am BFSG.
Kritik am EEA und am BFSG
Bereits der EAA wird kritisiert, weil er wichtige Bereiche wie Gesundheitsdienstleistungen, Bildung, Wohnen und Haushaltsgeräte nicht erfasst (hier). Die Mitgliedstaaten können zudem nach Art. 4 Abs. 4 EAA selbst entscheiden, ob sie bauliche Barrierefreiheit für die aufgeführten Produkte und Dienstleistungen vorschreiben. Fehlt es am barrierefreien baulichen Zugang etwa zu einem an sich barrierefreien Bankautomaten, wird digitale Teilhabe physisch verhindert.
Auch das BFSG wird kritisiert. Betroffenenverbände fordern: Erweiterung des Anwendungsbereichs auf Haushaltsgeräte, Postdienstleistungen und Software, schnellere Umrüstung von Bank- und Fahrkartenautomaten (derzeit bis spätestens 2040), weniger weitreichende Ausnahmeregelungen für Kleinstunternehmen (§ 3 Abs. 3 S. 1 iVm § 2 Nr. 17 BFSG) sowie eine bauliche Barrierefreiheit von Selbstbedienungsterminals.
Zudem könnte die Beschränkung auf Verbraucherprodukte Unternehmen ermöglichen, die Vorschriften der BFSG zu umgehen (dazu DBSV, 1.2). Das hätte zur Folge, dass Menschen mit Behinderungen viele digitale Arbeitsmittel nicht nutzen können und damit faktisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen würden. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen fordert außerdem, Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen stärker zu berücksichtigen (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, S. 27). Nötig seien unter anderem leichte Sprache, klare Navigation, grafische Übersichtlichkeit und der Verzicht auf „Dark Patterns“ und Reizüberflutung.
Für Produkte, auf die das BFSG keine Anwendung findet, bedeutet dies, dass der Staat keinen Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. g UN-BRK fördert. Der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG wird dort nicht verwirklicht, wo der Anwendungsbereich des BFSG endet. Damit ist nicht gesagt, dass der Gesetzgeber durch die jetzige Ausgestaltung des BFSG gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verstößt. Das BVerfG hat festgehalten, dass es die Verletzung einer konkreten Schutzpflicht nur feststellen kann, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (BVerfGE 160, 79, 114 f.; BVerfGE 142, 313, 337 f.). Kritikwürdig ist aber, wie restriktiv der Gesetzgeber von seinem Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat.
Zitiervorschlag: Schöbel, Philipp, Digitale Barrieren, JuWissBlog Nr. 94/2025 v. 14.10.2025, https:/www.juwiss.de/94-2025/
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Auch viele Formulare sind insofern nicht Barrierefrei, dass eine klare Rückmeldung fehlt, warum ein Eingabewert in einem Formularfeld nicht akzeptiert wird.
Für von Autismus oder Epilepsie Betroffene ist auch die ständige Reizüberflutung durch Animationen und blinkende Werbebanner eine große Hürde.
Leider ist der Artikel selbst nicht wirklich Barrierefrei. Denn die im Text vorhanden Links lassen sich optisch kaum vom restlichen Text unterscheiden.
Eine kontrastreichere Farbe oder Unterstreichung würde helfen.