Der Whanganui und Chocó sind es, der Ganges war es kurzzeitig, bei der Crosby Island March wird darum gekämpft – eigene Rechtspersönlichkeiten. Weltweit gibt es zahlreiche Initiativen für Rechte von Flüssen und für die Natur allgemein. Auch in Bayern läuft ein Volksbegehren, das solche Eigenrechte in die bayerische Verfassung aufnehmen möchte. Doch wie ist eigentlich der Status in Europa – ist der Umweltschutz wirklich rein anthropozentrisch ausgerichtet und sind Flüsse wie teilweise suggeriert rechtlos? Die Bestimmungen der EG-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) – Grundlage des Gewässerschutzes in Europa – legen das Gegenteil nahe.
Die Ursprungsdiskussion: Sollen Bäume Rechte haben?
Der 1972 erschienene Artikel „Should trees have standing?“ des Rechtsprofessors Christopher Stone wird als Ausgangspunkt der Rechte-der-Natur-Debatte gesehen. Die Klagerechte im Umweltbereich waren in den USA damals überwiegend eigentumsbezogen, gegen die Verschmutzung eines Flusses konnte nur die Person klagen, deren Nutzungsrechte am Wasser beeinträchtigt waren. Stone forderte daher, dass die Natur eigene Rechte haben sollte: „to have a legally recognized worth and dignity in its own right, and not merely to serve as a means to benefit us“. Bei einer Verletzung dieser Rechte solle ein Ausgleich gegenüber der Natur erfolgen – sei es durch Wiederherstellung des vorherigen Zustands oder monetär. Zudem sollten die Rechte gerichtlich durchsetzbar sein über ein System von Fürsprechenden – „guardians“. Um dem Erfinder der Eigenrechte gerecht zu werden, müssen also folgende Elemente erfüllt sein:
(1) Naturzentrierte Schutzziele,
(2) Abwägung der Interessen (Natur/Mensch) und Ausgleich bei Verletzungen der Schutzziele,
(3) Möglichkeit der gerichtlichen Geltendmachung.
Nach der WRRL sind die drei Elemente für Flüsse gegeben:
Zu (1) Schutzziele des europäischen Gewässerrechts
Während der Fokus der Natura-2000-Richtlinien der Erhalt der bedrohten Lebensräume und Arten ist, schützt die WRRL alle Gewässer, unabhängig von ihrer Gefährdung. Für diese stellt Art. 4 Abs. 1 WRRL Schutzziele auf. Ältere Gewässerschutzrichtlinien, etwa die Badegewässerrichtlinie, orientierten sich an der Nutzbarkeit für den Menschen. Die WRRL orientiert sich beim Schutzziel des „guten ökologischen Zustand“ dagegen am „sehr guten Zustand“. Dieser stellt quasi den Urzustand eines Gewässers dar, der sich durch die „Abwesenheit störender Einflüsse“ und „keine oder nur sehr geringfügige anthropogene Änderungen“ auszeichnet. Um den guten Zustand zu erreichen, darf hiervon nur eine „geringe anthropogene Abweichung“ vorliegen. Für Gewässer, in deren Morphologie stark eingegriffen wurde – sie wurden also beispielsweise begradigt, vertieft, eingedeicht, aufgestaut etc. – kann unter bestimmten Voraussetzungen nach Art. 4 Abs. 3 WRRL festgelegt werden, dass statt des „guten ökologischen Zustand[s]“ das „gute ökologische Potential“ erreicht werden muss. Auch das Potential orientiert sich an der größtmöglichen Elimination anthropogener Einflüsse. Die Mitgliedstaaten müssen bis 2015, spätestens 2027, alle Maßnahmen ergreifen, um diese Ziele zu erreichen (sog. Verbesserungsgebot). 2015 lag die Zielerreichungsquote in Deutschland bei 7 %. Ähnlich schlecht sieht die Erfüllung des Verbesserungsgebots beim weiteren Schutzziel des „guten chemischen Zustand[s]“ aus. Auch hier wurde bei der Festlegung der Grenzwerte nicht nur die Auswirkungen der Schadstoffe auf die Gesundheit des Menschen, sondern auch auf die Umwelt betrachtet.
Die WRRL verleiht den Flüssen (und anderen Gewässern) somit starke, naturzentrierte Rechte: Das übergeordnete Ziel ist eine möglichst wenig anthropogen beeinflusste Gewässerlandschaft, welche nicht nur vor Verschlechterung zu bewahren, sondern auch dahingehend wiederherzustellen ist. Letzteres ist mehr als von Stone gefordert, der sich auf die Verhinderung von schädlichen Eingriffen konzentriert.
Zu (2) Ausgleich bei Verletzung der Rechte – Verschlechterungsverbot und Ausnahmeprüfung
Laut Stone geht es nicht darum, dass kein Baum mehr gefällt werde – “to say anything as silly as that no one should be allowed to cut down a tree.“ Vielmehr sollen die Schäden der Natur betrachtet werden, ihre Interessen Teil der Abwägungsentscheidung werden und, wenn die Abwägung negativ für die Natur ausgeht, Wiederherstellung oder monetärer Ausgleich erfolgen. Die Ausnahmen der WRRL sind in Art. 4 Abs. 4-7 WRRL geregelt. Interessant ist vor allem Art. 4 Abs. 7 WRRL, welche als einzige Ausnahme Verschlechterungen des Gewässerzustands durch planbare Eingriffe ermöglicht. Dabei wird nur die Fallkonstellation für Oberflächengewässer, die nicht in einem sehr guten Zustand sind (also fast alle Flüsse in Deutschland) betrachtet. Nur bestimmte Eingriffe („neue Änderungen der physischen Eigenschaften“) sind überhaupt erfasst. Zudem muss entweder ein „übergeordnetes öffentliches Interesse“ vorliegen oder eine Abwägung zwischen dem Nutzen der Zielerreichung (guter Zustand) für die Umwelt und die Gesellschaft und bestimmten menschlichen Interessen erfolgen. Zuletzt müssen Alternativen geprüft und Minderungsmaßnahmen ergriffen werden. Alle sechs Jahre wird überprüft, ob die Voraussetzungen noch fortbestehen. Mit Blick auf Stones Forderungen fehlt hier die Wiederherstellung bzw. ein monetärer Ausgleich. Eine Pflicht zur Wiederherstellung greift jedoch immer dann, wenn die Voraussetzungen für die Ausnahmeergreifung nicht mehr vorliegen. Das ergibt sich aus dem in Art. 4 Abs. 1 WRRL verankerten Verbesserungsgebot. Entschädigungen sieht das Ausnahmesystem allerdings nicht vor. Doch fordert die Richtlinie an anderer Stelle (Art. 9 WRRL), dass alle Nutzungen bepreist werden müssen, also letztendlich immer eine Entschädigung verlangt wird. Jedoch erlaubt die Richtlinie Spielräume bei der Umsetzung, welche in Deutschland laut BUND zu sehr ausgenutzt wurden.
Zu (3) gerichtliche Geltendmachung
Stone fordert, dass es Dritten, beispielsweise Umweltverbänden, möglich sein muss, Eingriffe in die Rechte der Natur von Gerichten überprüfen zu lassen. Im Kontext der WRRL ist daher wichtig inwieweit Ausnahmeerteilungen nach Art. 4 Abs. 7 WRRL gerichtlich überprüfbar sind. Eine Ausnahme nach Art. 4 Abs. 7 WRRL ist immer dann nötig, wenn ein neues Vorhaben den Zustand eines Gewässers verschlechtert oder das Verbesserungsgebot hemmt. Im sogenannten Weser-Urteil stellte der EuGH klar, dass das Verschlechterungsverbot und das Verbesserungsgebot im Kontext des Art. 4 Abs. 7 WRRL vollumfänglich überprüfbar sind. Die Klageberechtigung für Umweltverbände ergibt sich oftmals direkt aus der UVP-Richtlinie. Seit dem Protect-Urteil 2017 muss es zudem auch Klagemöglichkeiten geben, wenn das Vorhaben nicht UVP-pflichtig ist.
Im Namen des Flusses
Zusammenfassend: Der Gewässerschutz in Europa ist nicht rein anthropozentrisch orientiert, sondern hat starke, am „Wohl des Flusses“ orientierte Schutzziele. Verletzen neue Vorhaben diese Schutzziele, so kann das von Umweltverbänden gerichtlich überprüft werden. Offen ist, ob man dabei auch auf eine Verbesserung des Zustands klagen kann – das wäre sicher sinnvoll, verlässt aber auch den von Stone gesetzten Rahmen. Nicht immer sind die Umweltverbände glücklich mit den Verfahren, nicht alle Gerichtsurteile fallen „im Sinne des Flusses“ aus. Dieses Problem kennen laut Bericht des EU-Parlaments allerdings auch Rechtssysteme, die Rechte der Natur formal anerkennen. Diese formale Anerkennung fehlt in Europa: Umweltverbände können die sich aus der WRRL ergebenen Rechte einklagen, der Fluss tritt aber nicht als Kläger im Gerichtssaal auf. Ob eine solche Personalisierung der Sache helfen würde – diese Frage können Anwält:innen besser beantworten.
Zitiervorschlag: Laura von Vittorelli, Haben Flüsse (jetzt schon) Rechte?, JuWissBlog Nr. 109/2021 v. 09.12.2021, https://www.juwiss.de/109-2021/.
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Dies gilt so ähnlich auch im Bundesnaturschutz. Es erscheint mir, dass Naturrechte von Personen gefordert werden die sich mit der Rechtslage nicht auskennen. Bisher wurde soweit ich weiß nirgends der Vorteil einer Neuregelung erläutert. Sollte jemand einen faktischen Mehrwert sehen würde ich mich über eine Darstellung freuen.
Das Argument, dass die Natur nur mittelbar zum Nutzen des Menschen geschützt sei, wie es in einem anderen Aufsatz einmal vorgebracht wurde, ist m.E. nicht haltbar. So steht bereits in § 1 Abs. 1 BNatSchG:
Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eigenen Wertes und […] nach Maßgabe der nachfolgenden Absätze so zu schützen, dass
1. die biologische Vielfalt,
2. die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts einschließlich der Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter sowie
3. die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft
auf Dauer gesichert sind; der Schutz umfasst auch die Pflege, die Entwicklung und, soweit erforderlich, die Wiederherstellung von Natur und Landschaft (allgemeiner Grundsatz).
[…] und Mordaufrufe treffen müsse. Telegram habe nicht reagiert. Rechte der Natur: Die Juristin Laura von Vitorelli, die für das Öko-Institut arbeitet, stellt auf dem JuWisBlog fest, dass das Gewässerschutzrecht in der EU schon heute “nicht rein anthropozentrisch […]
[…] der Natur bzw. bestimmten ökologischen Systemen Rechtspersönlichkeit zukommen zu lassen (z.B. von Vittorelli; Gutmann 2021). Die 8. Zivilkammer des Landgerichts Erfurt (erster Dieselfall sowie zweiter) […]