von ANNEMARIE KAHL
Zahlreiche Arbeiten beschreiben die Entwicklung der Grundrechtsdogmatik als Ausweitung (z.B. Dreier 2024). Dieser Beitrag untersucht, ob sich im persönlichen Schutzbereich politisch-gesellschaftliche Debatten repräsentativ widerspiegeln. Taugt der persönliche Schutzbereich als Instrument, um Wandel messbar zu machen? Weitet sich der persönliche Schutzbereich aus?
Der persönliche Schutzbereich ist keine „verstaubte Mottenkiste“
Auf den ersten Blick erfordert der persönliche Schutzbereich eine einfache Entscheidung: Entweder der Wortlaut sieht ein Deutschengrundrecht oder ein Jedermannsgrundrecht vor. Eine abgestufte oder gar stufenlose Skala ist im Wortlaut des ersten Abschnitts des Grundgesetzes nicht angelegt. Dass eine Beschäftigung mit dem persönlichen Schutzbereich aus einer wissenschaftlichen Perspektive keineswegs dem Griff in eine „verstaubte Mottenkiste“ gleichkommt, sollen drei Beispiele veranschaulichen.
Erstens hat die Europäisierung den Wortlaut der Deutschengrundrechte an seine Grenzen geführt. Nach der Einführung einer Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV) verlangen das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art. 18 Abs. 1 AEUV und die Grundfreiheiten aus Art. 34, 45, 49, 56 und 63 AEUV unter bestimmten Voraussetzungen, Unionsbürger und Deutsche gleich zu behandeln. Um dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts gerecht zu werden, bot die deutsche Grundrechtsdogmatik zwei Lösungen ohne eine textliche Änderung des Grundgesetzes an. Entweder der Begriff des „Deutschen“ (vgl. Art. 116 Abs. 1 GG) wird so ausgelegt, dass er Personen mit Unionsbürgerschaft umfasst; mit anderen Worten sind Personen mit Unionsbürgerschaft zugleich Deutsche. Oder der sachliche Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG wird erweitert um die Rechte aus den jeweils betroffenen Deutschengrundrechten. Der persönliche Schutzbereich erhält eine neue, differenzierte Funktion.
Das zweite Beispiel betrifft den Einfluss der postkolonialen Theorie auf den persönlichen Schutzbereich. Fischer-Lescano (2022) kritisiert Deutschengrundrechte als Anachronismus eines kolonialen Staatsangehörigkeitsrechts des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine fundamentale Kritik wird nicht überall geteilt (Rezensionen), hat aber die Diskussion um eine machtkritische Perspektive ergänzt.
Drittens finden sich indirekte Einflüsse aus der Umwelt- und Klimaschutzbewegung wieder. Fridays for Future erneuerte die Erkenntnis, dass ein (persönlicher) Schutzbereich keine Altersgrenze beinhaltet. Davon zu unterscheiden sind Ansätze, der Natur bzw. bestimmten ökologischen Systemen Rechtspersönlichkeit zukommen zu lassen (z.B. von Vittorelli; Gutmann 2021). Die 8. Zivilkammer des Landgerichts Erfurt (erster Dieselfall sowie zweiter) hat dies teilweise aufgegriffen. Wenn objektives Recht aus Art. 20a GG um subjektives Recht erweitert wird, wird sich ein bestimmtes Verhältnis zu bestehenden dogmatischen Konzepten bilden, z.B. zum Verständnis des persönlichen Schutzbereichs und zu Art. 19 Abs. 3 GG.
Die drei Beispiele zeigen Anlässe, aktuelle politisch-gesellschaftliche Fragen im oder um den persönlichen Schutzbereich zu verhandeln. Sind diese Stichproben repräsentativ?
Die Gegenprobe: Debatten mit Bezug zu anderen dogmatischen Prüfungsebenen
Umfangreiche Debatten der letzten Jahrzehnte haben sich in anderen dogmatischen Prüfungspunkten niedergeschlagen. Sie haben vor allem die Konkretisierung des sachlichen Schutzbereichs bestimmter Grundrechte bewirkt, etwa der Versammlungsfreiheit (1985) durch Anti-AKW-Proteste oder der Meinungsfreiheit (1995) durch die Friedensbewegung. Globalisierungskritische Proteste haben eigene Rechtsprechungslinien zum sachlichen Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ausgelöst (z.B. zu Gipfeltreffen oder für den öffentlichen Raum 2011 und 2015). In ähnlicher Weise wurden Fragen der sozialen oder der sexuellen Identität vor allem im sachlichen Schutzbereich bestimmter Grundrechte thematisiert. Sie betrafen insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht (1980) sowie Ehe und Familie. Eigene Begründungsfiguren wie die Sphärentheorie haben sich etabliert.
An manchen Stellen ging das Bundesverfassungsgericht über bisherige sachliche Schutzbereiche so weit hinaus, dass von einem neuen Grundrecht gesprochen wird. Die Digitalisierung veranlasste das Bundesverfassungsgericht, u.a. ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung (1983) zu entwickeln. Die Schulschließungen in der Coronavirus-Pandemie gaben Anlass für ein Recht auf schulische Bildung (2021).
Andere politisch-gesellschaftliche Debatten haben den persönlichen Schutzbereich von Freiheitsgrundrechten bislang nicht beeinflusst – etwa deutsch-deutsche Identitätsfragen. Die friedliche Revolution 1989/90 zielte gerade auf die nunmehr auch faktische Geltung von Grundrechten. Die ostdeutsche Mehrheitsgesellschaft hat sich (auch) als deutsch identifiziert, sodass ein Anlass für dogmatische Fortentwicklungen fehlte.
Die postmigrantische Gesellschaft (z.B. Foroutan 2021) stellt dagegen ein Diskursbeispiel dar, das allmählich Einfluss auf die Dogmatik zum persönlichen Schutzbereich gewinnt. Migrantische Personen waren ohne deutsche Staatsangehörigkeit zunächst vom Einfluss abgeschnitten. Die Änderung des Asylrechts einschließlich des Grundrechts in Art. 16a GG hatte eine gegenläufige, begrenzende Ausrichtung und beeinflusste die Dogmatik zum persönlichen Schutzbereich nicht langfristig. Erst über den Umweg juristischer Personen nimmt der Diskurs Einfluss auf die hier untersuchte Dogmatik: Das Merkmal „inländisch“ in Art. 19 Abs. 3 GG bezieht sich direkt auf die juristische Person und nicht auf die Staatsangehörigkeiten ihrer Mitglieder (2000). So ist ein kollektiver Zugang zu Deutschengrundrechten gemeinsam mit Deutschen eröffnet. Einer direkten Umgehung tritt die h.M. jedoch entgegen, indem ein Mindesteinfluss Deutscher gefordert wird. Ein Umweg über Art. 19 Abs. 3 GG findet sich auch bei global organisierten Unternehmen. Mit der (effektiven) Sitztheorie wird an ein beeinflussbares Verhalten angeknüpft.
Im Ergebnis ergibt die Gegenprobe, dass sich nur bestimmte politisch-gesellschaftliche Diskurse im persönlichen Schutzbereich widerspiegeln. Michael beschreibt Verfassungswandel als Wechselbeziehung zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten (RW 2014, 426). Der persönliche Schutzbereich für Personen mit Unionsbürgerschaft hat sich über den Wortlaut oder eine Wechselbeziehung zu Art. 2 Abs. 1 GG ausgeweitet. Daneben entwickelt sich der persönliche Schutzbereich über Art. 19 Abs. 3 GG. Demgegenüber richtet Munaretto den Fokus auf den sachlichen Schutzbereich. Die als Gesellschaft der Singularitäten (Reckwitz 2019) beschriebene Individualisierung führe gleichfalls zu einer „Verlagerung der grundrechtlichen Diskurse auf die Arbeit am einzelnen Grundrecht“ (Munaretto, AöR 148 (2023), 351, 381). Im persönlichen Schutzbereich führt mehr Kollektivität zu mehr individuellen Rechten.
Persönlicher Schutzbereich als selektiver Spiegel
Nur ein zufälliger Ausschnitt politisch-gesellschaftlicher Diskurse erreicht das Glas des Spiegels. Obendrein absorbiert der Spiegel eine bestimmte Auswahl, anstelle sie überhaupt oder zeitnah widerzuspiegeln. Der Spiegel folgt also nicht den Gesetzen der Physik. Die dogmatische Entwicklung des persönlichen Schutzbereichs entspricht einem selektiven, nicht repräsentativen Spiegel. Das Spiegelbild ist dennoch aussagekräftig im Sinne einer qualitativen Auswahl.
Trotz eines scheinbar eindeutigen Wortlauts zeigen die Beispiele die Anschlussfähigkeit der Grundrechtsdogmatik an politisch-gesellschaftliche und kulturwissenschaftliche Diskurse. Letztlich sind Grundrechte Teil einer offenen Verfassungsordnung. Die Mechanismen der Reaktion auf politisch-gesellschaftliche Einflüsse und Grenzen der Lernfähigkeit sind offen.
Der persönliche Schutzbereich wird über das Wechselspiel aus Wortlaut bzw. Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 3 GG erweitert. Auf diese Weise entstehen Graustufen, also eine Skala, die der Wortlaut nicht nahelegt. Offen ist, ob das dichotome Konzept des persönlichen Schutzbereichs die Geschwindigkeit der Veränderung beeinflusst, diese etwa reduziert oder gerade beschleunigt. Das Fehlen einer Skala bewirkt jedenfalls, dass Auswahl und Brüche der Spiegelung besonders deutlich zu sehen sind. Die Differenzierung hin zu einer Skala ist zulässig. Sie öffnet das Grundgesetz vorsichtig für eine Veränderung, begrenzt diese Dynamik aber zugleich. Der persönliche Schutzbereich eignet sich also durchaus, Wandel durch politisch-gesellschaftliche Einflüsse sichtbar zu machen.
Zitiervorschlag: Kahl, Annemarie, Der persönliche Schutzbereich – ein Spiegel politisch-gesellschaftlicher Einflüsse?, JuWissBlog Nr. 76/2024 v. 19.11.2024, https://www.juwiss.de/76-2024/
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