Mit einem schönen Zitat aus dem Hebräerbrief sagt man, fides sperandarum substantia rerum [est], argumentum non apparentium. Dass der Glaube also eine feste Grundlage dessen ist, was man hofft, und ein Beweis dessen, was man nicht sieht. Was im religiösen Bereich einen Wahrheitsanspruch haben mag, kann aber sich im Juristischen durchaus problematisch erweisen. Denn res sperandae, Sachen also, die nur erhofft werden, bilden kein argumentum für Entscheidungen, die man doch sieht und Auswirkungen auf die Grundrechte Vieler haben.
Im Diskurs über infektionsschutzrechtliche Maßnahmen ist ein solches Problem sehr früh aufgetreten. Denn ganz am Anfang dieser Pandemie, als solide medizinwissenschaftliche Erkenntnisse über Verbreitung und Verlauf der Krankheit eine Mangelware darstellten, forderten nicht wenige, infektionsschutzrechtliche Maßnahmen zielgerichtet auf die „Risikogruppen“ zu fokussieren – und zwar, dachte man damals, auf ältere Männer, gegebenenfalls samt Gattinnen – und gleichzeitig den Rest der Gesellschaft von der schweren Bürde zu entlasten. Der Gedanke mochte theoretisch richtig gewesen sein, die Erkenntnisse bewiesen aber schnell, dass die Demarkationslinie der „Risikogruppen“ weniger kategorisch verläuft, als man anfangs glaubte. Eine verfrühte Herausnahme des Gros der Gesellschaft aus den infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen ohne ausreichende medizinwissenschaftliche Beweise hätte sich nur auf das Erhoffte gestützt und damit die Gesundheit Vieler gefährdet. Zu Recht wurde dies vermieden. Was dennoch aus dieser Debatte blieb, war der wissenschaftlich unfundierte Eindruck, die gegenwärtige Pandemie betreffe ausschließlich die Älteren, die Jüngeren seien voll und ganz raus. Als man diese nur auf das Erhoffte gestützte Behauptung endlich abräumen konnte, brannte vielerorts bereits die Zündschnur weiterer pandemischer Wellen. Die italienische Volksweisheit würde hier besagen, man hat den Stall geschlossen, als die Ochsen bereits ausgegangen waren.
Diesen Fehler dürfen wir in der jetzigen Debatte über „Impfprivilegien“ nicht begehen. Denn res sperandae, Sachen, die man voller Hoffnung präsumiert, eignen sich gut für eine hypothetische Debatte darüber, was es in dem Fall zu tun wäre, dass sie sich bewahrheiten würden. Für Entscheidungen, die die Grundrechte vieler Menschen betreffen – darunter deren Leben, stellt aber das Erhoffte kein tragbares argumentum dar. Nur solide wissenschaftliche Erkenntnisse können das, und sie fehlen uns noch. Die Einhaltung des aus dem Gesundheitsgrundrecht abzuleitenden Präventionsprinzips im Infektionsschutz (in Deutschland: § 1 I IfSG) und des im Gleichheitssatz verankerten Willkürverbotes erfordert, dass infektionsschutzrechtliche Ausnahmeregelungen entweder (I) allgemeine Präventionsmaßnahmen in geänderter, punktuell austarierter Form umsetzten, oder (II) auf belastbaren Annahmen der Nichtgefährdung basieren, wenn sie das Präventionsprinzip großräumig ausklammern. Tertium non datur. Die reine Erwartung belastbarer positiver Kenntnisse aus der Medizin und die Hoffnung darauf stellen kein Gut dar, das das Präventionsgebot des Infektionsschutzrechts überwiegen kann. Denn dieses zielt nicht nur auf die Heilung Einzelner, sondern vielmehr auf die kollektive „Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen“ ab (§§ 1, 28, 28a IfSG). Nur auf Basis fundierter Annahmen der aktiven Nichtgefährdung darf also der Normgeber eine grundsätzliche Herausnahme von Präventionsmaßnahmen gewähren. Wenn man mit „Impfpässen“ und „Sonderrechten für Geimpfte“ eine durch infektionsschutzrechtliche Präventionsmaßnahme weniger beschränkte Ausübung der Grundrechte meint, dann ist es zu kontern, dass eine unterschiedliche Intensität solcher Maßnahmen sich nur insoweit effektiv und willkürfrei gestalten lässt, als die betroffene Personengruppe sich sowohl bedeutsam weniger verwundbar gegenüber der infektiösen Krankheit erweist als auch bedeutsam weniger zur Verbreitung der Krankheit beiträgt. Sonst liefe der Infektionsschutz ins Leere. Während man von Ersterem anhand der Impfstudien ausgegangen werden kann (dies war schließlich die Voraussetzung für die Zulassung), steht Zweiteres im Moment noch aus.
Auch wenn es außerdem soweit wäre, dass eine geringere Ansteckungsgefahr durch die Geimpften sich medizinwissenschaftlich beweisen ließe, sollte man die Aspekte des großen Themas Pandemieschutz und Grundrechte nicht einfach nach dem Schema aneinanderreihen, wonach die Gruppe der Nicht- oder Noch-Nicht-Geimpften in ein immaterielles Siechenhaus aus Verboten und Anweisungen gesperrt wird, während der Rest untereinander feiert. Gegen gesellschaftliche Absonderung Kranker und Krankheitsgefährdeter sprechen viele Gründe, nicht zuletzt aus der Perspektive der Menschenwürde. Zudem kommt, was Fabian Michl auf „Verfassungsblog“ treffend schrieb, und zwar dass jeder Status, mag seine Schaffung auch von den besten Motiven getragen sein, die hässliche Tendenz hat, soziale Unterschiede zu verstärken oder sogar erst zu schaffen. Jeder Status droht die Gesellschaft noch weiter zu fragmentieren, in Statusinhaber und Statuslose, Immune und potentiell Infizierte.
Auf solide medizinwissenschaftliche Erkenntnisse hat aber nicht nur der Normgeber zu warten, sondern auch die öffentliche Debatte. In dieser nicht unerheblich ist die Stimme der Rechtswissenschaft, welche natürlich auch über den Elfenbeinturm hinaus herhört wird und in einer offenen und aufmerksamen Gesellschaft eine Verantwortung darüber trägt, welche Erwartungen an die Entscheidungsträger wachsen. Mit hypothetischen Sonderrechtedebatten, die auf keinen belastbaren Beweisen fußen, sollte man mit Vorsicht und vielen Konjunktiven umgehen, denn falsche Hoffnungen sind leicht zu wecken, während ihre Folgen sich leider aus dem rein hypothetischen Bereich verabschieden können. Damit der öffentliche Diskurs über mögliche Sonderrechte für Geimpfte nicht so „überflüssig und nutzlos“ wird, wie es aus der Ständigen Impfkommission des RKI heißt, sollte man einerseits große Behutsamkeit wegen der noch ausstehenden wissenschaftlichen Belege bewahren, und andererseits die kritische Frage erörtern, ob und wie eine Absonderung bestimmter Gruppen juristisch verträglich und gesellschaftlich erwünscht ist.
Dass man aber weiter hofft, ist nicht nur tröstlich, sondern auch von zentraler Bedeutung dafür, dass man an dem heute Erhofften forscht, damit es zur festen Grundlage unserer Zukunft wird. Und das meinte der Verfasser des Hebräerbriefs vielleicht auch.
Zitiervorschlag: Edoardo D’Alfonso Masarié, Phantastische Geimpftenrechtedebatten und wie sie zu meiden sind, JuWissBlog Nr. 11/2021 v. 27.01.2021, https://www.juwiss.de/11-2021/.