von CHRISTOPH TOMETTEN
Fünf Millionen Menschen sollen endlich eine aufenthaltsrechtliche Perspektive in den USA bekommen! Das versprechen die Maßnahmen, die der Präsident am 20. November angekündigt hat. Hat Obama tatsächlich vollbracht, wozu die US-Politik seit Reagan unfähig war? Dürfen wir liberalen Europäer*innen Obama endlich wieder bewundern? Fakt ist: Ein Bleiberecht für Millionen können wir uns hierzulande wohl nur erträumen. Dennoch ist bei allem Jubel zu etwas Vorsicht zu raten.
Die Pläne des Präsidenten sind umfassend. Grenzen sollen besser gesichert, straffällige Ausländer*innen konsequenter abgeschoben, Fachkräfte schneller ins Land geholt werden. Nebenbei werden undokumentierte Migrant*innen abgehandelt – in zwei Absätzen zwischen Sicherheitsrhetorik und wirtschaftlichen Erwägungen. Die Länge der Absätze ist sekundär (vier Wörter würden reichen, um alle Migrant*innen zu legalisieren), eins fällt aber bei der Lektüre auf: von „Legalisierung“ ist dort nicht die Rede. Stattdessen sollen Abschiebungen für zwei Gruppen ausgesetzt werden: Menschen, die als Kinder in die USA eingereist sind, und Eltern von Kindern mit US-amerikanischer Staatsangehörigkeit oder einem dauerhaften Aufenthaltsrecht. Deferred action heißt das im amerikanischen Behördenjargon.
DACA – eine Duldung für Kinder
Ein Programm soll erweitert werden, das Obama selbst ins Leben gerufen hatte. Deferred Action for Childhood Arrivals (DACA) bedeutete: Menschen, die vor dem 15. Juli 2007 als Kinder in die USA gekommen sind und am 15. Juli 2012 nicht älter als 31 waren, wurden nicht mehr abgeschoben, wenn sie die Schule besuchten oder abgeschlossen hatten und weder straffällig geworden waren oder als Gefahr für die öffentliche Sicherheit galten. Nun wird der erste Stichtag auf den 1. Januar 2010 verschoben und der zweite Stichtag gestrichen: wer vor 2010 als Kind eingereist ist, soll bleiben und auch arbeiten dürfen. Das bedeutet für die Betroffenen viel, ein Sieg auf ganzer Linie ist es aber nicht. Denn da die Abschiebung lediglich ausgesetzt wird, bleibt der Aufenthalt grundsätzlich rechtswidrig. Aussicht auf eine reguläre Aufenthaltserlaubnis oder gar die Einbürgerung gibt es nicht. Und was nur ausgesetzt ist, kann jederzeit wieder aufgenommen werden. In Deutschland nennt man das Duldung, amtsdeutsch: „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ – und dieses Rechtsinstitut wird seit Jahren vehement kritisiert. Es liefert die Betroffenen einem Ermessen der Behörden aus, das so weit gefasst ist, dass es der Willkür zwangsläufig nahe kommt und ihre Grenzen nicht selten überschreitet.
Dass Geduldete seit dem 7. November einfacher und schneller Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten, verdeutlicht, wie sehr DACA der Duldung ähnelt. Ein Unterschied aber ist relevant: Auch wenn es in Deutschland noch keine allgemeine, stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung gibt, steht Menschen, die als Minderjährige eingereist sind, ein Weg in die aufenthaltsrechtliche Legalität offen. „Gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende“ können eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn sie bestimmte Voraussetzungen nach § 25a Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes erfüllen. Anders als in den USA handelt es sich dabei wirklich um eine Legalisierung, da der Aufenthalt der Betroffenen rechtmäßig und eben nicht nur geduldet wird. Die Mängel der US-amerikanischen Lösung werden offensichtlich, wenn man die Situation der Eltern bedenkt. Auch für Eltern „gut integrierter Jugendlicher und Heranwachsender“ gibt es in Deutschland einen Weg in die aufenthaltsrechtliche Legalität: Die Anforderungen an die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind zwar hoch und tragen dem im Grundgesetz verankerten Schutz der Familie nicht hinreichend Rechnung. DACA aber sieht nicht einmal vor, dass Eltern „geduldeter“ Kinder vor der Abschiebung geschützt werden.
Eine Duldung für Eltern: Gebot der Vernunft
Etwas anderes soll fortan gelten, wenn die Kinder die US-amerikanische Staatsangehörigkeit haben oder permanent residents sind (sprich: eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis haben). Dann wird die Abschiebung nach dem Willen Obamas ausgesetzt. Ein Gebot der Vernunft, möchte man meinen, denn nur so wird verhindert, dass die eigenen Staatsangehörigen durch die Abschiebung der Eltern faktisch zur Ausreise gezwungen werden. Die Vernunft hat aber immer noch nicht auf ganzer Linie gesiegt: Die Abschiebung wird nur ausgesetzt, wenn die Eltern nachweislich fünf Jahre in den USA gelebt haben. Es gilt der Grundsatz: Je kleiner das Kind, desto eher kommt die Abschiebung der Eltern doch in Betracht.
In Deutschland bekommen Eltern deutscher Kinder ohne weiteres eine Aufenthaltserlaubnis – eine der wenigen Möglichkeiten der aufenthaltsrechtlichen Legalisierung in Deutschland. Eltern ausländischer Kinder müssen zwar grundsätzlich nachweisen, dass der Lebensunterhalt der Familie gesichert ist, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Doch bei engen Bindungen nach Deutschland steht das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens einer Abschiebung entgegen, sodass auch ohne Sicherung des Lebensunterhalts eine Duldung nach § 60a Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes und letztendlich auch eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes zu erteilen ist.
Das bedeutet nicht, dass Deutschland alles richtig macht, wo die USA noch irren: Wie in den meisten Staaten Amerikas genügt zum Erwerb der US-amerikanischen Staatsangehörigkeit die Geburt im Inland. Das bleibt für die deutschen Konservativen, die die Sakralität des Blutes hochhalten, trotz der jüngsten Entwicklungen im Staatsangehörigkeitsrecht unvorstellbar. Auch in anderen, fortschrittlicheren Ländern Europas reicht die Geburt im Inland nicht aus, um die Staatsangehörigkeit zu erwerben, wenn sich kein Elternteil rechtmäßig dort aufhält. Im Aufenthaltsrecht haben die USA größeren Nachholbedarf als Deutschland; im Staatsangehörigkeitsrecht verhält es sich umgekehrt. Unter dem Strich unterscheidet sich der Umgang mit dem non-citizen daher vielleicht doch nicht so sehr.
Für fünf Millionen Menschen bedeuten Obamas Pläne greifbare Verbesserungen. Sie sind ein Schritt in die richtige Richtung. Aber der Weg ist noch lang.