von JOHANNES KÜHLE
Angenommen, die Aktivist:innen der „letzten Generation“ blockierten nach der Berliner A100 und diversen (Flug-) Häfen den meistbefahrenen Autobahnabschnitt Deutschlands, die A3 beim Dreieck Köln-Heumar. Die nordrhein-westfälische Polizei könnte dann seit 2022 unmittelbar Maßnahmen ergreifen. Denn § 13 I 3 des neuen NWVersG verbietet umfassend Versammlungen auf Bundesautobahnen. Dieser Beitrag wird anlässlich aktueller Debatten um die Legalität bestimmter Protestformen die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung unter Bezugnahme auf aktuelle verfassungs- und verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung untersuchen (allgemein zum NWVersG Fürst/Kühne).
Kurz vor knapp ein Änderungsantrag
Die NRW-Landesregierung (CDU/FDP) vermittelte deutlich, dass ihr Aktionen zivilen Ungehorsams der Klimabewegung ein Dorn im Auge sind. Das unbestimmte Militanzverbot in § 18 I Nr. 3 des NWVersG-Entwurfs wurde zwar entschärft; dass die Landesregierung die weißen Maleranzüge von „Ende Gelände“ in die Nähe von SA- und SS-Uniformen rückte, bleibt aber in Erinnerung. Stattdessen tauchte elf Tage vor Verabschiedung § 13 I 3 NWVersG in einem Änderungsantrag auf. Offenbar geschah dies als Reaktion auf Abseilaktionen über Autobahnen. Als einziges unter sieben Bundesländern, die gem. Art. 125a I GG ein eigenes Versammlungsgesetz verabschiedet haben, bezieht sich das nun geltende NWVersG explizit auf Autobahnaktionen.
Ein Wortlaut, viele Möglichkeiten
„Auf Bundesautobahnen finden keine Versammlungen statt“. § 13 I 3 ist unglücklich formuliert, möglicherweise schreckte der Gesetzgeber vor der Normierung eines expliziten Versammlungsverbots zurück. Sind Aktionen auf Autobahnen entgegen dem Versammlungsbegriff per se keine „Versammlungen“, nicht vom NWVersG erfasst? Liegen darin stets „unmittelbare Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ gem. § 13 I 1? Gilt hier die Polizeifestigkeit nicht? Wegen solcher Uneindeutigkeiten verlangten die Grünen eine erneute Anhörung im Landtag – vergeblich.
Warum ausgerechnet auf Autobahnen?
Erst aus der Begründung ergibt sich deutlich, dass ein pauschales Versammlungsverbot gemeint ist. Versammlungen dieser Art seien ausnahmslos zu verbieten, ohne Anmeldung durchgeführte Versammlungen aufzulösen.
Die Landesregierung hatte Versammlungen auf Autobahnen schon zuvor kritisiert. Diese Argumentation wird dahingehend erneuert, dass Autobahnen unter „keinen denkbaren juristischen Gesichtspunkten“ Orte kommunikativen Austauschs seien. Demos gegen Autobahnbau oder den individuellen Massenverkehr könnten an anderen Orten stattfinden, an denen sie nicht schwer beherrschbare Gefahrenlagen verursachen. Schließlich bestehe keine BVerfG-Rechtsprechung, die Autobahnen in die freie Wahl des Versammlungsorts nach Art. 8 I GG einbezieht.
Straßenblockaden vor dem BVerfG
„Kein denkbarer juristischer Gesichtspunkt“ – in einem Rechtsstaat, der die Versammlungsfreiheit als unverzichtbares demokratiekonstitutives Grundrecht gewährleistet, ist das eine bedenkliche These. Bald wird sich das NWVersG auch vor Gericht in Verfassungsbeschwerden, die das Bündnis „Versammlungsgesetz stoppen“ angekündigt hat, an Art. 8 I GG messen lassen.
Die Andeutung der Landesregierung, das BVerfG müsse die Grundrechtsrelevanz von einzelnen Versammlungsorten positiv feststellen, ist absurd. Nicht die individuelle Freiheitsausübung, sondern die staatliche Freiheitseinschränkung ist unter dem GG rechtfertigungsbedürftig. Tatsächlich hat sich das BVerfG bislang nicht konkret zu Autobahnblockaden geäußert. Zu Straßenblockaden besteht aber eine differenzierte Verfassungsrechtsprechung, die nach dem Brokdorf-Beschluss wie folgt weiterentwickelt wurde:
Das BVerfG bestätigte im März 2011 die Strafbarkeit von Blockierenden wegen Nötigung (§ 240 I StGB) in mittelbarer Täterschaft, weil KFZ in der ersten Reihe vor Demonstrant:innen anhalten müssen und damit ein physisches Hindernis für die freie Weiterfahrt nachfolgender KFZ darstellen (Rn. 29). Bei friedlichen Versammlungen lenkt aber Art. 8 I GG die Auslegung der „Verwerflichkeit“ der Nötigung gem. § 240 II StGB. Verwerflich sei bei friedlichen Versammlungen nur eine „selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener konkreter Forderungen“ (Rn. 35). Näheres hängt von der Zweck-Mittel-Relation, konkret von den jeweiligen Interessen von Blockadebeteiligten und Blockadebetroffenen ab.
Abwägungsbelange sind vorrangig Art und Maß der Auswirkungen auf Grundrechte Dritter. Weiterhin sind Dauer und Intensität der Aktion, die Bekanntgabe, die Dringlichkeit des blockierten Transports und der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand entscheidend; auf Nutzen oder Relevanz des Anliegens kommt es hingegen nicht an (Rn. 39).
Erstens liefert das BVerfG also erwartungsgemäß keine Anhaltspunkte für pauschale Versammlungsverbote auf Verkehrsadern. Zweitens fordert es eine besonders ausdifferenzierte Abwägung widerstreitender Interessen, welche den Grundrechtsträger:innen Anreize für vielfältige und kreative Protestformen bietet. Die für die strafrechtliche Beurteilung maßgebenden Kriterien erlangen schon bei der gefahrenabwehrrechtlichen Entscheidung über Versammlungsbeschränkungen und -verbote Bedeutung (siehe die hessischen Urteile unten). Dagegen bleibt § 13 I 3 NWVersG undifferenziert, Versammlungsverbote sind absoluter Regelfall – gerade ohne gesetzlich vorgesehene Ausnahme.
Vorfahrt für die Versammlungsfreiheit
Das Argument, die Polizeibehörden seien mit vielfältigen, diffusen, kaum beherrschbaren Gefahrenlagen mit hohem Schadenspotenzial konfrontiert, betrifft insbesondere die gewichtigen von Art. 2 II GG geschützten Rechtsgüter: Leben, körperliche Unversehrtheit, allgemeine Fortbewegungsfreiheit.
Über „natürliche“ Staus hinaus haben Autobahnblockaden zwei mögliche Gefahrenschwerpunkte: Aktivist:innen provozieren gefährliche Ausweichmanöver und Einsatzfahrzeuge kommen nicht durch. Das OVG NRW meint, Verkehrsinteressen dürfe auf Bundesfernstraßen erhebliche, auch vorrangige Bedeutung beigemessen werden, und stellt insbesondere auf den Schutz der Rechtsgüter des Art. 2 GG (!) durch „Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs“ ab (siehe auch VG Köln). Bei gewichtigen Verkehrsinteressen sei das Selbstbestimmungsrecht über Versammlungsort und -modalitäten aus Art. 8 I GG zu begrenzen.
Im Übrigen ist ein pauschales Verbot keineswegs das grundrechtsschonendste Mittel, um diesen Gefahren zu begegnen. Hessische Gerichte beispielsweise urteilen in zwei jüngeren Entscheidungen differenziert: Zugunsten einer Fahrraddemo auf A7 und A66 würdigte der VGH Hessen umfassend Versammlungszeit, Umleitungsmöglichkeiten sowie Passierstellen für Rettungsfahrzeuge. Und kürzlich hat das VG Frankfurt a.M. eine Abseilaktion mit direkter Bezugnahme auf Klimaschutz und Verkehrswende im freitäglichen Feierabendverkehr für zulässig erklärt, für welche die zentrale Frankfurter A648 für eine halbe Stunde gesperrt wurde – die Fortbewegungsfreiheit möglicher Betroffener musste zurücktreten. Mit solchen grundrechtswahrenden Kompromissen sollen sich nordrhein-westfälische Versammlungsbehörden offenbar nicht herumschlagen müssen.
§ 13 I 3 NWVersG – grundgesetzwidrig?
SPD und Grüne wollten das NWVersG als Grundrechtsgewährleistungsgesetz, verabschiedet hat die Regierung ein Gefahrenabwehrgesetz. Entlang dieser Konfliktlinie, die auch etwa das ausufernde Störungsverbot (§ 7 NWVersG) prägt, verläuft die notwendige Debatte zu § 13 I 3. Die Regelung ist ein direkter Schlag gegen die Klimabewegung. Wie legal und legitim die Mittel sind, mit denen die Aktivist:innen derzeit starke Schritte gegen Umweltzerstörung und Lebensmittelvernichtung einfordern, werden andere beurteilen. Falls die „letzte Generation“ demnächst NRWs Autobahnen blockiert, wird die Öffentlichkeit jedenfalls einen er(n)sten Anwendungsfall einer mit der Versammlungsfreiheit in dieser Form unvereinbaren Regelung erleben.
Zitiervorschlag: Johannes Kühle, Festgeklebt auf NRWs Autobahnen? § 13 I 3 NWVersG und die Versammlungsfreiheit, JuWissBlog Nr. 14/2022 v. 3.3.2022, https://www.juwiss.de/14-2022/.
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