von SHINO IBOLD
Am 14. Januar 2020 fällte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts seine seit langem erwartete Entscheidung zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen, im Rahmen derer faktisch über ein Kopftuchverbot im Bereich der Justiz allgemein geurteilt wurde. Der erkennbaren Tendenz aus dem Beschluss vom 27. Juni 2017 im einstweiligen Rechtsschutzverfahren folgend, befand die Richter*innenmehrheit das Verbot für verfassungsgemäß – und versäumte so einmal mehr den Grundrechtsschutz kopftuchtragender Musliminnen.
Unter Berufung auf den Grundsatz richterlicher Zurückhaltung und Verweis auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers gelangt der Senat zu der Ansicht, dass „keiner der kollidierenden Rechtspositionen […] ein derart überwiegendes Gewicht zu[komme], das verfassungsrechtlich dazu zwänge, der Beschwerdeführerin das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben“ (Rn. 102).
Der Beitrag widmet sich den Rechtfertigungserwägungen des Senats und zeigt auf, dass eine gleichheitsrechtliche Betrachtung hier noch unausgeschöpfte Potentiale bietet.
Die kollidierenden Verfassungsgüter
Als „mit der Glaubensfreiheit in Widerstreit tretende Verfassungsgüter, die einen Eingriff in die Religionsfreiheit im vorliegenden Zusammenhang rechtfertigen können“, benennt der Senat den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität (Rn. 87ff.), die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege (Rn. 91f.) und die negative Religionsfreiheit von Verfahrensbeteiligten (Rn. 93ff.). Das Gebot richterlicher Unparteilichkeit sowie der Gedanke der Sicherung des weltanschaulich-religiösen Friedens kämen für eine Rechtfertigung hingegen nicht in Betracht.
Insbesondere die Aufspaltung der verschiedenen Rechtfertigungsgründe der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sowie der Unparteilichkeit von Richter*innen fällt ins Auge, hatte das Verfassungsgericht doch im einstweiligen Rechtsschutz diese Aspekte unter dem Schlagwort staatlicher Neutralität noch gemeinsam erörtert (Rn. 47ff.) – und damit das Prinzip der offenen weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates mit dem Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit zu einer „weltanschaulich-religiösen Neutralität staatlicher Richter*innen“ „amalgamiert“. Eine nähere Betrachtung offenbart jedoch, dass auch die nunmehr erfolgte begriffliche Differenzierung durch den Senat im Ergebnis keine differenziertere Argumentation nach sich zieht.
Keine Betroffenheit des Gebots richterlicher Unparteilichkeit
Mit Blick auf das Gebot richterlicher Unparteilichkeit verweist der Senat zu Recht auf die Tatsache, die Verwendung eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst sei „für sich genommen […] nicht geeignet, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter zu begründen“. Bedenken hinsichtlich der Unparteilichkeit seien auch deswegen unbegründet, weil die betroffenen Frauen „in der zuvor absolvierten Ausbildung unter Beweis gestellt [haben], dass sie in der Lage sind, einen Rechtsfall unparteilich zu behandeln.“ Für tatsächlich problematische Einzelfälle verweist das Gericht auf bestehende Befangenheitsregelungen: „Das Institut der Richterablehnung kann in dieser Konstellation […] den Anspruch des jeweils Rechtssuchenden auf eine objektive Richterpersönlichkeit gewährleisten“ (Rn. 99). Soweit so richtig.
„Staatliche“ Neutralitätspflicht für Amtsträger*innen?
Wie bereits in seiner eigenen Entscheidung zum Kopftuch der Lehrerin stellt der Zweite Senat einleitend klar, dass Neutralität im Sinne des Grundgesetzes lediglich vom Staat verlange, „keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung [zu] betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung [zu] identifizieren“ (Rn. 88). Dabei müsse sich der Staat „nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen“ (Rn. 89).
Allerdings, und hier weicht der Zweite Senat von der Linie des Ersten Senats in der zweiten Kopftuch-Entscheidung ab, seien dem Staat da, wo er „auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung besonderen Einfluss“ nimmt, „abweichende Verhaltensweisen einzelner Amtsträger eher zurechenbar“. So erscheine eine Zurechnung in der „formalisierten Situation vor Gericht“, welche etwa die Verpflichtung von Richter*innen zum Tragen einer Amtstracht sowie das Erheben in wichtigen Prozesssituationen vorsieht, durchaus denkbar. In einem derartigen Kontext könne „[a]us Sicht des objektiven Betrachters […] das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden“ (Rn. 90).
Die Argumentation wirft verschiedene Fragen auf: Einerseits ist daran zu zweifeln, ob ein „objektiver Betrachter“ in Anbetracht der (individuellen) religiösen Praxis einer Minderheitenreligion wie dem Islam tatsächlich auf die Idee kommen könnte, der Staat als solcher identifiziere sich mit der jeweiligen Religion. Ein solcher Eindruck könnte realistischerweise wohl nur da entstehen, wo es um die jeweilige Mehrheitsreligion geht – wenn beispielsweise in Bayern das Kruzifix an der Wand des Gerichtssaales hängt.
Andererseits stellen sich Fragen bezüglich einer beschränkten Geltung der Grundrechte für Staatsbedienstete, welche die logische Konsequenz einer Zurechnung individueller Glaubensbekenntnisse zum Staat wäre – eine Wiederbelebung des „besonderen Gewaltverhältnisses“. Hier bestehen ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der Argumentation des Senats mit Artikel 33 Abs. 3 GG, welcher doch durch das Recht auf religionsunabhängigen Zugang zu öffentlichen Ämtern ausdrücklich verbietet, Personen aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses vom Richter*innenamt auszuschließen.
Förderung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege …
Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zähle zu den „Grundbedingungen des Rechtsstaats“ und setze voraus, „dass gesellschaftliches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die Justiz insgesamt existiert“, so der Senat (Rn. 91).
Diesbezüglich habe der Staat die „Aufgabe der Optimierung“, wobei das Verbot religiöser Bekundungen und der Verwendung religiöser Symbole durch den Staat und seine Amtsträger*innen als „Optimierungsmaßnahme“ in Betracht komme, denn
„die erkennbare Distanzierung des einzelnen Richters und der einzelnen Richterin von individuellen religiösen, welt-anschaulichen und politischen Überzeugungen [kann] bei Ausübung ihres Amtes zur Stärkung des Vertrauens in die Neutralität der Justiz insgesamt beitragen und [umgekehrt ist] die öffentliche Kundgabe von Religiosität geeignet, das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen.“
Im Ausgangspunkt steht hinter den Erwägungen des Senats ein plausibler Gedanke, welcher in der rund 100 Jahre alten Entscheidung R v Sussex Justices treffend auf den Punkt gebracht wird: “Justice should not only be done, but should manifestly and undoubtedly be seen to be done”. Tatsächlich ist ein gewisses Vertrauen in eine unparteiische und „gerechte“ Justiz wichtige Voraussetzung für ihr Funktionieren und das Funktionieren des Rechtsstaates allgemein.
… durch Bestätigung diskriminierender Vorurteile
Allerdings gründet sich, wie Anna Katharina Mangold anmerkt, der Beschluss des Senats auf „imaginierte Prozessbeteiligte oder Zuschauende, denen zugeschrieben wird, dass sie eine kopftuchtragende Richterin in der Regel als voreingenommen und nicht neutral wahrnehmen werden“. Für eine darauf gestützte Rechtfertigung der generellen Untersagung von Tätigkeiten im Bereich der Justiz durch kopftuchtragende Musliminnen bedürfte es ggf. einer Verifizierung dieser Annahmen.
Doch selbst wenn – wofür in Anbetracht der zunehmenden Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft einiges spricht – tatsächlich verbreitete Bedenken gegenüber muslimischen Richterinnen bestehen, so ist die hieran anknüpfende Verbotsregelung nicht minder problematisch, gerade aus der Perspektive des Anti-Diskriminierungsrechts.
Können Zweifel der Allgemeinheit oder einzelner Verfahrensbeteiligter an der Kompetenz muslimischer Richterinnen ein Kopftuchverbot rechtfertigen? Verdienen derartige, auf Vorurteilen gegenüber muslimischen Frauen gründende Bedenken und Ressentiments (denn dass tatsächlich keine Anhaltspunkte für eine fehlende Unparteilichkeit vorliegen, hat der Senat ja klargestellt!) den Schutz des Verfassungsrechts?
Vergegenwärtigt man sich, dass noch vor rund hundert Jahren vergleichbare Bedenken bezüglich der Zulassung von Frauen zum Richteramt allgemein verbreitet waren, so liegt die Antwort auf der Hand: Damals wurde ganz ähnlich argumentiert, die (männlich dominierte) Allgemeinheit habe vor der Frau nicht die notwendige Achtung, welche das Ansehen des Gerichts bzw. das Richter(*innen)amt erfordere.
Das Anti-Diskriminierungsrecht verlangt anstelle eines Nachgebens gegenüber diskriminierenden Vorurteilen deren Bekämpfung. Das Verbot des Kopftuchs im Bereich der Justiz knüpft dagegen selbst an bestehende Vorurteile gegenüber kopftuchtragenden muslimischen Frauen – konkret an die Negierung ihrer Befähigung zur Ausübung des Richter*innenamtes – an und perpetuiert so die damit einhergehende Diskriminierung. Zugleich bewirken das Verbot und seine gerichtliche Bestätigung eine weitere Diskriminierung: den Ausschluss kopftuchtragender Frauen von jeder Tätigkeit im Bereich der Justiz. Der Senat versäumt eine ernsthafte gleichheitsrechtliche Würdigung (Rn. 113), welche die exkludierende und Vorurteile perpetuierende Wirkung des Verbots hätte sichtbar machen können.
Keine überzeugende Differenzierung
Die Ablehnung des Arguments der richterlichen Unparteilichkeit bei gleichzeitiger Akzeptanz der Argumente der staatlichen Neutralität und der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege kann im Ergebnis nicht überzeugen. Es bleibt unklar, wieso einerseits „die öffentliche Kundgabe von Religiosität geeignet“ sein soll, „das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen“ (Rn. 92), wobei doch andererseits die Verwendung eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst „für sich genommen […] nicht geeignet“ sei, „Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter zu begründen“ (Rn. 99).
Diese Unterscheidung ist insbesondere auch deshalb wenig plausibel, weil das Gericht selbst von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen richterlicher und staatlicher Neutralität ausgeht: „Die Verpflichtung des Staates auf Neutralität kann keine andere sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität […], denn der Staat kann nur durch Personen handeln“ (Rn. 89).
Was auf den ersten Blick nach einer sorgfältigen Differenzierung aussieht, wirft bei näherer Betrachtung umso mehr Fragen hinsichtlich der bedenklichen Rechtfertigungserwägungen des Senats auf, die, gepaart mit der geübten richterlichen Zurückhaltung, den grundrechtlichen Schutz muslimischer Juristinnen vereiteln.
Zitiervorschlag: Shino Ibold, Richterliche Zurückhaltung gegenüber diskriminierenden Vorurteilen, JuWissBlog Nr. 16/2020 v. 2.3.2020, https://www.juwiss.de/16-2020/
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