Identitätspolitik steht seit einigen Jahren immer wieder im Fokus der öffentlichen Debatte und wird von einigen Stimmen in der Debatte gemeinsam mit der „Cancel Culture“ als Grund für den Untergang der Demokratie verantwortlich gemacht. Sie sorge laut dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) für einen Ausschluss von Nicht-betroffenen-Personen und verschließe dadurch den Diskurs in einer offenen Demokratie. Sein Votum: Identitätspolitik sei demokratiefeindlich – unabhängig davon, ob es sich um rechte oder linke Identitätspolitk handele. Aber was ist Identitätspolitik überhaupt und inwiefern ist Identität im Verfassungsrecht ein relevanter Begriff? Dieser Beitrag widmet sich der historischen Entwicklung und den Kernelementen des Begriffs, um darauf folgend Identität verfassungsrechtlich zu verorten. Dabei wird deutlich, dass das rechtliche Verständnis von Identität und das Konzept der Identitätspolitik durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen. Gleichzeitig steht linke Identitätspolitik nicht im Widerspruch zum Demokratieverständnis, sondern kann ein Instrument für Minderheiten sein, um sich im politischen Diskurs Gehör zu verschaffen.
Partizipation und Sichtbarkeit als Bedingungen der Identitätspolitik
Was kann unter Identität überhaupt verstanden werden? „Identität, das ist der Schnittpunkt zwischen dem, was eine Person sein will, und dem, was die Welt ihr zu sein gestattet.“ Durch dieses Zitat des Psychologen Erik H. Erikson lassen sich bereits Anknüpfungspunkte zur Identitätspolitik erkennen. Identität bildet sich immer in einem Dialog zur Außenwelt – dabei muss ein Ausgleich zwischen Abgrenzung und Bezugnahme zum Außen gefunden werden. Das leitet direkt zur Identitätspolitik als Instrument zur Geltendmachung der eigenen Identität über.
Ganz allgemein ist Identitätspolitik die Organisation einer bestimmten Gruppe aufgrund spezifischer Erfahrungen oder Perspektiven, wobei die Sichtbarkeit der eigenen Identität als Ziel verstanden wird. Welche Erfahrungen dabei im Vordergrund stehen bleibt offen. Grundsätzlich kann Identität um jeden Faktor herum aufgebaut werden, solange folgendes Schema eingehalten wird: Ein identitätsstiftendes Merkmal, beispielsweise Frau sein, dient als Zuschreibungskategorie und Personen identifizieren sich als Frau. Durch diese Zuschreibung wird man von anderen Personen als Frau behandelt und es werden gesellschaftliche Vorstellungen an das Frau sein geknüpft. Diese Zuschreibungskategorie kann durch andere Merkmale wie race, Herkunft, Ethnie, sexuelle Orientierung oder soziale Herkunft ausgetauscht werden. Aber auch bestimmte Berufsgruppen (z. B. Anwält*innen/ Friseur*innen) oder Glaubensrichtungen können als Identitätsmerkmale dienen.
Insgesamt können zwei relevante Bedingungen für die Identitätspolitik herausgearbeitet werden: Sie wird vor allem genutzt, um sich erstens von einem Objekt der Politik in ein Subjekt zu wandeln (Partizipation). Als Effekt steht dabei zweitens die Sichtbarkeit der eigenen Erfahrungen/der eigenen Gruppe im Mittelpunkt. Dabei soll die Gruppe als gleichwertig zum Gegenüber akzeptiert werden.
Das Combahee River Collective als Schöpferinnen der Identitätspolitik?
Identitätspolitik ist dabei kein Konzept der letzten Jahre. Der wörtliche Ursprung der Identitätspolitik (identity politics) liegt im Jahr 1977. Es war das Combahee River Collective aus Schwarzen und lesbischen Frauen, welche das Konzept der Identitätspolitik prägten, um, wie sie selbst sagen, einen radikalen neuen Ansatz zu nutzen. Sie stellen die eigene Identität als Schwarze Frauen in den Mittelpunkt, um somit auf Unterdrückungserfahrungen aufmerksam zu machen. Doch bereits vor der wörtlichen Schöpfung des Begriffs wurde Identitätspolitik betrieben. Die Bewegung der Afro-Amerikaner*innen und die Frauenbewegung in den 1960er Jahren forderte nicht mehr nur einen gleichberechtigten Zugang zu Wahlen, es rückte vielmehr der Aspekt der eigenen Identität in den Vordergrund. Dabei sollte die Lebensrealität der Gruppe, die nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft ist, sichtbar gemacht werden.
In Deutschland kann die „Ehe für Alle“ als anschauliches Beispiel von erfolgreicher Identitätspolitik angeführt werden. So ging es bei der Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare auch darum, als gleichwertig zu heterosexuellen Paaren anerkannt zu werden – ein sehr anschauliches Beispiel für erfolgreiche Identitätspolitik, die sich nicht nur an rechtlichen Aspekten orientiert. Zwar gab es durch die eingetragene Lebenspartnerschaft ein rechtliches Institut, das der Ehe (weitestgehend) gleichgestellt war, doch wurde gleichzeitig die Unterscheidung zwischen homosexuellen und heterosexuellen Paaren aufrecht erhalten.
Ausformung der Identität – die Verfassung als Ankerpunkt
Der Wert von Identität und ein subjektives Recht auf Ausgestaltung der eigenen Identität kann sich auch aus der Verfassung ergeben. Dabei sollen beispielhaft Art. 1, Art. 3 und das APR angeführt werden.
Menschenwürde – Instrument zur Wahrung der Identität
Laut dem Politikwissenschaftler Fukuyama (2018) steht der Begriff der Würde im Kern der Identität: Die Würde als gleichwertige Person anerkannt zu werden und sich anerkannt zu fühlen. Das erinnert an die Worte des Bayrischen Verfassungsgerichtshofs, wonach „der Mensch als Person […] einen sittlichen Eigenwert [verkörpert], der unverlierbar und auch gegenüber jedem Anspruch der Gemeinschaft, insbesondere gegenüber allen politischen und rechtlichen Zugriffen des Staates und der Gesellschaft, eigenständig und unantastbar ist. Würde der Person ist dieser innere und zugleich soziale Wert und Achtungsanspruch, der dem Menschen um seinetwillen zukommt.“ (BayVfGH 8, 52 (57); 11, 164 (181); 29, 38 (42) – Hervorhebung durch die Autorin). Im Zentrum steht somit die Selbstbestimmung auf Grundlage des Eigenwerts jedes Menschen, was im Wesentlichen nur eine weitere Formulierung für Identität darstellt. Die Identitätspolitik kann dabei als Instrument der kollektiven Ausübung des Würdeschutzes verstanden werden. Das spiegelt sich auf Bundesebene in Art. 1 Abs. 1 GG wider. Dieser Beitrag geht davon aus, dass Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht darstellt und grundsätzlich einen Schutz der personellen Identität gewährt. Auch wenn an eine Würdeverletzung laut der Objektformel des Bundesverfassungsgerichts sehr hohe Anforderungen gestellt werden, schließt das die Geltendmachung eines subjektiven Rechts aus Art. 1 Abs. 1 GG in Bezug auf die eigene Identitätsbildung nicht aus.
Freiheit der persönlichsten Sphäre
Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (APR) aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG schützt identitätsrelevante Aspekte. Elementarer Bestandteil ist die Freiheit, die eigene private Sphäre in Eigenregie gestalten zu können, sei es bezogen auf die geschlechtliche Identität oder den Personenstand, dem man nach seiner eigenen Konstitution angehört. So erkannte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zum Transsexuellengesetz (2005) den Schutz des „Vornamen[s] eines Menschen zum einen als Mittel zu seiner Identitätsfindung und Entwicklung der eigenen Individualität und zum anderen als Ausdruck seiner erfahrenen oder gewonnenen geschlechtlichen Identität“ als Teil der Ausgestaltungen der Identität an. Am APR lässt sich daher grundsätzlich eine verfassungsrechtliche Verankerung finden.
Identität braucht ein Gegenüber
Auch die Gleichheitsgrundsätze des Art. 3 GG weisen eine erhebliche Relevanz bei Fragen der Identität auf. Identitätspolitik wird grundsätzlich im Vergleich zu einer Referenzgruppe betrieben, was aus dem Bedürfnis nach gleicher Anerkennung folgt. Das erkannte auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zur Zulassung eines Dritten Geschlechts an. Demnach sei die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch. Das Gericht nutzt hier die gleichen Grundüberlegungen wie sie oben bereits bei den Grundlagen zur Identitätspolitik widergegeben wurden. Die eigene Identität kann gerade nicht in einem Vakuum betrachtet werden, sondern wird vorliegend in Relation zu Männern und Frauen bewertet.
Identität(spolitik) ist kein Gegenspieler zur Demokratie
Linke Identitätspolitik, die sich im Kern anhand dieser drei verfassungsrechtlichen Vorgaben bewegt und damit die eigenen grundrechtlich Positionen verteidigen möchte, steht nicht im Widerspruch zur Demokratie – ist Demokratie doch gerade der Diskurs unterschiedlichster Stimmen. Im Rahmen der demokratischen Willensbildung über Mehrheitsverhältnisse besteht immer eine besondere Gefahr für die Identitätsbildung von Minderheiten, da durch die Mehrheiten/ Minderheiten- Konstellation in Demokratien die Stimmen der Minderheiten schneller übergangen werden können. Identitätspolitik im hier beschriebenen Sinne kann dabei als Instrument verstanden werden, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Wolfgang Thierse als Teil der Mehrheitsgesellschaft steht dabei – schon immer und nach wie vor – strukturell auf der Seite der Gehörten. Im Ergebnis macht es durchaus einen Unterschied, ob linke Identitätspolitik um die eigene Stimme ringt oder rechte Identitätspolitik gegen Minderheiten politisiert.
Zitiervorschlag: Valentina Chiofalo, Identitätspolitik – Feindbild oder emanzipatorisches Instrument?, JuWissBlog Nr. 27/2021 v. 09.03.2021, https://www.juwiss.de/27-2021/.
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