von JULIA STINNER
Draußen tobten Proteste gegen ein Asylbewerberheim, drinnen unterhielt sich Bundespräsident Joachim Gauck Ende August 2013 mit Schülerinnen und Schülern der Oberstufe in Berlin-Kreuzberg. Die aktuellen Vorkommnisse fanden ihren Weg auf die Agenda. Gegenüber den Schülern sagte der Bundespräsident: „Wir brauchen Bürger, die auf die Straßen gehen und den Spinnern ihre Grenzen aufweisen. Dazu sind Sie alle aufgefordert.“
Die NPD fühlte sich angesprochen und fragte beim Bundespräsidialamt nach, ob sie Adressat der Äußerungen sei. Die Antwort des Bundespräsidialamtes: „Bei verständiger Würdigung der Presseberichte würde sich diese Frage von selbst beantworten.“
Die beantragte einstweilige Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG wurde von den Karlsruher Richtern abgelehnt, da zum damaligen Zeitpunkt ein schwerer Nachteil durch künftige Wortbekundungen des Bundespräsidenten für die NPD oder ein Schaden für das gemeine Wohl nicht absehbar gewesen seien. Der bereits im Wortlaut angelegte strenge Prüfungsmaßstab für eine einstweilige Anordnung legt diese Kriterien fest, da ein Anordnungserlass im Organstreitverfahren einen Eingriff des Bundesverfassungsgerichts in die Autonomie eines anderen Verfassungsorgans bedeutet. Bemerkenswert ist die Begründung für die Ablehnung der einstweiligen Anordnung, denn die Richter gaben sich mit der Stellungnahme des Bundespräsidenten zufrieden, in der dieser erklärte, er sei sich der Gefährdungslage bewusst. Eine Wiederholungsgefahr bestünde somit nicht.
In der Hauptsache fand in der letzten Woche die mündliche Verhandlung für das Organstreitverfahren vor dem zweiten Senat zwischen der NPD als Antragsstellerin und dem Bundespräsidenten als Antragsgegner statt.
Verletzung der parteipolitischen Neutralität?
Verletzt sieht sich die NPD in ihren Rechten aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Bundespräsident habe seine Pflicht zur parteipolitischen Neutralität im damals laufenden Bundestagswahlkampf verletzt. Denn die Äußerungen Gaucks verstießen gegen den Grundsatz der Chancengleichheit im Wettbewerb der politischen Parteien.
Dieser verbietet jedenfalls, dass Staatsorgane klar zugunsten oder zulasten einer Partei Stellung beziehen. Schon im Urteil zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung aus dem Jahre 1977 war die Frage zu klären, ob durch von der Regierung als Öffentlichkeitsarbeit bezeichnete Maßnahmen in den Bundestagswahlkampf 1976 eingegriffen und dadurch die CDU in ihren verfassungsrechtlich garantierten Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet gewesen sei. Wörtlich heißt es in dem Judikat:
„Den Staatsorganen ist es von Verfassungs wegen versagt, sich in amtlicher Funktion im Hinblick auf Wahlen mit politischen Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und sie unter Einsatz staatlicher Mittel zu unterstützen oder zu bekämpfen, insbesondere durch Werbung die Entscheidung des Wählers zu beeinflussen. […] Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche parteiergreifend zugunsten oder zu Lasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern in den Wahlkampf einwirken.“
Hat Joachim Gauck diese Grenze mit seiner Äußerung nun also überschritten? Dem zweiten Senat drängen sich wohl auch Überlegungen auf, die Äußerungsfreiheit des Bundespräsidenten sowohl generell als auch speziell kurz vor Bundestagswahlen zu bewerten. Neben der Neutralitätsverpflichtung des Bundespräsidenten sind entsprechend der Tagesordnung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil auch explizite Ausführungen zu herabsetzenden Äußerungen zu erwarten. Die verfassungsgerichtliche Bewertung wird insbesondere auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zu öffentlichkeitsbezogenen Äußerungen der Bundesregierung von Interesse sein.
Tendenzen bereits erkennbar?
Das Amt des Bundespräsidenten ist im Grundgesetz nur mit überschaubaren Kompetenzen versehen und definiert sich vordergründig über repräsentatives Handeln sowie durch die Macht des Wortes und der Rede. Gauck selber ließ nach Meldung der FAZ in der mündlichen Verhandlung verlesen, dass er gerade durch Reden und öffentliche Gespräche wirke. Dem ist im Grundsatz zuzustimmen. Diese Zustimmung verlangt nach einem Spielraum, der dem Bundespräsidenten bei der Ausübung seines Amtes einzuräumen ist. Sein Amt lebt gerade durch die Beteiligung des Amtsinhabers, der Diskussionen anstoßen, Anreize setzen und Kontroversen eröffnen soll – dies vor allem im Hinblick auf die Verteidigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Es erscheint nicht fernliegend den Bundespräsidenten als Verfassungsorgan auch an der politischen Willensbildung teilhaben zu lassen, mitunter sogar Parallelen zum Auftrag der Regierung zur Öffentlichkeitsarbeit zu ziehen. Die Grenzziehung fällt hier allerdings schwer. Wann sind politische Parteien als die eigentlichen Akteure der politischen Willensbildung in ihrer Funktion beeinträchtigt? Diese Funktion kommt allen Parteien zu – auch das sollte hinreichend in die Überlegungen miteinbezogen werden.
Ein Bundespräsident, der das politische Geschehen begleitend und impulsgebend begleitet, sollte im Interesse einer offenen und sich seiner Vergangenheit bewussten Verfassungsordnung humoristische, spitze oder gar im Ansatz provokante Äußerungen machen dürfen. Erste Pressestimmen deuten auf die Vermutung hin, dass Stimmen im Senat diese Einschätzung teilen könnten.