Vor sechzig Jahren – am 25. März 1957 – haben sich in Rom sechs entschlossene Staaten dazu verpflichtet, gleich zwei europäische Gemeinschaften zu gründen. Die Unterzeichnung der Römischen Verträge nimmt die heutige Europäische Union (EU) zum Anlass, „den Grundstein für Europa in seiner heutigen Form“ zu feiern. Aber liegt dieser Grundstein tatsächlich in Rom?
Das Ausmaß an Frieden, Freiheit und Wohlstand, das heute wie selbstverständlich zum Leben in Europa gehört, wäre ohne die EU wahrscheinlich Utopie statt Realität. Dennoch sieht sich die Union heute mehr denn je ernstzunehmender Kritik ausgesetzt. Nicht wenige Bürger der Mitgliedstaaten haben das Vertrauen in die europäischen Institutionen verloren. Wohl auch um diesem bedauernswerten Trend entgegenzuwirken, wird die Unterzeichnung der Römischen Verträge in diesen Tagen – sechzig Jahre später – politisch besonders in Szene gesetzt. Zu Recht weist die EU auf ihre für die Menschen in Europa erzielten Erfolge hin. Die Kommission feiert den reklamierten Jahrestag mit besonderer Inbrunst: Mit einem sogenannten „Weißbuch“ gibt sie einen Denkanstoß für die Ausgestaltung der politischen Zukunft in der Union und präsentiert nicht weniger als 60 Gründe für die EU. Das Hashtag #EU60 begleitet entsprechende Meldungen in den sozialen Netzwerken. Für die Öffentlichkeitsarbeit der EU bietet sich das durchaus historische Datum des 25. März 1957 bestens an – der Zeitpunkt scheint gelegen zu kommen. Aber was genau wird denn eigentlich in diesen Tagen gefeiert?
Was am 25. März 1957 wirklich geschah (und was nicht)
Am 25. März 1957 unterzeichneten die Regierungsvertreter aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden zwei europäische Verträge: den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG, oft auch „Euratom“ genannt). Primäres Ziel der EWG war „durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind“ (Art. 2 EWG-Vertrag). Aufgabe der EAG sollte es sein, „durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit den anderen Ländern beizutragen“ (Art. 1 Abs. 2 EAG-Vertrag). Die beiden Römischen Verträge hatten unbestritten das überordnete Ziel, nationalistische Tendenzen in den Mitgliedstaaten zu überwinden und durch eine eng verwobene Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft und der Energie eine Kooperation zu schaffen, die den Kontinent auf Dauer resistent gegen Kriegsgefahren macht. Wenn man bedenkt, dass auf den Gebieten der EU-Mitgliedstaaten heute seit über 70 Jahren kein bewaffneter Konflikt mehr ausgetragen worden ist, muss man dies als großartigen Erfolg anerkennen. Eine solch langanhaltende Friedensphase hat Europa in den vergangenen 2.000 Jahren selten erlebt.
Doch wie verhält sich der dieser Tage so stark beanspruchte 25. März 1957 zu dem herausragenden Erfolg der europäischen Integration? Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge bekundeten die beteiligten Regierungen ihren Willen, die EWG und die EAG zu gründen. Beide Gründungsverträge traten jedoch erst nach Austausch der Ratifikationsurkunden, nämlich zum 1. Januar 1958 in Kraft. Wenn man diese beiden Verträge als die Gründungsverträge der heutigen EU betrachten möchte, wäre letzteres Datum der richtige Anknüpfungspunkt für ein Jubiläum. Denn erst mit Inkrafttreten ihres Gründungsvertrages beginnt die mit ihm geschaffene Internationale Organisation auch völkerrechtlich zu existieren. Andernfalls gedachte man nur einer guten Idee, die aber nicht zwingend hätte verwirklicht werden müssen. Ginge es nur um die Idee, könnte man sich etwa auch an den 29. Oktober 2004 erinnern, was in der EU aber wohl kaum jemand möchte. Dies war der Tag der Unterzeichnung des bislang ehrgeizigsten europäischen Projekts – des Vertrages über eine Verfassung für Europa – das aber später bekanntlich in der Ratifikationsphase endgültig gescheitert ist.
Die frühen Anfänge eines vereinigten Europas
Der gescheiterte Verfassungsvertrag war nicht die letzte Idee für eine verstärkte europäische Einigung, ebenso wenig bekundet der Tag der Unterzeichnung der Römischen Verträge die erste Idee über ein friedliches und freies Europa. Denn schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges formulierte der (heute möchte man hinzufügen: ausgerechnet!) britische Premierminister Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede am 19. September 1946 seine progressive europäische Vision: „We must build a kind of United States of Europe.” Auch wenn die Vereinigten Staaten Europas nie gegründet wurden, war man sich auf dem zerstörten Kontinent gleichwohl schmerzlich bewusst, dass es nicht so weitergehen konnte wie in der unheilvollen Vergangenheit. Nur ein zusammenwachsendes Europa war und ist in der Lage, für die Friedenserhaltung einzustehen. Diese Parameter gelten noch heute – vielleicht sogar besonders dringlich, wenn man sich die besorgniserregenden extremistischen Entwicklungen in einigen unserer Nachbarstaaten vor Augen führt.
Keine Vision, sondern ein erster tatsächlicher Anschub zu einer sich realisierenden europäischen Integration war nach Churchills Vorstoß die Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950. Mit ihr griff Schuman die Idee seines vertrauten Beraters Jean Monnet auf und schlug die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor. Schuman bewegte sich dabei ganz im Sinne Monnets innerhalb des politisch Vorstellbaren und dachte weniger groß als Churchill; er kratzte nicht an der Souveränität der europäischen Staaten. Stattdessen stellte Schuman sehr pragmatisch fest: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“ Am Anfang war also die Tat, und alle Europäer sollten tatkräftig anpacken. Und so geschah es. Übrigens ist der 9. Mai seit vielen Jahren als „Europatag“ offizieller Gedenktag für ein Leben in Frieden und Einheit in Europa.
Tatsächlich waren die ideellen und völkerrechtlichen Ursprünge eines vereinten Europas in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, zuweilen auch „Montanunion“ genannt) zu finden. Der EGKS-Vertrag wurde am 18. April 1951 in Paris unterzeichnet und trat am 23. Juli 1952 in Kraft. Bereits in ihm fanden sich die sechs Gründungsstaaten wieder, die sich später auch zur EWG und EAG zusammenschließen sollten. Schon die EGKS sollte einen gemeinsamen Markt schaffen, und zwar im Zusammenhang mit Kohle und Stahl. Dies fußte auf der Idee, dass eine Vergemeinschaftung des Marktes gerade derjenigen Rohstoffe, die für die Produktion von Rüstungsgütern benötigt wurden, den Frieden innerhalb Europas sichern wird. Der gemeinsame Markt für Kohle und Stahl war daher nichts Anderes als die erste Tatsache im Sinne Schumans und Monnets, die eine „Solidarität der Tat“ schuf. Angesichts dessen lässt sich konstatieren, dass ohne die positiven Erfahrungen der Mitgliedstaaten mit der EGKS eine spätere Gründung der EWG und EAG nur schwer vorstellbar gewesen wäre. War dann nicht eher der 23. Juli 1952 (oder – wenn man unbedingt auf den Tag der Unterzeichnung abstellen möchte – der 18. April 1951) die Geburtsstunde der EU, war nicht der EGKS-Vertrag der Grundstein des heutigen Europas?
Der wahre Gründungstag der EU
Diese Frage lässt sich nur dann beantworten, wenn man sich im Klaren darüber ist, woran man überhaupt erinnern möchte. Im Rahmen ihrer Imagekampagne zur Feier der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren beruft sich die EU immer wieder auf die Schaffung der „Grundlage des gemeinsamen Europas“. Wenn dies tatsächlich die maßgebliche Referenz sein soll, liegt es nicht unbedingt nahe, die EGKS auszublenden. Eine opportunistische Erklärung wäre, dass es in diesem Jahr mit Blick auf die EGKS an einem „runden Geburtstag“ fehlt. Daher mag im Jahr 2017 eine Erinnerung an die Gründung der EGKS marketingtechnisch ungünstig erscheinen. Doch wäre es wohl ehrlicher gewesen, den 23. Juli 1952 zu feiern; eine Sommerkampagne mit dem Hashtag #EU65 könnte man sich durchaus auch vorstellen.
Denkbar ist aber auch, dass der Gründungstag der EU gefeiert werden soll, auch wenn damit die Ursprünge der europäischen Idee gekappt werden. Doch ist der wahre Gründungstag der EU gar nicht so leicht zu ermitteln. Stellt man formalistisch auf die Bezeichnung „Europäische Union“ ab, wird man den Vertrag von Maastricht (offiziell: Vertrag über die Europäische Union) – unterzeichnet am 7. Februar 1992, in Kraft getreten am 1. November 1993 – heranziehen müssen. Mit dessen Artikel A gründeten „die Hohen Vertragsparteien“ (d.h. neben den sechs Gründungsstaaten der EGKS zusätzlich Dänemark, Griechenland, Spanien, Irland, Portugal und das Vereinigte Königreich) „untereinander eine Europäische Union“. Und weiter: „Grundlage der Union sind die Europäischen Gemeinschaften, ergänzt durch die mit diesem Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit. Aufgabe der Union ist es, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten.“ Mit den „Europäischen Gemeinschaften“ (als erste Säule des bekannten „Drei-Säulen-Modells“) waren die EGKS, die EWG und die EAG gemeint, die unter dem Dach der EU eigenständig handeln sollten. Daher war es auch umstritten, ob die EU selbst als bloße Dachorganisation eigene Rechtspersönlichkeit haben könnte.
Erst mit dem Vertrag von Lissabon (bestehend aus dem EU-Vertrag, dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU und der EU-Grundrechtecharta, unterzeichnet am 13. Dezember 2007, in Kraft getreten am 1. Dezember 2009) wurden die unterschiedlichen Säulen aufgegeben und in einer einheitlichen, ausdrücklich mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten EU (Art. 47 EU-Vertrag) vereinigt. Die EU, so wie wir sie heute kennen, ist also noch nicht einmal acht Jahre alt. Dies zu feiern käme einem Kindergeburtstag gleich und bietet sich offensichtlich nicht an. Doch welches Jubiläum ist dann das richtige?
Viele Wege, doch nur einer führt nach Rom
Die EU ist für ein Jubiläum zu jung, zumal sich in ihr die Ideen und Prinzipien der früheren Europäischen Gemeinschaften fortsetzen. Es ist daher richtig, in den Gemeinschaften nach dem Grundstein des heutigen Europas zu suchen. Dies führt uns zurück zur EGKS als erste dieser Gemeinschaften. Allerdings ist der EGKS-Vertrag am 22. Juli 2002 gemäß dessen Art. 97 nach 50 Jahren Bestand ausgelaufen. Es ließe sich also argumentieren, dass die heutige mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete EU nicht die Rechtsnachfolgerin der EGKS geworden ist, weil diese bei Abschluss des Vertrages von Lissabon schon nicht mehr existierte. Tatsächlich ist die EU gemäß Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EU-Vertrag „an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie ist“, getreten. Die Verwendung des Singulars ist kein Zufall. Denn bereits mit dem Vertrag von Maastricht, nämlich dessen Art. G Buchst. A Ziff. 1, wurde die EWG in „Europäische Gemeinschaft“ umbenannt. Die EU ist demnach auch nur deren Rechtsnachfolgerin, während die EGKS nicht mehr existiert und die EAG weiterhin – neben der EU – besteht. Völkerrechtlich betrachtet ist damit die EU tatsächlich auf die Römischen Verträge – oder genauer: den EWG-Vertrag – zurückzuführen. Ihren sechzigsten Geburtstag dürfen wir dennoch in diesem Jahr nicht feiern, sondern erst am Neujahrstag des kommenden Jahres.
Historisch betrachtet ist es allerdings zumindest unglücklich, den Grundstein der europäischen Integration in Rom zu suchen. Dies wird der Pionierarbeit Schumans und Monnets – ja sogar Churchills – nicht gerecht. Vielmehr ist die europäische Idee ein Spiegelbild der tatsächlichen europäischen Integration: Sie basiert auf vielfältigen Ansätzen und zahlreichen Quellen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen: den Frieden unter den Völkern Europas zu erhalten. Egal, wie die Union in Zukunft aufgestellt sein wird, muss dieses Ziel immer im Blick bleiben. Dass dies bislang so gut gelungen ist, muss gefeiert werden!
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