Welcher Vorrang hat nun Vorrang? Wie der Schweiz die Herrschaft über das Völkerrecht zurückgewonnen werden soll

von RAFAEL HÄCKI und STEFAN SCHLEGEL

StefanSchlegel_formatiertWahrscheinlich 2019 oder 2020 kommt auf die Schweiz eine der seltsamsten und gefährlichsten Volksinitiativen der Nachkriegsgeschichte zu. Sie will die Verfassung über das Völkerrecht stellen. Das klingt wenig dramatisch. Doch die Häufigkeit von Volksinitiativen auf Verfassungsrevision gibt dem Verhältnis von Verfassung und Völkerrecht in der Schweiz eine viel grössere Tragweite als in anderen Ländern.

Die „Selbstbestimmungsinitiative“ – lanciert von der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP), die ihren Einfluss zu einem guten Teil über Volksinitiativen erreicht – ist gewissermassen die Quintessenz und Folge einer langen Serie von Volksinitiativen, welche Reibungsflächen mit Völkervertragsrecht haben. Die Volksinitiative will vier Artikel in der Verfassung der Schweiz ändern: Zunächst formuliert sie den (seit jeher geltenden) Grundsatz, dass die Bundesverfassung (BV) die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist (Art. 5 Abs. 1). Die BV soll aber neu auch dem Völkerrecht (zwingendes vorbehalten) vorgehen (Art 5 Abs. 4). In Art. 56a soll neu stehen, dass der Bund völkerrechtliche Verträge nachverhandeln und nötigenfalls kündigen müsse, wenn diese der Verfassung widersprechen. Art. 190 legt fest, dass völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hatten – bei denen die Bevölkerung also eine direktdemokratische Abstimmung hätte verlangen können – für die rechtsanwendenden Behörden weiterhin massgeblich sind – selbst und insbesondere dann, wenn sie der Verfassung widersprechen. Die Übergangsbestimmung in Art. 197 sieht vor, dass diese Bestimmungen auf alle (auch bestehende) völkerrechtliche Verträge zur Anwendung gelangen.

Vorrang – na und?

Aus deutscher Sicht (und der Sicht vieler anderer Rechtsordnungen) erscheint es als recht selbstverständlich, dass die Verfassung über dem Völkerrecht steht und diesem grundsätzlich vorgeht, wenn der Konflikt nicht durch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des Landesrechts behoben werden kann. In der Schweiz hat eine solche Regel aber das Potential, massive Rechtsunsicherheit zu verursachen, die Wirkung des internationalen Menschenrechtsschutzes zu gefährden und die Zuverlässigkeit der Schweiz als Vertragspartnerin zu unterminieren. Grund dafür sind die einzigartige Reformierbarkeit der Schweizer Verfassung und ihr damit zusammenhängender Detaillierungsgrad. Beide erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Konflikte mit völkerrechtlichen Verträgen im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen stark. Hinzu kommt die fehlende Möglichkeit, völkerrechtliche Verträge abstrakt und präventiv gerichtlich auf ihre Verfassungsmässigkeit untersuchen zu lassen und so Konflikte vermeiden zu können, wie dies in z.B. in Frankreich möglich ist (Art. 61 CF) und in Deutschland erreicht wird, indem Vertragsgesetze vor der Ausfertigung und Verkündigung der abstrakten Normenkontrolle unterzogen werden können.

Grund für die unberechenbare Gefährlichkeit der Initiative sind aber auch eine Reihe von Kuriositäten im Initiativtext selber. Um sie alle zu erörtern, fehlt in einem Blogpost der Platz. Wir gehen daher in der Folge nur auf jene ein, die mit dem Begriff des „Vorrangs“ zu tun haben.

Geltungs- oder Anwendungsvorrang? Oder beide? Oder keiner?

Die Formulierung des angestrebten Vorrangs in Art. 5 Abs. 4 E-BV lautet „Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor“. Was bedeutet „vorgehen“ hier? Nicht gemeint sein kann ein Geltungsvorrang der Bundesverfassung vor dem Völkerrecht. Dass ein solcher unmöglich ist, ergibt sich aus dem Völkerrecht selbst, wie in Art. 27 WVK explizit festgehalten. Hinzu kommt, dass die Initiative die Neuverhandlung oder Kündigung von konfligierenden völkerrechtlichen Verträgen verlangt, was sich bei einem angestrebten Geltungsvorrang der Verfassung aber erübrigen würde. Es kann daher nur ein Anwendungsvorrang der Bundesverfassung vor dem Völkerrecht unter Tragung der völkerrechtlichen Konsequenzen gemeint sein, die ein solcher bei Verletzung des konfligierenden Völkerrechts zeitigt. Bei Verträgen wie der EMRK (die Anlass für die Lancierung der Initiative war), bei der die völkerrechtliche Konsequenz der Verletzung in der Pflicht zur Behebung und Nichtwiederholung der Verletzung besteht, gibt es aber keine Alternative zum Anwendungsvorrang des völkerrechtlichen Vertrages mehr. Es ist schwer vorstellbar, dass für das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU anderes gilt und dessen Verletzung anders abgegolten werden könnte als durch Beendigung der Verletzung. Die griffigeren Durchsetzungsmechanismen neuerer völkerrechtlicher Verträge, die es immer schwieriger machen, das Völkerrecht im Einzelfall nicht anzuwenden, sind eines der Probleme dieser Initiative, die weder die Initianten noch die öffentliche Diskussion wirklich in Betracht ziehen.

Zur Beseitigung der verbleibenden Klarheit

Doch auch der Anwendungsvorrang kann mit der Initiative nur bedingt gemeint sein, denn sie verlangt, dass völkerrechtliche Verträge, welche der Möglichkeit der direktdemokratischen Kontrolle unterstanden, weiterhin angewendet werden müssen, auch wenn sie der Verfassung widersprechen (Art. 190 E-BV). Die Initiative hätte also nur bei jenen Verträgen deren Genehmigungsbeschluss nicht dem Referendum unterstanden haben (dazu gehört etwa die EMRK, nicht allerdings die Zusatzprotokolle 6-8 und die wichtigen Zusatzprotokolle 14 und 15) zur Folge, dass sie im Konfliktfall verletzt werden müssten. Wie mit Verträgen wie der EMRK umgegangen werden soll, in denen nur Teile der heutigen Substanz der direktdemokratischen Kontrolle unterstand, andere aber nicht, ist eine weitere Unklarheit, welche die Initiative mit sich brächte.

Dazu muss noch angemerkt werden, dass die Initiative nach Ansicht ihrer Urheber keiner Umsetzung auf Gesetzesebene mehr bedarf. Sie lässt daher zum Beispiel die Pflicht zur Revision höchstgerichtlicher Urteile wegen Verletzung der EMRK (Art. 122 BGG) unberührt. Müsste demnach im nationalen Instanzenzug durchwegs die EMRK auch in offensichtlichen Fällen verletzt werden (Art. 190 E-BV), um nach einem EGMR-Urteil das letztinstanzliche nationale Urteil zu revidieren (Art. 122 BGG)? Wobei sodann wiederum die Pflicht zur EMRK-Verletzung gälte (Art. 190 E-BV), gleichzeitig aber auch die Pflicht zur Anwendung von Art. 122 BGG, selbst bei dessen festgestellter Verfassungswidrigkeit (ebenfalls Art. 190 E-BV)? Oder wären rechtsanwendende Behörden aus prozessökonomischen Gründen in solchen Fällen verpflichtet, die EMRK über den Umweg des Bundesgerichtsgesetzes dennoch anzuwenden (solange die EMRK für die Schweiz gilt)?

Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hatte (dazu gehört etwa das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU) müssten demgegenüber auch weiterhin angewandt werden. Das verwundert, hat die Initiative doch angeblich ihre grösste Bedeutung «im Zusammenhang mit der drohenden institutionellen Anbindung der Schweiz an die EU» (Initiativvater, Prof. Dr. iur. H. U. Vogt). Der «schleichende EU-Beitritt» (gemeint ist ein allfälliges Rahmenabkommen Schweiz – EU) würde aber – wie die Bilateralen I und II – dem Referendum unterstehen (Art. 141 Abs. 1 Bst. d Ziff. 3 BV). Es wäre für alle rechtsanwendenden Behörden gerade massgeblich.

Hingegen bestünde in diesen Fällen eine Pflicht zur Neuverhandlung und nötigenfalls zur Kündigung des völkerrechtlichen Abkommens (Art. 56a E-BV), also die Pflicht zur Behebung des Normkonfliktes, womit sich dann auch weder die Frage des Anwendungs- noch des Geltungsvorrangs weiterhin stellen würde.

Die Initiative würde also dazu führen, dass Verträge, die nicht dem Referendum unterstanden, verletzt, die anderen neuverhandelt und ansonsten gekündigt werden müssen, wenn sie zur Verfassung in Konflikt stehen. Wobei sich dann noch die Frage stellt, ob auch Verträge, die einstweilen verletzt werden, ebenfalls gekündigt werden müssen, wenn sie nicht angepasst werden können oder mit dem blossen Anwendungsvorrang dem Auftrag der Verfassung Genüge getan ist. Der Wortlaut der Initiative deutet darauf hin, dass alle Verträge neuverhandelt/gekündigt werden müssen, die verfassungswidrig sind. Aber die Initianten beteuern, die EMRK müsste nicht gekündigt, sondern nur verletzt werden.

Vorrang heisst: Politischer Auftrag (aber welcher? Und an wen?)

Besteht eine Pflicht zur Neuverhandlung und/oder Kündigung, so löst sich die Frage des rechtlichen Vorrangs auf in einem politischen Auftrag zur Herbeiführung einer Situation, in der die Frage des Vorrangs irrelevant ist, weil kein Normkonflikt mehr besteht. Der Umstand, dass niemand genau sagen kann, ob und wann Nachverhandlungen zur Behebung des Konfliktes gescheitert sind und niemand weiss, wer überhaupt über die Kündigung von Verträgen und deren Zeitpunkt entscheiden würde (vgl. Pa.Iv. 16.456), ist einer der Gründe, warum die Volksinitiative zu massiver Rechtsunsicherheit führen würde. Es würde dann z.B. gestützt auf Art. 56a E-BV ein klarer Verfassungsauftrag bestehen, die Bilateralen Verträge mit der EU zu kündigen, wenn Verhandlungen über ein Ende der Personenfreizügigkeit mit dieser scheitern (denn diese verstösst seit Annahme der Masseneinwanderungsinitiative gegen die Schweizer Bundesverfassung). Aber niemand wüsste, ob etwa die Weigerung der EU, Verhandlungen überhaupt aufzunehmen, bereits ein Scheitern ist und bereits eine Kündigung notwendig macht.

Zusammenfassend erscheint die Initiative – so gefährlich sie ist – als der unbeholfene Versuch, das Durcheinander, das im Verhältnis der Schweizer Verfassung und den völkerrechtlichen Verträgen in den letzten 15 Jahren entstanden ist, zu Gunsten der Verfassung aufzuräumen. Sie ist der ungehaltene aber relativ ineffektive Versuch, eine Entwicklung rückgängig zu machen, in der das Völkerrecht nicht nur wichtiger wird, sondern seine Durchsetzungsmechanismen immer öfter auch einen Anwendungsvorrang gebieten.

Sie ist letztlich der Ausdruck eines nostalgischen und essentialistischen Souveränitätsbegriffs, in dem der Souverän so souverän ist, dass er sich niemandem gegenüber binden kann.

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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • […] HÄCKI and STEFAN SCHLEGEL present "one of the strangest and most dangerous people’s initiatives" in Switzerland … (in […]

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  • […] Diese neue Initiative – sie nennt sich “Selbstbestimmungsinitiative” – will das Verfassungsrecht über das Völkerrecht stellen (mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts), schlägt dabei aber einen interessanten Haken. Die SVP ist der Idee einer möglichst absoluten direkten Demokratie verpflichtet. Sie lehnt schon deshalb Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber allem ab, was seinerseits durch Volksabstimmung entschieden wurde oder hätte entschieden werden können. Es ist ihr darum unmöglich, völkerrechtlichen Verträgen, die ihrerseits dem Referendum unterstanden hatten, nicht Vorrang vor widersprechendem Verfassungsrecht einzuräumen. Die aktuell hängige Volksinitiative sieht daher im Wesentlichen einen treaty override vor, also die Pflicht, einen Vertrag zu verletzen, wenn der Vertrag in Konflikt zur Verfassung steht und nicht dem Referendum unterstanden hatte, und eine Pflicht, einen Vertrag, der seinerseits direktdemokratisch legitimiert ist, selbst im Fall der anerkannten Verfassungswidrigkeit vorderhand weiterhin anzuwenden, ihn aber neu zu verhandeln und zu kündigen, wenn die Neuverhandlung nicht gelingt. Vereinfacht gesagt verlangt sie also für den Fall von Normkonflikten, dass Verträge, die nicht dem Referendum unterstanden, verletzt werden müssen, die anderen gekündigt. Ob Verträge, die nicht dem Referendum unterstanden, ebenfalls gekündigt werden müssen, obwohl sie einfach verletzt werden können, welches staatliche Organ die Kündigung auslöst und wann Neuverhandlungen als derart gescheitert gelten, dass eine Kündigung notwendig wird, lässt die Initiative offen. […]

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