von LISA HAMACHER
Am 23. März beendete der Bundestag mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Standortauswahlgesetzes („Fortentwicklungsgesetz“, s. den Gesetzentwurf hier sowie die Beschlussempfehlung des Ausschusses hier) die erste Etappe des Standortauswahlverfahrens für ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle. Das Gesetz ist Ergebnis einer dreijährigen Evaluierungsphase und Startpunkt der tatsächlichen Erkundung potenzieller Standorte. Gefeiert als mögliche Lösung eines unlösbar erscheinenden Problems ist das Gesetz auch Kritik ausgesetzt. Was bedeutet das Fortentwicklungsgesetz für die Standortsuche? Wie sieht das nun geplante Verfahren aus? Welche Änderungen ergeben sich gegenüber dem Standortauswahlgesetz (StandAG) von 2013?
Vorgeschichte
Lange stand die Endlagerung hoch radioaktiver Abfälle für gesellschaftliche Konflikte, politische Stagnation und Strategiewechsel. Mit dem Atomausstieg schien ein nationaler Konsens jedoch greifbar. Das StandAG regelte sodann erstmalig ein Verfahren für die Endlagerstandortsuche. Ziel des Gesetzes ist kein Geringeres als die Bestimmung des Standortes, der „die bestmögliche Sicherheit für einen Zeitraum von einer Million Jahren gewährleistet“ (§ 1 Abs. 1 StandAG). Vor Beginn der eigentlichen Erkundung sah das StandAG eine Gesetzesevaluierung vor. Grundlage hierfür sollten die Empfehlungen der Kommission hoch radioaktiver Abfallstoffe („Endlagerkommission“) sein (§ 4 Abs. 4 StandAG), die mit Vertretern aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft besetzt war. Auch die Atomkonzerne und Umweltverbände waren vertreten, obwohl Letztere zunächst eine Mitarbeit abgelehnt hatten. Im Gegensatz zu sonstigen gesetzlichen Evaluierungspflichten diente diese „Evaluierung ohne Erprobung“ nicht etwa dazu, aus den praktischen Erfahrungen des Gesetzesvollzugs zu lernen. Vielmehr sollte der Zwischenschritt sicherstellen, dass dem Neubeginn der Endlagersuche sowohl ein politischer als auch ein gesellschaftlicher Konsens zugrundeliegt (s. Wiegand, NVwZ 2014, 830 (831 f.)). Im Sommer 2016 legte die Kommission ihren Abschlussbericht vor. Dieser gibt auf 683 Seiten umfangreiche Empfehlungen zur Fortentwicklung des Standortauswahlverfahrens. Das jüngst beschlossene „Fortentwicklungsgesetz“ setzt ihn in großen Teilen unverändert um und reformiert das StandAG (zitiert als StandAG-F).
Das Verfahren der Standortauswahl im Überblick
Das Fortentwicklungsgesetz behält das Verfahrenskonzept des StandAG weitgehend bei. Die Standortentscheidung soll danach Ergebnis eines vergleichenden Verfahrens sein. Ausgangspunkt ist eine „weiße Landkarte“: Zunächst kommt jede Region der Bundesrepublik als Standort in Frage. Die Anzahl der betrachteten Standorte soll sich dann in mehreren Verfahrensphasen schrittweise verringern bis schließlich der „beste“ Standort verbleibt.
Die erste Phase dient zunächst dem Ausschluss von vornherein ungeeigneter Gebiete und der Ermittlung besonders günstiger Teilgebiete mittels geologischer Kriterien. Sodann werden übertägig zu erkundende Standorte bestimmt. In der zweiten Phase findet die übertägige Erkundung statt, um auch untertägig zu erkundende Standorte festzulegen. Die dritte Phase der untertägigen Erkundung mündet schließlich im abschließenden Standortvergleich. Das Verfahren endet mit der Entscheidung für einen Standort. Gemäß § 20 Abs. 3 StandAG-F ist diese für das anschließende atomrechtliche Verfahren der Genehmigung von Errichtung und Betrieb des Endlagers (§ 9b Abs. 1a AtG) verbindlich.
Zuständigkeiten und Entscheidungsabläufe der einzelnen Phasen des Standortauswahlverfahrens entsprechen sich im Wesentlichen: Vorhabenträger und Betreibergesellschaft ist nun die Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH (BGE). Sie führt die Erkundungen durch, entwickelt Erkundungsprogramme und Prüfkriterien und macht (Erkundungs-)Standortvorschläge (§ 3 StandAG-F). Das Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) ist Aufsichts- und Genehmigungsbehörde (§ 4 StandAG-F). Es prüft die Vorschläge der BGE und leitet sie zusammen mit einer Entscheidungsempfehlung an das Bundesumweltministerium weiter. Die abschließende Entscheidung jeder Verfahrensphase – also die Auswahl der zu erkundenden Standorte und des Endlagerstandortes – trifft nicht die Verwaltung, sondern jeweils ein Bundesgesetz. Das Fortentwicklungsgesetz hält also am Konzept der mehrstufigen Legalplanung fest. Ob die Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf den Gesetzgeber in diesem Fall verfassungsmäßig ist, war während der Evaluierungsphase nicht gänzlich unumstritten.
Konkretisierungen und Änderungen durch das Fortentwicklungsgesetz
1. Öffentlichkeitsbeteiligung
Schon im StandAG von 2013 hatte die Öffentlichkeitsbeteiligung eine herausragende Bedeutung, § 1 Abs. 2 S. 1 StandAG-F verlangt nun auch ausdrücklich ein „partizipatives“ Verfahren. Die konkreten Beteiligungsformate sind künftig wesentlich detaillierter geregelt (§§ 5 ff. StandAG-F). In das Gesetz fließt insoweit der umfangreiche interdisziplinäre Austausch der Endlagerkommission ein.
Die geplanten Beteiligungsoptionen gehen über das im Planungsverfahren Übliche quantitativ und qualitativ weit hinaus. Grundlage einer kompetenten Beteiligung ist eine vom BfE betriebene Informationsplattform im Internet (§ 6 StandAG-F). Die regionalen Interessen sollen „Regionalkonferenzen“ in den potenziellen Standortregionen wahrnehmen. Sie haben u.a. Kontroll- und Nachprüfungsrechte gegenüber den Vorschlägen der BGE (§ 10 Abs. 5 StandAG-F). Die Vertreter aller Standortregionen kommen in der „Fachkonferenz Rat der Regionen“ zusammen (§ 11 StandAG-F). Das Gesetz möchte damit ersichtlich die Spannung zwischen Allgemeininteresse (Einrichtung des Endlagers) und regionalen Interessen (Verhinderung eines Endlagers vor Ort) auflösen (Stichwort: „Not-in-my-backyard“- Phänomen).
Ein wesentlicher Akteur ist das bereits im vergangenen Jahr eingerichtete Nationale Begleitgremium (§ 8 StandAG). Es besteht aus anerkannten Personen des öffentlichen Lebens und „Zufallsbürgern“ und soll als unabhängige Instanz das Verfahren begleiten. Dies soll die Gemeinwohlinteressen und das Vertrauen der Bürger sichern. Das Begleitgremium beruft zudem einen Partizipationsbeauftragten, der Konflikte frühzeitig identifizieren soll. Die sonstigen Rechte des Gremiums blieben im Gesetzentwurf allerdings zunächst weit hinter den Kommissionsempfehlungen zurück. Auf kritische Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren hin einigte man sich zuletzt doch auf eine Erweiterung.
2. Festlegung der Entscheidungsgrundlagen
Das Fortentwicklungsgesetz übernimmt die von der Endlagerkommission entwickelten Kriterien zur Bewertung der Standorte nahezu unverändert. Wichtig war die Klarstellung des § 25 StandAG-F. Danach haben geologische Kriterien absoluten Vorrang vor planungswissenschaftlichen Kriterien, etwa dem Abstand zu Wohngebieten oder dem Immissionsschutz.
3. Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten
Nach dem Verfahrenskonzept des StandAG drohte zunächst ein Rechtsschutzdefizit. Denn die Verlagerung aller außenwirksamen Entscheidungen auf die Gesetzesebene und deren Bindungswirkung für die spätere atomrechtliche Genehmigung versperrte den Zugang zu den Verwaltungsgerichten.
Der Gesetzgeber korrigierte dieses Defizit bereits teilweise mit § 17 Abs. 4 StandAG. Ein hinzutretender feststellender Bescheid des BfE in der zweiten Verfahrensphase eröffnet hier eine verwaltungsgerichtliche Überprüfungsmöglichkeit. Das Rechtsschutzproblem wurde somit jedoch nur für ebendiese Verfahrensphase gelöst. Die endgültige Standortentscheidung blieb allein Sache des Gesetzgebers und war nur mittels Verfassungsbeschwerde angreifbar. Dies hätte weder eine verfahrensrechtliche Kontrolle, noch eine Verbandsklage der Umweltverbände zugelassen und verstieß damit gegen Art. 11 RL 2011/92/EU.
Das Fortentwicklungsgesetz leistet insoweit die europarechtlich notwendige Anpassung. § 19 Abs. 2 StandAG-F verlangt nun auch vor der Entscheidung über den Endlagerstandort einen BfE-Bescheid nach dem Vorbild des § 17 Abs. 4 StandAG. Kritikern geht diese europarechtlich erzwungene „Minimallösung“ allerdings nicht weit genug. Für die erste Verfahrensphase sieht das Fortentwicklungsgesetz nämlich keinen entsprechenden Bescheid vor. Die Entscheidung über die Auswahl der übertägig zu erkundenden Standorte ist daher nicht isoliert vor den Verwaltungsgerichten angreifbar, obwohl sie eine entscheidende Weichenstellung des Verfahrens bedeutet.
Verbleibende Streitpunkte
1. Gorleben und die „weiße Landkarte“
Gegenwehr ruft vor allem der Verbleib Gorlebens als potenzieller Standort hervor. § 36 Abs. 1 StandAG-F fordert zwar, Gorleben sei „wie jeder andere in Betracht kommende Standort“ und „nicht als Referenzstandort“ zu behandeln. Ob dies trotz der Vorgeschichte und des Erkenntnisvorsprunges durch die dortigen Erkundungen realistisch ist, mag man zumindest bezweifeln.
Es handelt sich hier um das Ergebnis eines Kompromisses, um die „weiße Landkarte“ zu verwirklichen. Sie ist zentrales Anliegen des Gesetzesvorhabens, es will damit Gegenentwurf zur frühen Festlegung auf Gorleben in den 70er Jahren sein. Als potenzielle Wirtsgesteine, welche die strahlenden Abfälle von der Außenwelt abschotten sollen, will man daher neben (dem bislang im Fokus stehenden) Steinsalz nun auch Tongestein und kristalline Gesteine betrachten (§ 1 Abs. 3 StandAG-F). Letzteres stößt – wenig überraschend – in Bayern und Sachsen auf wenig Gegenliebe, befinden sich dort doch entsprechende Kristallinregionen.
Das Fortentwicklungsgesetz macht letztlich keinerlei Ausnahmen – weder für Bayern und Sachsen noch für Gorleben.
2. Exportverbot
Konfliktbehaftet ist zudem die Reichweite des Exportverbotes für hoch radioaktive Abfälle. Die Endlagerkommission favorisierte ein generelles Verbot, das Fortentwicklungsgesetz sieht hingegen eine Ausnahme vor. Anlass zur Diskussion sind die derzeit in der AVR Jülich lagernden Abfälle. Ob das Fortentwicklungsgesetz deren Export weiterhin zulässt und dieser tatsächlich zu befürchten ist, ist umstritten.
Bewertung und Ausblick
Das Fortentwicklungsgesetz ist eine beachtliche Errungenschaft in einem Problemfeld, das natur- und gesellschaftswissenschaftlich sehr komplex ist. Das Gesetz stellt gegenüber der bisherigen Regelung fraglos einen wesentlichen Fortschritt dar. Nachdem der Bundesrat am 31. März keinen Einspruch eingelegt hat, ist der Weg für den Beginn der Endlagersuche nun frei.
Der schwierigste Teil der Standortfindung steht aber noch bevor. Die Vorstellungen des Gesetzgebers sind ehrgeizig und müssen sich in der Praxis erst bewähren: Das zeitliche Ziel etwa, bis 2031 einen Standort zu bestimmen (§ 1 Abs. 5 S. 2 StandAG-F), erscheint angesichts abweichender Prognosen der Endlagerkommission wenig realistisch. Erfahrungen mit der Öffentlichkeitsbeteiligung während der Evaluierungsphase lassen zudem daran zweifeln, ob sich die breite Bevölkerung tatsächlich für die dauerhafte Teilnahme an so umfangreichen Formaten begeistern lässt. Auch sind bei zunehmender Konkretisierung möglicher Standortregionen regionale Proteste vorprogrammiert. Diese werden die vorgesehenen „Schlichtungsmechanismen“ noch auf die Probe stellen.