von MARTIN HEIDEBACH
Die Unterwelt des Rechts ist leider weitläufig. Zu ihr gehört nicht nur die Abschiebungshaft. Auch die Unterbringung, eine andere Form der Freiheitsentziehung, wird man zu ihr zählen müssen. Um etwas Licht in diese wenig ausgeleuchtete Region des Rechts zu bringen, möchte ich ein eklatantes Rechtsschutzdefizit für Untergebrachte aufzeigen, das durch die jüngere Rechtsprechung des BGH verursacht wurde.
BGH-Entscheidung in Unterbringungssachen – Was soll das auf dem JuWiss-Blog?
Allerdings ist mir klar, dass die meisten Leserinnen und Leser sich fragen werden, was eine Entscheidung des BGH in Unterbringungssachen überhaupt auf dem JuWiss-Blog zu suchen hat. Noch dazu ergeht sie auf Grundlage des sperrig betitelten „Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG) – das klingt für öffentlich-rechtliche Ohren eher abschreckend. Davon sollte man sich aber nicht täuschen lassen: In der Sache handelt es sich um öffentliches Recht.
Unterbringung meint – vereinfacht gesagt – das zwangsweise Festhalten eines psychisch Kranken in einer geschlossenen Einrichtung, um den Betroffenen vor sich selbst oder andere vor ihm zu schützen. Klassischerweise ordnete man diese Materie dem besonderen Sicherheitsrecht zu, dementsprechend enthält das Landesrecht öffentlich-rechtliche Vorschriften über die Unterbringung. Nur nebenbei sei bemerkt, dass eine moderne Sichtweise den sozialrechtlichen Aspekt betont. Sie sieht psychisch Kranke nicht nur als Gefahr für die Gesellschaft, sondern verschiebt den Fokus auf die Hilfe für die Betroffenen, um ihnen ein künftiges Leben in Freiheit zu ermöglichen.
Neben der öffentlich-rechtlichen besteht eine weitere Form der Unterbringung. Ist der Betroffene nicht mehr Herr über sich, dann kann das Aufenthaltsbestimmungsrecht einem Betreuer übertragen werden. Bei Selbstgefährdung kann der Betreuer den Betroffenen unterbringen lassen. Hiervon erfasst sind auch die Fälle, in denen demenzkranke Patienten an der freien Fortbewegung gehindert werden, zum Beispiel indem ein Gitter an ihrem Bett angebracht wird. Die Anzahl der Unterbringungen in Deutschland geht damit jährlich in die Hunderttausende. Die Beziehung zwischen dem Betreuer und dem Betroffenen wird man heute noch als zivilrechtlich einstufen müssen. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollte es sich bei der Betreuung um eine „familieninterne“ Angelegenheit handeln, die Betreuung ist deshalb im familienrechtlichen Buch des BGB geregelt. Angesichts der demographischen Entwicklung und der damit zwangsweise verbundenen Zunahme der berufsmäßigen Betreuungen wird man aber künftig darüber diskutieren, ob nicht das (öffentlich-rechtliche) Institut der Beleihung für die Beschreibung der rechtlichen Beziehung angemessener ist.
Freiheitsentziehungsverfahren ist öffentliches Recht!
Unabhängig von ihrer materiell-rechtlichen Ausgestaltung benötigt jede Unterbringung als Freiheitsentziehung eine vorhergehende richterliche Entscheidung. Das schreibt das Grundgesetz in Art. 104 Abs. 2 vor. Bereits 1960 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das aufgrund der staatlichen Schutzpflicht für das Freiheitsgrundrecht auch für die zivilrechtliche Unterbringung durch den Betreuer gilt. Die gerichtliche Entscheidung soll Machtmissbrauch verhindern und sicherstellen, dass der Betroffene nicht einfach in einer geschlossenen Einrichtung „verschwindet“. Sie ist deshalb in jedem Fall staatliche Kontrollaufgabe und dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Die Zuständigkeit der Zivilgerichte für Freiheitsentziehungsentscheidungen aller Art (und die damit einhergehende Anwendung des FamFG-Verfahrens) ist allein historisch bedingt. Sie lässt sich durch die flächendeckende Verteilung der Amtsgerichte rechtfertigen. Dadurch ist eine schnelle Entscheidung über die Freiheitsentziehung gewährleistet. Andererseits ist die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Unterbringungssachen – um es mit den Worten Bettermanns zu sagen – ein schwerer Verlust für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, „die doch in erster Linie für den Grundrechtsschutz kompetent ist“ (VVdStRL 17, 118, 174).
BGH: Keine Befugnis des Verfahrenspflegers, die Rechtswidrigkeit einer vollzogenen Unterbringung feststellen zu lassen
Ich meine, diese Einschätzung wird durch die neuere Rechtsprechung des BGH zur Rechtsmittelbefugnis in Unterbringungssachen bestätigt. Sie hat folgenden Hintergrund: Das Unterbringungsverfahren – hier zeigt sich sein öffentlich-rechtlicher Charakter – kennt eine Figur, die jeder Verwaltungsrechtlerin und jedem Verwaltungsrechtler als besonderes Feststellunginteresse des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs vertraut ist. Diese mittlerweile allgemein verwendete Figur wurde vom Bundesverfassungsgericht unter anderem für das Freiheitsentziehungsverfahren entwickelt. Demnach hat der Betroffene wegen des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs in jedem Fall ein Feststellungsinteresse für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer bereits vollzogenen Freiheitsentziehung. Dies entsprach nicht der bis dahin geltenden zivilgerichtlichen Sichtweise. Die Zivilgerichte vertraten den Standpunkt, dass sich das Verfahren mit der Freilassung des Betroffenen erledige und damit keine weitere Entscheidung mehr möglich sei. Das betraf eine Vielzahl von Fällen, weil in Unterbringungssachen die Entscheidung des Amtsgerichts in der ersten Instanz in der Regel für sofort wirksam erklärt wird. Wurde der Betroffene anschließend vor der Entscheidung in der zweiten Instanz freigelassen, hatte er keine Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der auf Grundlage der amtsgerichtlichen Entscheidung vollzogenen Unterbringung überprüfen zu lassen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die diesen Missstand beendete, nahm der Gesetzgeber bei der Neuregelung des FamFG ausdrücklich in das Gesetz auf. Das FamFG dürfte damit das erste Verfahrensgesetz sein, in dem die Figur des Feststellungsinteresses aufgrund schwerwiegenden Grundrechtseingriffs ausdrücklich geregelt ist (§ 62 FamFG).
Glücklich waren die Zivilgerichte mit dieser verfassungsgerichtlichen verordneten Änderung ihrer traditionellen Sichtweise nicht. Dem verliehen sie dadurch Ausdruck, dass sie den Feststellungsantrag nur dem Betroffenen selbst zugestanden – nur er sei ja schwerwiegend in seinen Grundrechten betroffen. Einen Feststellungsantrag seines Verfahrenspflegers ließen sie demgegenüber nicht zu. Der BGH hat sich nunmehr dieser Rechtsprechung angeschlossen. Das ist bedauerlich, weil erst mit dem Inkrafttreten des FamFG (das insoweit das frühere FGG ersetzte) im Jahr 2009 die Zuständigkeit für die dritte Instanz in Unterbringungssachen von den Oberlandesgerichten auf den BGH übergegangen ist. Der BGH hat also die Gelegenheit versäumt, diese rechtsschutzbegrenzende Rechtsprechung zu korrigieren.
Dimension des Rechtsschutzdefizits
Die Dimension des sich daraus ergebenden Rechtsschutzdefizits für Untergebrachte erschließt sich, wenn man sich die Bedeutung des Verfahrenspflegers vor Augen führt. Zwar ist der Betroffene in Unterbringungssachen kraft Gesetzes selbst verfahrensfähig. Ist er nicht in der Lage, seine Interessen wahrzunehmen – was in einem Unterbringungsverfahren der Regelfall ist – wird ihm ein Verfahrenspfleger zur Seite gestellt. Der Verfahrenspfleger unterstützt den Betroffenen bei der Ausübung seiner Verfahrensrechte. Das FamFG erlaubt dem Verfahrenspfleger folgerichtig, im Interesse des Betroffenen Rechtsmittel gegen Unterbringungsentscheidungen einzulegen. Erledigt sich die Unterbringung vor der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts, kann der Verfahrenspfleger – nach Auffassung des BGH – aber nicht beantragen, dass das Gericht die Rechtswidrigkeit der vollzogenen Freiheitsentziehung feststellt. Der Betroffene ist zwar nicht gehindert, diesen Antrag selbst zu stellen. Wenn er einen Verfahrenspfleger benötigt, wird er jedoch regelmäßig dazu nicht in der Lage sein. Faktisch wird dem Betroffenen einer Unterbringung damit in vielen Fällen die Möglichkeit genommen, die Rechtmäßigkeit einer erledigten Freiheitsentziehung gerichtlich überprüfen zu lassen.
Verdacht: Verfahrenserledigung geht vor Rechtsschutz
Dies wiegt umso schwerer, weil die Argumente des BGH für seine Auslegung des FamFG nicht überzeugen. Äußerst knapp begründet der BGH die fehlende Antragsbefugnis des Verfahrenspflegers mit dem Wortlaut des § 62 Abs. 1 FamFG, nach dem das Rechtsmittelgericht auf Antrag ausspricht, „dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat“. Der Verfahrenspfleger sei aber nicht in seinen Rechten verletzt und deshalb auch nicht antragsbefugt. Das ist nicht stichhaltig, da der Verfahrenspfleger nie die Verletzung eigener Rechte, sondern immer nur die Beschwer des Betroffenen rügen kann. Er wäre schon nach den allgemeinen Regeln nicht dazu befugt ein Rechtsmittel einzulegen. Deshalb regelt das FamFG durch Sondervorschrift, dass der Verfahrenspfleger im Interesse des Betroffenen das Beschwerderecht hat. Die Auslegungsfrage ist somit, ob diese besondere Rechtsmittelbefugnis nur für den Fall gilt, dass sich die Unterbringungssache noch nicht erledigt hat. Hält man sich jetzt noch einmal den verfassungsrechtlichen Hintergrund des Feststellungsantrags vor Augen, den effektiven Rechtsschutz des Betroffenen für die Überprüfung schwerwiegender Grundrechtseingriffe zu sichern, kann man eigentlich nur zu dem Ergebnis kommen: Es gehört gerade zu den Aufgaben des Verfahrenspflegers, den Betroffen, der seine Rechte selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann, auch in diesem Fall zu unterstützen.
Mit der dahinterstehenden grundrechtlichen Problematik setzt sich der BGH allerdings überhaupt nicht auseinander. Das bestärkt den Verdacht: Die Zivilgerichte wollen auf diesem Weg in Unterbringungssachen zumindest zum Teil die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Feststellungsinteresse bei erledigten schwerwiegenden Grundrechtseingriffen aushebeln. Man kann Verfahrenspfleger deshalb nur ermutigen, es mit der Verfassungsbeschwerde zu versuchen, wenn ihr Feststellungsantrag als unzulässig verworfen wird.