Die degressive Proportionalität des Europäischen Parlamentes wird kritisiert, weil sie demokratische Wahlrechtsgleichheit behindere. Eine kurze Betrachtung am Beispiel des italienischen Senats verneint diese These und bekräftigt, dass geographie-gerechte Sitzverteilungen ein legitimes Utensil im Werkzeugkasten eines Verfassungsgebers sind.
Die Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes aufgrund der „degressiven Proportionalität“ des Art. 14 Abs. 2 S. 3-4 EUV wird oft als Kritikpunkt erwähnt, um das „Demokratiedefizit“ der Europäischen Union zu beweisen. Auch das deutsche BVerfG hat in seinem Lissabon-Urteil dieses Kriterium der Sitzverteilung kritisiert (BVerfGE 123, 267, 373-377). Mit besonders scharfer Argumentation bezichtigten die Karlsruher Verfassungsrichter das EU-primärrechtlich verankerte Sitzverteilungskriterium der Unvereinbarkeit mit dem demokratischen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit: Die Repräsentation im Europäischen Parlament knüpfe somit nicht an die Gleichheit aller Unionsbürger an.
Das BVerfG argumentierte aber anhand der spezifischen bundesdeutschen verfassungsrechtlichen Architektur. Demnach erfolgt die Sitzverteilung der einzigen Volksvertretung auf Bundesebene (Bundestag) ohne Berücksichtigung von Kontingenten für Regionen oder Bundesländer, während allein in der föderalen Vertretung der Gliedstaaten (Bundesrat) geographische Ungleichgewichte „toleriert“ werden. Zweite Kammern solcher Art haben aber den Charakter einer Volksvertretung nicht, deswegen schließe die Repräsentation des Volkes geographisch bedingte Ungleichgewichte in der Sitzverteilung aus. Wenn solche vorhanden sind, sei konsequenterweise die ohnehin entstandene Versammlung keine Volksvertretung im vollen demokratisch-repräsentativen Sinne. Um das Argument zu untermauern, bezog sich das BVerfG auf das Beispiel von Staaten (Österreich, Australien, Belgien und USA), deren Rechtsordnung die Karlsruher Einschätzung bestätigt (BVerfGE 123, 267, 375). Wenn ihr [aber] die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? (Lk 6, 32 EÜ). Die deutschen Verfassungsrichter verwiesen selektiv auf das Vorbild der Länder, die ihre These bekräftigen, und verschwiegen das derjenigen, die dieser These widersprechen können. Zum Beispiel Italien.
Die Wahl „auf regionaler Basis“ des italienischen Senats
Das Zweikammersystem Italiens besteht aus einem Abgeordnetenhaus und einem Senat. Beide Kammern werden vom Wahlvolk direkt gewählt (Art. 56 Abs. 1 und 58 Abs. 1 ItaVerf). Mit einer Vertretung der Regionen bzw. Gliedstaaten durch direkt gewählte Mitglieder einer „zweiten“ Kammer – etwa nach schweizerischem oder spanischem Vorbild – ist der Senat in Rom nicht zu verwechseln: Jedes Mitglied sowohl der einen als auch der anderen Kammer repräsentiert die Gesamtheit der Bürger („die Nation“, Art. 67 ItaVerf). Relevant für eine Betrachtung der „degressiven Proportionalität“ nach Art. 14 Abs. 2 S. 3-4 EUV ist die Tatsache, dass die Wahl des italienischen Senats geografisch bedingte Schranken in Form von Kontingenten für die Regionen Italiens beachtet, ohne aber den Charakter einer Volksvertretung pleno jure zu verlieren. Der italienische Senat ist also „auf regionaler Basis gewählt“ (Art. 57 Abs. 1 ItaVerf): In jeder Region sollen mindestens sieben Senatoren gewählt werden, während für die besonders bevölkerungsarmen Aostatal und Molise die Verfassung ein noch kleineres Kontingent festschreibt (Art. 57 Abs. 3). Die Sitze werden proportional zwischen den Regionen verteilt, die verfassungsrechtliche Festlegung aber sowohl einer Mindestanzahl der in bevölkerungsärmeren Regionen gewählte Senatoren als auch einer Gesamtzahl der Mitglieder des Hauses führt dazu, dass sich evidente geographische Ungleichgewichte in der Sitzverteilung ergeben. Wie bei den Mandatskontingenten des Europäischen Parlaments, wird in der Lombardei ein Senator für jeweils ca. 205.000 Einwohner gewählt, während die Wähler in Basilicata einen Senator für jeweils ca. 81.000 Einwohner entsenden.
Trotzdem beeinträchtigt die Wahl „auf regionaler Basis“ den Charakter des italienischen Senats als voll legitimierte Volksvertretung nicht. Das im römischen Palazzo Madama sitzende Hohe Haus übt die vollen Kompetenzen einer Parlamentskammer in Gesetzgebung, Haushaltsbestimmung und Kontrolle der Regierung aus. Entscheidend ist die Bestimmung, dass jedes Parlamentsmitglied – unabhängig von Kriterium und Ort seiner Wahl – die Gesamtheit der Bürger repräsentiert (Art. 67 ItaVerf). Sie gilt nach italienischem Verfassungsrecht sogar für die nicht gewählten Senatoren auf Lebenszeit (Art. 59 ItaVerf), die von dem Geltungsbereich des Art. 67 ItaVerf nicht auszuschließen sind.
Ergänzungen einer absoluten Wahlrechtsgleichheit stehen im Werkzeugkasten des Verfassungsgebers auf nationaler und supranationaler Ebene
Der Fall des italienischen Senats ist rechtsvergleichend sehr bedeutsam. Er zeigt, dass verfassungsrechtlich festgelegte Bestimmungen, wie geographie-gerechte Sitzverteilungen, die bevölkerungsärmere Wahlbezirke begünstigen, nicht unvereinbar mit dem Charakter einer Volksvertretung sind, soweit die gewählten Parlamentsmitglieder nicht nur die Einwohner des Wahlbezirkes vertreten sollen, sondern vielmehr die Gesamtheit der Bürger. Solche Bestimmungen behindern die demokratische Wahlrechtsgleichheit nicht, sofern sie nicht komplett von einer grundsätzlichen Proportionalität zwischen Gewählten und Wählern abweichen.
Ein weiteres Beispiel stellen die nationalen Verfassungen dar, die die absolute Wahlrechtsgleichheit mit Bestimmungen ergänzen, die Sprachminderheiten nicht nur die Befreiung von Sperrklauseln gewähren, sondern auch eine überproportionale Vertretung im Verhältnis zu ihrer bloßen Bevölkerungsgröße (wie in Kroatien und Rumänien, ebenfalls EU-Mitgliedstaaten). Solche Korrekturen eines undifferenzierten Wahlrechtsgleichheitskriteriums gehören also zur verfassungspolitischen „Toolbox“ und schließen weder die demokratische Legimitation der somit gewählten Versammlung noch den Charakter von Vertretung des Volkes aus.
Nur wenn die Sitzverteilung einer Parlamentskammer von der Proportionalität zwischen Gewählten und Wählern vollständig absieht, kann man ihre Zusammensetzung als Abweichung vom Prinzip der Wahlrechtsgleichheit einordnen: Das ergibt sich etwa im Falle des US-amerikanischen Senats und des schweizerischen Ständerates. Beide vom BVerfG angeführten Häuser sind aber keine Vertretung des gesamten Volkes, sondern eine direkt gewählte föderale Vertretung von Gliedstaaten, und deswegen mit dem italienischen Senat gerade nicht vergleichbar.
Anhand dieser Festlegung, die der Fall des italienischen Senats beweist, ist die degressive Proportionalität des Europäischen Parlamentes (EP) nach Art. 14 Abs. 2 S. 3-4 EUV nicht als Missachtung der demokratischen Wahlgleichheit einzustufen. Der primärrechtlich festgestellte Mechanismus der Sitzverteilung stärkt die Position bevölkerungsärmerer EP-Wahlbezirke (Staatenkontingente), ohne eine grundsätzliche Proportionalität zwischen Gewählten und Wählern in Frage zu stellen. Das mag europapolitisch nicht unumstritten sein – vor allem aus der Perspektive bevölkerungsstarker Territorien wie Deutschland oder Italien; es bleibt aber rechtlich ein durchaus legitim verfolgbares Ziel des Unionsverfassungsgebers.
Von ausschlaggebender Bedeutung ist ferner die durch den Vertrag von Lissabon festgestellte Qualifizierung der Mitglieder des EP als Vertreter aller Unionsbürgerinnen und Unionsbürger (Art. 14 Abs. 1 S. 1 EUV). Das wird auch von der Bestimmung bestätigt, nach der das aktive und passive Wahlrecht für das EP in den jeweiligen EU-Staaten nicht auf Basis ihrer nationalen Staatsbürgerschaft, sondern allein der europäischen Unionsbürgerschaft erfolgt (Art. 20 Abs. 2 Buchst. b) AEUV). Wie die italienischen Senatoren, die in einer Region gewählt werden, ohne Vertreter ausschließlich von dieser Region zu sein, werden die MdEP wohl in einem Mitgliedstaat gewählt, sie vertreten aber vielmehr die Gesamtheit der Unionsbürger und nicht ausschließlich die Staatsangehörigen des Staates, in dem sie gewählt wurden.
In diesem Zusammenhang nicht zu verkennen ist die Bedeutung des qualitativ entscheidenden aktiven und passiven Wahlrechts für diejenigen Unionsbürger, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Ein in Italien lebender Deutscher wählt beispielsweise nicht die 96 „deutschen“ MdEP, sondern die 73 „italienischen“ MdEP, und kann für einen ihrer Posten kandidieren und dort sich wählen lassen. Andersherum gilt für einen in Deutschland lebenden Italiener. Angesichts dessen kann man weder so argumentieren, dass nur die 96 in Deutschland gewählten MdEP die Vertreter der deutschen Staatsbürger wären, noch die in Deutschland gewählten MdEP als Vertreter nur der deutschen Staatsbürger sehen. Transnationale Kandidaturen, wie zum Beispiel die des griechischen Altfinanzministers Yanis Varoufakis in Deutschland, zeigen aktuell die Validität des Prinzips.
Fazit
Die degressive Proportionalität nach Art. 14 Abs. 2 EUV entspricht einer verfassungspolitisch legitimen Berücksichtigung bevölkerungsärmerer Wahlbezirke in der Sitzverteilung des EP und ist kein Unicum im internationalen Vergleich, wie die Beispiele des italienischen Senats und der Parlamente anderer EU-Länder zeigen. Die somit gebildeten „Staatenkontingente“ gewährleisten in der Tat eine vergleichsweise stärkere Vertretung bevölkerungsärmerer EP-Wahlbezirke, die geographisch mitgliedstaatlichen Territorien entsprechen, bewirken aber weder eine Missachtung der grundsätzlichen Wahlrechtsgleichheit noch eine Begünstigung bzw. Diskriminierung von Wählern aufgrund der Staatsangehörigkeit. Auf der einen Seite ist die Festschreibung einer grundsätzlichen Proportionalität zwischen Gewählten und Wählern entscheidend. Auf der anderen Seite ist es maßgeblich, dass in jedem EP-Wahlbezirk die Unionsbürger ungeachtet der Staatsangehörigkeit wählen und gewählt werden dürfen. Alle Unionsbürger werden vielmehr nach der Wahl durch alle MdEP ungeachtet des Wahlortes und -kriteriums repräsentiert. Dem Europäischen Parlament ist deswegen aufgrund der degressiven Proportionalität der Charakter einer demokratisch vollständig legitimierten Volksvertretung auf Unionsebene nicht abzuerkennen.
Zitiervorschlag: Edoardo D’Alfonso Masarié, Geographie-gerechte Sitzverteilungen im Werkzeugkasten des EU-Verfassungsgebers, JuWissBlog Nr. 51/2019 v. 21.5.2019, https://www.juwiss.de/51-2019/
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