Wird der Rechtsstaatsbegriff tatsächlich umgedeutet? Eine Replik!

von MARVIN KLEIN

In seinem Artikel „Intervention zur unsäglichen Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs“ kritisierte Joel Sadek Bella, dass vermehrt unter dem Topos des Rechtsstaatsprinzips eine Law-and-Order-Politik gefordert wird, obschon das Rechtsstaatsprinzip eigentlich vor unrechtmäßigem Handeln des Staates schützen soll. Als ich letzte Woche den Artikel las, verspürte ich den Drang, dem Autor sowohl nickend und lautstark zuzustimmen, als auch kopfschüttelnd nach dem nächsten Kommentar zu greifen und den Autor eines Besseren belehren zu wollen.

Rechtsstaat – das bedeutet doch nicht nur die Bindung des Staates an Recht und Gesetz, sondern auch die Garantie des Staates, dass das Recht auf den Straßen zu gelten hat, damit Bürgerinnen und Bürger nicht in Reaktion auf einen ohnmächtigen Staat „ihr Recht in die eigene Hand“ nehmen müssen. Rechtsstaat ist also auch Aufgabe des Staates als Garant für die Einhaltung rechtlicher Normen und Verpflichtungen.

Die Begrenzung staatlicher Gewalt

Zunächst zu den bekannten Gemeinplätzen: Das Grundgesetz hat keine zentrale Norm, in der die vom Rechtsstaatsprinzip erfassten Verbürgungen umfänglich aufgeführt wird. Namentliche Erwähnung findet der Rechtsstaat lediglich in den europafesten Staatsstrukturprinzipien in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG sowie in der Homogenitätsklausel, Art. 28 Abs. 1 GG. Anerkannt ist weiterhin, dass Art. 20 Abs. 3 GG eine zentrale Vorschrift ist, die wesentliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips verbürgt. Dort heißt es:

„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“

Mit diesem Leitsatz brachten die Eltern des Grundgesetzes ein liberales Rechtsstaatsverständnis des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck, das gerade vor dem Hintergrund der Unrechtserfahrungen der NS-Zeit konsequent Verkörperung im Grundgesetz finden musste. Der Rechtsstaat verpflichtet danach primär die staatlichen Gewalten, sich an die verfassungsmäßige Ordnung bzw. an Gesetz und Recht zu halten. Blickt man nebenher noch in einige juristische Kommentare, wird ersichtlich, dass die verschiedenen geschriebenen und ungeschriebenen Elemente der Rechtsstaatlichkeit wohl die Ausübung von staatlicher Herrschaft beschränken sollen. So führt Prof. Grzeszick in Düring/Herzog/Scholz, Grundrechtskommentar zu Art. 20 (Rd. 22 ff.) folgende Elemente der Rechtsstaatlichkeit aus: Gewaltenteilung, die Geltung der Grundrechte, das Erfordernis formeller Gesetze, das gesetzmäßige Handeln von Verwaltung und Justiz, der Vorrang und der Vorbehalt des Gesetzes, Rechtssicherheit, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und andere rechtsstaatliche Verbürgungen. Dies alles sind Verbürgungen, die die Ausübung staatlicher Gewalt beschränken.

Die Herrschaft des Rechts in staatlicher Verantwortung

Doch darauf lässt das Rechtsstaatsprinzip nicht sein Bewenden. Skeptisch werden muss man jedenfalls dann werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass unsere freiheitliche Gesellschaft von einigen Grundvoraussetzungen abhängt, zu der auch die Akzeptanz des Rechtes sowie des staatlichen Gewaltmonopols gehört. Abgesehen von einigen engen, gesetzlich klar geregelten Ausnahmefällen der Selbsthilfe, ist es Aufgabe des Staates, Rechtsstreitigkeiten auf Anrufung durch die Bürgerinnen und Bürger verbindlich zu klären und die gerichtlich getroffenen Entscheidungen mit staatlicher Gewalt zu erzwingen. Nicht verwunderlich also ist, dass als Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols der Rechtsstaat auch die Pflicht zur Justizgewährung und zur Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtschutzes (in allen Verfahrensarten) hat. Doch auch hier bleibt das Rechtsstaatsprinzip nicht stehen.

Abstrahiert man nämlich die bis an diese Stelle erwähnten Elemente des Rechtsstaatsprinzips, kommt man auf eine rechtsstaatliche Komponente zurück, die quasi allen anderen rechtsstaatlichen Verbürgungen als Grundnorm vorgeschaltet ist: Die Herrschaft des Rechts.

Die Herrschaft des Rechtes betrifft nicht bloß die staatlichen Gewalten (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG), vielmehr ist sie eine zwingende Voraussetzung einer freiheitlichen und gewaltfreien Gesellschaft und erwartet von eben dieser Gesellschaft ihre Akzeptanz. Spiegelbildlich zur allgemeinen Akzeptanz des Rechts als Verfassungsvoraussetzung steht der aus dem Rechtsstaat fließende Verfassungsauftrag an die staatlichen Organe, der Herrschaft des Rechts zur Verwirklichung zu verhelfen. Die Durchsetzung des Rechts ist eine rechtsstaatliche Aufgabe. Hierauf hat zu Recht Prof. Schwarz jüngst in der NJW 2023, 275 ff. in seinem Artikel „Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam“ hingewiesen.

Der Rechtsstaat umfasst somit zwei Ausprägungen: Einerseits verhilft die Rechtsstaatlichkeit der Durchsetzung individueller Freiheiten, indem sie das staatliche Handeln begrenzt, andererseits verlangt sie Rechtsgehorsam aller Rechtsunterworfenen und gibt dem Rechtsstaat auf, dies im Zweifel auch durchzusetzen. Diese zweite Dimension der Rechtsstaatlichkeit erscheint den meisten im Verhältnis zwischen privaten Rechtsträgern in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten selbstverständlich. Der Staat hat die Pflicht, Gerichte und Vollstreckungsmechanismen zu schaffen und effektiv zu halten, um private Streitigkeiten in einem rechtsförmigen Verfahren zu bewältigen. Auch im verwaltungsrechtlichen Kontext dürfte einleuchten, dass der Staat die Umsetzung etwa umweltrechtlicher Pflichten im Zweifel erzwingen soll. Im Bereich des Strafrechtes gilt selbstverständlich nichts anderes, wie das Bundesverfassungsgericht schon früh klargestellt hat.

„Der Rechtsstaat kann nur verwirklicht werden, wenn sichergestellt ist, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen […] erfordern grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs“ (BVerfGE 51, 324, Rn. 65). Die Rechtsstaatlichkeit erfordert eine wirksame Strafverfolgung und Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 34, 238, Rn. 39). Im Einzelfall kann es somit zum Widerstreit mit den verschiedenen Dimensionen rechtsstaatlicher Anforderungen kommen – die verfassungsrechtliche Rechtspflege gegen sonstige rechtsstaatliche Verbürgungen, etwa die Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE 51, 324, Rn. 68).

Die hohe Bedeutung einer effektiven Rechtsdurchsetzung ist somit ein wichtiges Element der Rechtsstaatlichkeit. Ohne die staatliche Durchsetzungsfähigkeit und einem Durchsetzungswillen ließe sich das staatliche Gewaltmonopol sowie die freiheitliche Ordnung, die das Grundgesetz schützt, nicht aufrechterhalten.

Abschließende Bewertung

Begreift man Rechtsstaatlichkeit nicht bloß als die Begrenzung von staatlicher Gewalt, sondern auch als Verfassungsauftrag, der Herrschaft des Rechts auch auf den Straßen zur Verwirklichung zu bringen, dann dürfte man der zentralen These von Joel Sadek Bella widersprechen. Der Rechtsstaat kann und muss Zähne zeigen. Der Rechtsstaat muss gegen Rechtsverstöße vorgehen und dafür auch alle rechtlichen Instrumentarien ausnutzen. Nichts anderes ist gemeint, wenn regelmäßig der Rechtsstaat im Zusammenhang mit Straftaten beschworen wird.

Gleichwohl kann man Bella auch zustimmen: Nur zu häufig wird der Rechtstaat bemüht, wenn eigentlich rechtspolitisch härtere Strafen (etwa für Blockaden von Straßen durch Klimaaktivisten) oder neue Gesetze gefordert werden. Eine so verstandene Law-and-Order-Politik mag im Einzelfall begründet sein, doch der Rechtsstaat erfordert sie nicht.

Zitiervorschlag: Klein, Marvin, Wird der Rechtsstaatsbegriff tatsächlich umgedeutet? Eine Replik!, JuWissBlog Nr. 53/2023 v. 24.08.2023, https://www.juwiss.de/53-2023/.

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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Joel S. Bella
    26. August 2023 21:53

    Lieber Herr Klein, herzlichen Dank für diese lesenswerte Replik. Sie betonen zurecht eine andere Dimension des Rechtsstaats, die in meinem Text (zu) wenig Raum gefunden hat. Es gilt eben nicht nur der Vorbehalt des Gesetzes, sondern auch der Vorrang des Gesetzes, wie Sie darlegen. Allerdings kann man aus historischer Perspektive und entgegen der Auffassung des BVerfG durchaus in Zweifel ziehen, ob gerade die Strafverfolgung eine derart konstitutive Voraussetzung für den Rechtsstaat ist. Andersherum: Gerade „Unrechtsstaaten“ sind und waren es doch, die sich durch ein gut funktionierendes System staatlicher Unterdrückung gerade in Form der Strafverfolgung auszeichnen. Sprich: Strafverfolgung an sich ist mE kein Charakteristikum eines Rechtsstaats. Sie wird es erst, wenn sie in rechtsstaatliche Verfahren eingekleidet wird. Sonst ist sie nur ein Mittel zur Durchsetzung staatlicher Macht, das es schon weit vor der Entstehung von Rechtsstaaten gab.

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