Intervention zur unsäglichen Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs

von JOEL SADEK BELLA

Der Rechtsstaat ist am Ende. Zwar (noch) nicht real, aber jedenfalls begrifflich. Immer häufiger nutzen nicht nur juristische Laien den Begriff, um eine law and order-Politik zu begründen. Gefährlich wird es, wenn der Rechtsstaat im kollektiven Sprachgebrauch einer Umdeutung zum Opfer fällt.

Just in meinem kürzlichen Repetitorium zum Strafprozessrecht versuchte eine Kommilitonin weitreichende Befugnisse der Ermittlungsbehörden damit zu begründen, dass es im Rechtsstaat ja nicht anginge, wenn Strafgesetze nicht durchgesetzt würden. Womöglich mag der Hinweis darauf, dass der Begriff Rechtsstaat genau im gegenteiligen Sinne (nämlich zur Begrenzung staatlicher Befugnisse) zu verwenden wäre, als juristische Spitzfindigkeit missverstanden werden. Dieser Beitrag möchte dem entgegentreten und aufzeigen, warum eine korrekte Verwendung des Wortes Rechtsstaat für eben jenen unerlässlich ist.

Vorweg: Anlass dieses Beitrages sind neben den besorgniserregenden Wissenslücken zukünftiger Nachwuchsjuristen, die im Übrigen auch vom dozierenden Präsidenten am Landgericht a.D. beanstandungslos hingenommen wurden, insbesondere die in der Politik, nicht zuletzt vom aktuellen Justizminister, immer deutlicheren Versuche, den Rechtsstaat zu unterminieren.

Was die Politik aus dem Rechtsstaat macht

So sprach Dr. iur. Marco Buschmann beispielsweise Anfang dieses Jahres davon, der Rechtsstaat müsse angesichts der Silvestervorfälle in Berlin „Zähne zeigen“. Auch gegen die Handlungen der Letzten Generation bringt der FDP-Politiker gerne den Rechtsstaat in Stellung, um eine Bestrafung zu begründen. Abgesehen davon, dass er diese Äußerungen zumeist in amtlicher Funktion tätigt und so schon der Neutralitätspflicht nicht gerecht wird, schadet er damit dem Rechtsstaat, den er selbst so gern beschwört. Auch wenn Marco Buschmann sich nach seiner juristischen Ausbildung nicht mehr mit dem Recht der Staatsorganisation – geschweige denn mit deren grundlegenden Prinzipien auseinandergesetzt zu haben scheint, sondern sein juristisches Wissen zur Analyse des Eigentumsrechts aufopferte, darf man einem Justizminister diese Ungenauigkeiten nicht durchgehen lassen. Dies gilt umso mehr, als in Anbetracht der Tatsache, dass Buschmann etwa beim Thema der Chatkontrollen den Rechtsstaatsbegriff korrekt zu verwenden vermag, ein gewisses Kalkül unterstellt werden darf. Als ähnlich irreführend und peinlich kann die Forderung des stolzen Volljuristen Friedrich Merz („ich habe mit meiner Frau vier Staatsexamen zusammen“) nach mehr Präsenz des Rechtsstaates bezeichnet werden, wenn er doch eigentlich eine stärkere Präsenz von Polizeibeamten meint. Schließlich ist auch unsere Innenministerin nicht vor Irrtümern gefeit: sie meint, der Rechtsstaat müsse mit aller Härte durchgreifen, wenn Menschen radikal werden. Diese Einlassungen führender Regierungs- sowie Oppositionspolitiker(innen), denen noch unzählige hinzugefügt werden könnten, verdeutlichen ein Rechtsstaatsverständnis, das geprägt ist von Repression und Durchsetzung staatlicher Macht. Dass dies äußerst problematisch, ja geradezu rechtsstaatsgefährdend ist, zeigt sich aber erst, wenn die eigentliche, die richtige Bedeutung des Wortes Rechtsstaat zu Tage gefördert wird.

Was Rechtsstaat eigentlich heißt

Denn ein Rechtsstaat zeichnet sich nicht etwa durch hohe Polizeipräsenz oder dadurch aus, dass er das bestehende Recht gegenüber dem Bürger konsequent und mit aller Härte durchsetzt, so wie es uns Frau Faeser und Herr Buschmann nahelegen. Vielmehr geht es gerade um das Gegenteil. Der Rechtsstaat ist Rechtsstaat, weil das Recht den Staat in seinen Befugnissen begrenzt, weil der Staat sich an Gesetze halten muss und Freiheit und Eigentum nur auf gesetzlicher Grundlage beschränken darf. Volle Härte ist schon deswegen ausgeschlossen, weil Eingriffe im Rechtsstaat immer nur so weit gehen dürfen, wie unbedingt notwendig (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Das Pferd muss also von der anderen Seite aufgezäumt werden. Während immer mehr konservative und (leider) auch sich liberal nennende Politiker den Rechtsstaatsbegriff missbrauchen, um repressives Vorgehen des Staates zu legitimieren, ja sogar zu begründen, soll der Rechtsstaat den Einzelnen vor genau diesem Vorgehen schützen. Kurzum: Der Rechtsstaat dient nicht der Strafverfolgung; das machen Polizei und Staatsanwaltschaft. Der Rechtsstaat dient dem Schutz vor staatlicher Willkür, gerade in Form der Strafverfolgung. Indem der Rechtsstaatsbegriff immer und immer wieder auf diese falsche Weise verwendet wird, wird er in sein Gegenteil umgedeutet.

Wohlwollende Beobachter könnten auf die Idee kommen, der Rechtsstaatsbegriff werde überhaupt nicht falsch verwendet und die oben zitierten Aussagen seien vielmehr dahingehend zu begreifen, dass sich die Strafverfolgung im Rahmen der geltenden Gesetze bewegen muss. Es solle eben nicht nur der Staat durchgreifen, sondern der an Recht und Gesetz gebundene Rechtsstaat. Zuzugestehen ist, dass nach streng juristischer Auslegung ausgehend vom Wortlaut ein solcher Bedeutungsinhalt möglich erscheint. Besonders wahrscheinlich ist er indes nicht. Deutlich wird dies vor allem an Merz‘ Aussage, in der er als Reaktion auf Straftaten während der Berliner Silvesternacht und immer mehr rechtsfreie Räume in Deutschland mehr Präsenz des Rechtsstaates fordert. Dass es Merz hier primär um die Rechte der Beschuldigten während der Strafverfolgung geht und nicht einfach um mehr Polizei, darf bezweifelt werden. Jedenfalls wäre ein solches Verständnis erklärungsbedürftig. Einer wohlwollenden Interpretation noch weniger zugänglich dürfte die Äußerung Buschmanns sein, der Rechtsstaat solle „Zähne zeigen“. Dort ergibt sich schon aus der Wortbedeutung des „Zähnezeigens“, dass es hier höchstens zweitrangig um die Rechte der Betroffenen geht und in erster Linie um effektive Strafverfolgung. Hilfsweise gelten folgende Überlegungen: Selbst wenn man den Hinweis auf den Rechtsstaat als Forderung nach Einhaltung von Recht und Gesetz verstünde (was nach dem Vorstehenden gut begründet sein will), stellt sich die Frage, warum es überhaupt nötig sein sollte, die Strafverfolgungsbehörden ohne konkreten Anlass ständig an ihre verfassungsrechtlichen Grenzen zu erinnern. Dazu kommt, dass eine solche Auslegung konsequenterweise dazu führen müsste, dass Äußerungen in denen nur der Staat (also nicht der Rechtsstaat) in Bezug genommen werden, so zu verstehen wären, dass keine Einhaltung von Recht und Gesetz gefordert ist. Die Begriffe Staat und Rechtsstaat stünden so in einem dichotomen Verhältnis zueinander. Letztendlich kann und muss jeder selbst entscheiden, wie er die Äußerungen verstehen möchte. Für den Verfasser bestehen allerdings keine ernstzunehmenden Zweifel an der hier vertretenen Auslegung.

Wortklauberei oder wichtiges Anliegen

Nun mag man aus unbefangener Perspektive in dem Vorstehenden eine gewisse juristische Spitzfindigkeit erblicken, die doch praktisch kein Problem adressiert. Eine solche Sicht auf die Dinge übersähe allerdings den Stellenwert, den der Begriff Rechtsstaat für unser Gemeinwesen hat. Nicht nur sind jegliche Grundrechte als Abwehrrechte Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, dem das Grundgesetz folgt. Der Rechtsstaat findet auch ausdrückliche Erwähnung in der Verfassung (Art. 20 Abs. 3, Abs. 1 S. 1 GG). Und da (Grund)Gesetze auch nur schöne Worte auf Papier sind und für deren Auslegung die Wortbedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch relevant sein kann, kann es uns nicht egal sein, wenn für die freiheitliche demokratische Grundordnung derart konstituierende Begriffe in der öffentlichen Debatte gegenteilig verwendet werden. Die Gefahr einer über Jahre andauernden Falschbezeichnung und daraus folgenden Aushöhlung des Wortes dürfte auf der Hand liegen. So gäbe es wohl auch berechtigten Aufschrei, wenn der Bundesjustizminister im Namen der Demokratie die Abschaffung von Wahlen forderte. Den Rechtsstaat für ein stärkeres Vorgehen gegen Bürger zu instrumentalisieren, steht dem in Sachen Widersprüchlichkeit in nichts nach.

Zum Schluss sei noch gesagt, dass es selbstverständlich legitim ist, ein härteres Vorgehen des Staates und die Einhaltung von Gesetzen durch die Bürger zu fordern. Ja sogar Schnellverfahren für Schwimmbadpöbler darf man verlangen. Aber all das bitte nicht im Namen des Rechtsstaates.

 

Zitiervorschlag: Bella, Joel Sadek, Intervention zur unsäglichen Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs, JuWissBlog Nr. 48/2023 v. 10.08.2023, https://www.juwiss.de/48-2023/

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5 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • C. Degenhart
    11. August 2023 11:55

    Wie der Verf zutr ausführt, geht es beim Rechtsstaat um die Begrenzung und Mäßigung staatlicher Macht. Allerdings ist es das Bundesverfassungsgericht, das die „funktionstüchtige Strafrechtspflege“ zum Gebot des Rechtsstaats erhoben hat.

    Antworten
    • Joel S. Bella
      13. August 2023 11:43

      Sie sprechen zutreffend eine andere Dimension des Rechtsstaats an, der die Strafverfolgungsbehörden dazu verpflichtet, die ihnen durch Gesetz auferlegten Aufgaben zu erfüllen. Dazu gehört auch eine effektive Strafverfolgung. Dennoch halte ich die Überbetonung dieser Dimension für falsch und irreführend. Das belegt bereits die Überlegung, dass sich „Unrechtsstaaten“ selten durch ineffektive Strafverfolgung auszeichnen. Folglich ist effektive Strafverfolgung de facto kein Charakteristikum eines Rechtsstaats. (Ich gehe davon aus, dass Sie dies ähnlich sehen. Ihr Beitrag bot lediglich Anlass, diesen Aspekt näher zu beleuchten. Danke dafür.)

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  • […] seinem Artikel „Intervention zur unsäglichen Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs“ kritisierte Joel Sadek Bella, dass vermehrt unter dem Topos des Rechtsstaatsprinzips eine […]

    Antworten
  • Axel Fingerhut
    21. Oktober 2023 23:07

    Hinsichtlich der manipulative Umdeutung oder Umgewichtung von Begriffen bzw. deren Benutzung in den jetzigen politischen Auseinandersetzungen (diese Diskussionen zu nennen wären zu verharmlosend) benutzen die üblichen Verdächtigen neben dem Rechtsstaatsbegriff – wobei die Verpflichtung zum Rechtsgehorsam einfach unterstellt wird – auch gerne den Begriff „Staatsräson“ (ohne normative Definition) zur Disziplinierung des Souveräns.
    Ein Rückfall in den machiavellistischen Gebrauch – die Berufung darauf ein gefundenes Fressen für die „Dunkle Triade“?
    Auch Ihr „Replikant“ MARVIN KLEIN (s. 24. August 2023 11:00) möge seine Sichtweise nochmal prüfen, ob gerade heutzutage die fast aggressive Forderung nach gnadenloser Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen gegenüber der Rechtsstaatsgarantie als Abwehrrecht zurücktreten muss.

    Antworten
  • […] Rechtsstaat muss in der öffentlichen Debatte mitunter für vieles herhalten (siehe hier, hier und hier, aber auch hier). Hier ist der Rekurs auf das Rechtsstaatsprinzip meines Erachtens […]

    Antworten

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