von ANNA ILLMER
Wie ist mit dem Wolf als geschützter Art umzugehen? Wie sind Almwirtschaft und Schutz des Wolfs rechtskonform miteinander abzuwägen, und wie kann vielleicht ein Ausgleich zwischen ihnen gelingen? Solche Fragen beschäftigen seit geraumer Zeit nicht nur Almwirte und Naturschützer, sondern auch die breite Öffentlichkeit, Behörden und Gerichte. Ein Fall aus Tirol ist nun Anlass für den EuGH, sich mit diesem emotional aufgeladenen Thema auseinanderzusetzen.
Zunächst ist festzuhalten: der Wolf ist eine geschützte Art. Für die EU-Mitgliedstaaten ist dies primär in der FFH-RL verankert, welche dem Schutz der wildlebenden Arten und natürlichen Lebensräume dient und u.a. den Wolf erfasst. So erklärt sie ihn zur streng geschützten Art und verpflichtet die Mitgliedstaaten, ein strenges Schutzsystem für ihn einzuführen sowie insbesondere jedes vorsätzliche Fangen oder Töten zu verbieten (Art. 12 i.V.m. Anhang IV FFH-RL). Ausnahmen von diesem strengen Schutz sind möglich, aber lediglich unter engen und restriktiv auszulegenden Voraussetzungen – nämlich nur, wenn in der konkreten Situation einer der aufgezählten Ausnahmegründe vorliegt, die Populationen dennoch „in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen“ und es „keine andere zufriedenstellende Lösung“ gibt (Art. 16 Abs. 1 FFH-RL).
Diese Bestimmungen verdeutlichen zweierlei: Erstens, dass das Europarecht (im Übrigen weitestgehend parallel mit dem Völkerrecht) strikte Vorgaben für den Schutz bestimmter Arten etabliert, den Wolf zu einer solchen geschützten Art erklärt und die Staaten somit verpflichtet sind, entsprechende Schutzsysteme zu errichten. Zweitens, dass dennoch zahlreiche Details vage und die verwendeten Begriffe auslegungsbedürftig sind. Es verwundert daher nicht, dass diese Vorgaben Unklarheiten und Meinungsverschiedenheiten hervorrufen können und besonders bezüglich so emotionaler Themen wie der Abwägung von Almwirtschaft und Schutz des Wolfs zu Streitigkeiten und rechtlichen Gratwanderungen führen.
Um zu klären, wie das Verhältnis von Almwirtschaft und Schutz des Wolfs unionsrechtskonform auszugestalten ist, müssen die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 FFH-RL genauer betrachtet werden:
Die Ausnahmegründe
Eine Ausnahme darf zunächst nur genehmigt werden, wenn einer der in den Buchstaben a bis e aufgezählten Gründe vorliegt. Dabei muss das verfolgte Ziel klar belegt und außerdem nachgewiesen werden, dass die Ausnahme geeignet ist, dieses zu erreichen (EuGH C-674/17, Rn. 80). Im hier relevanten Zusammenhang kommen vor allem lit. a, b oder c in Betracht:
Gemäß lit. a dürfen Ausnahmen „zum Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen und zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume“ genehmigt werden. Welche Arten und Lebensräume davon erfasst sind, ist dort nicht festgelegt und auch vom EuGH noch nicht beantwortet. In Anbetracht des grundlegenden Ziels der RL dürften primär empfindliche, bedrohte oder ebenfalls geschützte Arten und Lebensräume darunterfallen. Hinsichtlich des Wolfs ist daher besonders an den Schutz einer seltenen oder geschützten wildlebenden Beutetierart zu denken, während Nutztiere nicht erfasst sein dürften. Im Ergebnis wird das Vorliegen der lit. a zum Schutz der Almwirtschaft wohl nur selten zu bejahen sein.
Daneben gestattet lit. b Ausnahmen „zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung […] sowie an sonstigen Formen von Eigentum“. Im hier behandelten Zusammenhang stellt sich die (vom EuGH noch nicht beantwortete) Frage, ob nur unmittelbare, einem konkreten Wolf zuzurechnende, oder auch mittelbare, keinem konkreten Tier zuordenbare und ggf. sogar künftige Schäden heranzuziehen sind. In letzterem Fall könnten beispielsweise Mehraufwendungen für im Heimbetrieb gehaltene Tiere oder das Risiko von Betriebs- oder Almschließungen berücksichtigt werden. Für eine solche weite Auslegung spricht, dass lit. b nicht abschließend formuliert ist und damit grundsätzlich Raum für nicht explizit genannte wirtschaftliche Interessen, wie etwa volkswirtschaftliche Belange, lässt. Auch fordert die Rechtsprechung nicht, dass ein ernster Schaden abgewartet wird, bevor Ausnahmen genehmigt werden (EuGH C-342/05, Rn. 40). Daher können drohende Schäden und künftige Entwicklungen der Almwirtschaft grundsätzlich berücksichtigt werden – vorausgesetzt, ihr Eintreten sowie ihre Verursachung durch Wölfe sind sehr wahrscheinlich und hinreichend belegt.
Schließlich können Ausnahmen nach lit. c „aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses“ erfolgen. Almwirtschaft im alpinen Raum kann verschiedenen öffentlichen Interessen dienen, beispielsweise landwirtschaftlicher Produktion, Erhaltung der Almflächen, Sicherung der Biodiversität, Tourismus oder der Erholung. Inwieweit die betroffene Almwirtschaft solchen Interessen allerdings tatsächlich dient, ist im Einzelfall zu prüfen. Ebenso muss die Frage, ob diese öffentlichen Interessen überwiegen, jeweils für den konkreten Fall im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung geprüft werden. Hinsichtlich Regionen, für die die Almwirtschaft wirtschaftlich, ökonomisch oder auch gesellschaftlich besonders wichtig ist, ist die Bejahung eines solchen überwiegenden öffentlichen Interesses zumindest denkbar.
Beibehaltung des günstigen Erhaltungszustands
Als zweite Voraussetzung des Art. 16 Abs. 1 FFH-RL müssen die Populationen trotz der Ausnahme in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen bzw. in ihrem Erhaltungszustand zumindest nicht nachteilig beeinflusst werden. Wesentlich dafür ist, auf welcher Ebene Erhaltungszustand und Auswirkungen zu beurteilen sind – auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene, oder sogar grenzüberschreitend innerhalb einer biogeografischen Region? Der EuGH fordert eine Beurteilung des Erhaltungszustands sowie der geprüfte Ausnahme einerseits bezogen „auf das lokale Gebiet“, andererseits bezogen „auf das Hoheitsgebiet oder ggf. auf die betreffende biogeografische Region, wenn sich die Grenzen dieses Mitgliedstaats mit mehreren biogeografischen Regionen überschneiden oder wenn das natürliche Verbreitungsgebiet der Art es erfordert und soweit möglich grenzüberschreitend“ (EuGH, C-674/17, Rn. 61). Notwendig ist also, dass Erhaltungszustand und Wirkung der Ausnahme auf lokaler sowie übergeordneter Ebene bekannt sind und ordnungsgemäß bewertet werden.
Der Wolf hat einen weiten Aktionsradius und lebt häufig in grenzüberschreitenden Populationen, etwa im Alpenraum oder in Zentraleuropa. Grundsätzlich wäre es daher sinnvoll, Erhaltungszustand und Auswirkungen der Ausnahme – neben der lokalen Ebene – bezogen auf die biogeografische Region, also beispielsweise die Alpen, und auch grenzüberschreitend zu beurteilen. Unerlässlich dafür wären allerdings aktuelle und verlässliche Informationen aus allen betroffenen Mitgliedstaaten, sowie, dass die Staaten ihr Vorgehen miteinander koordinieren. Auch müsste sichergestellt sein, dass die Lasten zwischen den Staaten fair verteilt werden und nicht ein Staat von den anderen lediglich profitiert. Bislang erfüllen die Staaten diese Kriterien nicht. Ausnahmen basierend auf dem Erhaltungszustand in anderen Mitgliedstaaten zu genehmigen, ist daher aktuell keine Option. Stattdessen dürfen die Staaten nur den Erhaltungszustand und die Wirkungen der Ausnahme in ihrem eigenen Hoheitsgebiet heranziehen.
Ausnahme als letztes Mittel
Schließlich erfordert die FFH-RL noch, dass es „keine anderweitige zufriedenstellende Lösung“ gibt, also keine Maßnahmen existieren, mit denen das verfolgte Ziel in zufriedenstellender Weise erreicht und in die Schutzgüter der FFH-RL weniger eingegriffen wird. Alternativmaßnahmen zur Entnahme des Wolfs können etwa in Ausgleichzahlungen, Monitoring oder vorbeugenden Herdenschutzmaßnahmen wie Zaunsystemen, Behirtung und Herdenschutzhunden bestehen. Noch nicht von der Judikatur geklärt wurde, ob bei dieser Prüfung rein auf die tatsächliche Durchführbarkeit der Alternativen abzustellen ist, oder ob auch wirtschaftliche Kriterien miteinzubeziehen sind. In zweiterem Fall würden etwa Herdenschutzmaßnahmen aufgrund des mit ihnen verbundenen teils hohen Aufwands seltener eine solche andere zufriedenstellende Lösung darstellen.
Für eine sachgerechte Entscheidung sollten im jeweiligen Einzelfall möglichst alle ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Vor- und Nachteile sowohl der geprüften Ausnahme als auch der Alternativen ermittelt und miteinander abgewogen werden. Hinsichtlich der Almwirtschaft müsste somit u.a. berücksichtigt werden, welche Ausgleichszahlungen und Förderungen zur Verfügung stehen, ob Herdenschutzmaßnahmen möglich, wie erfolgsversprechend und wie aufwandsintensiv sie sind. Dabei können etwa auch die topographischen und betrieblichen Strukturen der betroffenen Region eine Rolle spielen. Nur wenn die Behörde im Einzelfall zu dem Schluss kommt, dass solche Lösungen keine zufriedenstellende Alternative zu der geplanten Ausnahme darstellen, und auch die beiden anderen Voraussetzungen des Art 16 FFH-RL erfüllt sind, darf eine Ausnahme genehmigt werden.
Was nun?
Der Wolf wird vom internationalen Recht streng geschützt. Ob das geändert werden sollte, ist eine Frage, über die auf politischer Ebene zu entscheiden ist. Gegenwärtig jedenfalls sind die Staaten verpflichtet, die unionsrechtlichen Vorgaben, namentlich Art. 16 Abs. 1 FFH-RL einzuhalten. Auf das Konfliktverhältnis von Wolf und Almwirtschaft sollten sie daher im Rahmen der derzeit rechtskonformen, begrenzten, aber dennoch vorhandenen Möglichkeiten reagieren.
Zitiervorschlag: Illmer, Anna, Die Vereinbarkeit von strengem Wolfsschutz und Almwirtschaft im Unionsrecht, JuWissBlog Nr. 49/2023 v. 11.08.2023, https://www.juwiss.de/49-2023/
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