„Wenn Du merkst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab!“, besagt ein Sprichwort. Es steht auch sinnbildlich für die neueste Rundfunkentscheidung des BVerfG (Beschl. v. 20. Juli 2021, Az.: 1 BvR 2756/20), in dem die Verweigerung Sachsen-Anhalts, dem neuen Rundfunkstaatsvertrag einschließlich der Beitragserhöhung zuzustimmen als Grundrechtsverletzung der Anstalten gerügt wird. Die Chance, die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im 21. Jahrhundert präziser zu definieren, lässt Karlsruhe verstreichen.
Die historischen Wurzeln des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die aktuelle Situation
Ihren argumentativen Ursprung hat die Rundfunkrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den rundfunkpolitischen Gegebenheiten der 1950er Jahre. Rundfunk war zu dieser Zeit eine aufwendige und kostenintensive Technik. Die lediglich terrestrischen Übertragungsmöglichkeiten ermöglichten nur wenige verfügbare Rundfunkfrequenzen. Um angesichts dieser Voraussetzungen die notwendige Meinungspluralität in diesem – die Meinungsbildung besonders prägenden – Medium sicherzustellen, war die Schaffung öffentlich-rechtlich organisierter Rundfunkanstalten geboten. Seitdem hat sich viel bewegt; im Jahr 2021 gib es hunderte frei empfangbare Radio- und Fernsehsender, und Plattformen wie YouTube, Facebook, Instagram und viele andere erlauben zusammen mit günstigen Kameras, Computern und Smartphones jedermann, ein eigenes Rundfunkprogramm zu gestalten. Die Situation der 1950er Jahre, in denen es leichter war, eine Zeitung zu verlegen als einen Rundfunksender zu betreiben, hat sich nunmehr ins Gegenteil verkehrt. An der Rechtsprechung des BVerfG scheint diese Entwicklung allerdings vorbeigegangen zu sein.
Die altbekannten Argumentationsmuster
Auch im neuen Beschluss finden sich die altbekannten Argumentationsmuster der vorangegangenen Rundfunkentscheidungen der letzten 60 Jahre, wonach Art. 5 I 2 GG auf eine öffentlich-rechtliche Rundfunkordnung ziele, die eine Vielfalt der bestehenden Meinungen in größtmöglicher Breite sicherstelle. Das BVerfG zeichnet hier ein eher negatives Bild von der Medienkompetenz der Konsumenten und warnt vor sensationslüsterner Berichterstattung, Filterblasen und Fake News, die über die Deutschen hereinbrechen würden, würde der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht durch seine Berichterstattung sachgerecht informieren (vgl. Rn. 81 des Beschlusses).
Ebenso taucht der Begriff des Funktionsauftrags und des Funktionsnotwendigen auf, in älteren Urteilen auch mit dem Begriff „Grundversorgung“ umschrieben. Demnach obliege die Entscheidung über das, was für die Erfüllung des Funktionsauftrags notwendig ist, grundsätzlich den Rundfunkanstalten, gleichzeitig müsse aber nicht jede Programmentscheidung der Rundfunkanstalten finanziell honoriert werden (vgl. Rn. 84).
Für eine Abweichung von der KEF-Empfehlung bedarf es, was neu ist, nunmehr einer einstimmigen Entscheidung und Begründung aller Länder (vgl. Rn. 108).
Die Verharrung in widersprüchlichen Argumentationsmustern
Das Gericht folgt leider in der neuen Entscheidung widersprüchlichen Argumentationsmustern. Der Gedanke, dass aufgrund der großen Marktmacht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner vom BVerfG legitimierten Angebotserweiterung (vgl. BVerfGE 74, 297; 83, 238) in Onlinemedien und Streamingportalen für seriöse, qualitativ hochwertige, privatrechtlich organisierte Informationsangebote kein relevanter Markt existiert, wird nicht erörtert. Dass eine erstickende Marktmacht des öffentlich-rechtlichen Systems mit 21 Fernsehsendern und unzähligen Radiostationen genau das hervorrufen könnte, was Karlsruhe als Ausgangsprämisse für seine Schlussfolgerung der Notwendigkeit des jetzigen Systems wählt, wäre zumindest eine Erörterung wert gewesen, um sich nicht dem Vorwurf der zirkelschlüssigen Argumentation auszusetzen.
Irritierend ist, dass die einst tragende Befürchtung, rein private Medienangebote könnten nicht genügend Meinungsvielfalt sicherstellen, mit dem Argument von vermehrten Fake News in der Online-Welt nun ins Gegenteil verkehrt wird: Der Bürger könnte nunmehr mit zu viel Meinungsvielfalt konfrontiert werden und muss vor dieser Meinungsflut geschützt werden. Dass das BVerfG hinsichtlich der wesensverwandten Pressefreiheit angesichts der großen Vielfalt des Printmarktes und der seit Jahrzehnten mehr oder minder Fake News verbreitenden Regenbogenpresse eine Überforderung der Leser befürchtet hätte, ist nicht bekannt. Neben der unterschwelligen Unterstellung, der Bürger sei unmündig und verfüge über wenig Medienkompetenz, zeigt diese Einteilung in einen erhaltenswerten „guten“, weil öffentlich-rechtlichen und einen gefährlichen „schlechten“, weil privaten Journalismus ein fragwürdiges Medienbild auf. Warum außerdem der öffentlich-rechtliche Rundfunk (vgl. dazu Rn. 80, wo auf die mindere Qualität privater Programme abgestellt wird) die Bildung von Filterblasen verhindern können soll, ist unklar; abgesehen von der Kritik der letzten Jahre von politisch liberaler und konservativer Seite an mangelnder Meinungsvielfalt im Programm ist (zumindest noch) niemand verpflichtet, die angebotenen Inhalte der Rundfunkanstalten tatsächlich zu konsumieren. Wie durch die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Filterblasen vorgebeugt werden soll, bleibt damit das Geheimnis des Gerichts.
Ungeklärt bleibt weiterhin, was nach Vorstellung des BVerfG das Mindestmaß des Programminhalts darstellen soll, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk bieten muss. Leider bleibt das Gericht schmallippig wenn es darum geht zu definieren, was das Mindestmaß des unantastbar „Funktionsnotwendigen“ sein soll. Die einzige konkrete Annäherung an diese Frage, nämlich die These aus dem 5. Rundfunkurteil, wonach jedenfalls alle Programme, die am 4. November 1986 existierten, der Grundversorgung zuzurechnen sind (vgl. BVerfGE 74, 297 (326)), wird in der Entscheidung zwar nicht ausdrücklich wiederholt, aber auch nicht widerrufen und muss somit wohl weiterhin als Richtschnur dienen, denn die inhaltliche Gestaltung soll sich den Ausführungen des BVerfG folgend weiterhin als ein Vollprogramm, nicht nur als Mindestversorgung darstellen (vgl. Rn. 78ff.). Die Festlegung der zur Erfüllung des Auftrags notwendigen Inhalte und Programmformate obliegt weiterhin im Wesentlichen den Anstalten selbst (vgl. Rn. 84). Wo angesichts dessen noch Raum für einen „weiten Gestaltungsspielraum“ des Gesetzgebers (vgl. Rn. 84) bleiben soll, bleibt unklar. Maßstäbe für das Funktionsnotwendige werden in der neuesten Entscheidung nicht geliefert; die Ausführungen ergehen sich hierzu in selbstreferenziellen Allgemeinplätzen (vgl. Rn. 85ff.).
Wirklich Neues bringt nur die Feststellung, dass es nun einer einstimmigen Entscheidung der Länder bedürfe, um von der KEF-Empfehlung abweichen zu können. Warum „[i]m gegenwärtigen System der Rundfunkfinanzierung […] eine Abweichung von der Bedarfsfeststellung der KEF nur durch alle Länder einvernehmlich möglich“ sein soll (vgl. Rn. 108), verschweigt der Beschluss aber. Die zum vermeintlichen Beleg angeführte Fundstelle BVerfGE 119, 181 (229) enthält diese Aussage nicht, für die sonst keinerlei Begründung geliefert wird.
Fazit
Das BVerfG ergänzt seine Rundfunkrechtsprechung um einen zwar konsequenten, in seiner Methodik aber auch Nichtjuristen nicht mehr vermittelbaren Beitrag. Vor dem Hintergrund, dass durch die neue Rundfunkentscheidung den Ländern fast jeder demokratische Einfluss auf die Gestaltung des Beitrags an sich versagt wird, entsteht der Eindruck, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk zunehmend zu einem „Staat im Staate“ entwickelt. Des Vorwurfs einer sinnlosen Demokratie-Inszenierung kann sich das aktuelle Verfahren nicht erwehren, wenn in einer Abstimmung die eine Entscheidungsmöglichkeit zwingend verfassungswidrig sein soll.
Wo die Budgethoheit – sonst eigentlich eines der wichtigsten Vorrechte der Parlamente zur Kontrolle und Beeinflussung der Exekutive – der Beurteilung durch den Souverän entzogen ist und dieser auch nur sehr begrenzt inhaltliche Anforderungen an das Programm stellen darf, entwickelt sich ein schwer kontrollierbares Eigenleben der Rundfunkanstalten. Ein überzeugendes Konzept, wie die Staatsferne und inhaltliche Freiheit der Anstalten befriedigend mit den finanziellen Interessen und inhaltlichen Bedürfnissen derjenigen in Einklang zu bringen sind, denen die Anstalten im Sinne der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 5 I 2 GG dienen sollen – nämlich dem Souverän zur Sicherstellung seiner fundierten Meinungsbildung – hat das BVerfG bislang nicht entwickelt. Die Rechtsprechung BVerfG begünstigt vielmehr eine Entwicklung, bei der das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem potenziell völlig am realen Bedarf vorbeiproduzieren kann, aber alles finanziert bekommen muss.
Wohin das hierdurch entstandene perpetuum mobile führt, in dem die Länder immer neuen Erhöhungen zustimmen müssen, ist offen, denn das BVerfG schweigt sich zu der Frage aus, welche Art von Inhalten im 21. Jahrhundert konkret zum Funktionsnotwendigen eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks gehören müssen. Damit bleiben die Voraussetzungen für eine verfassungskonforme Rundfunkreform ungeklärt. Dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich von sich aus selbst beschränken wird, dürfte ausgeschlossen sein.
Die Fortsetzung der vom Ergebnis her gedachten „Rundfunkphilosophie“ des BVerfG (vgl. Oppermann, JZ 1981, 721 (728); Pagenkopf, NJW 2016, 2535 (2540)) dürfte den Frust vieler Beitragszahler somit noch weiter erhöhen und das System in eine zunehmende Legitimationskrise stürzen. Man hätte sich daher gewünscht, dass das BVerfG einmal grundsätzlicher seine bisherige Rechtsprechung überdacht und Alternativen aufgezeigt hätte – und damit vom toten Pferd abgestiegen wäre.
Zitiervorschlag: Jendrik Wüstenberg, Das tote Pferd von Karlsruhe, JuWissBlog Nr. 82/2021 v. 18.8.2021, https://www.juwiss.de/82-2021/
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