Grundrechtefreie Zonen? – Die Vergabe der Fußball-EM 2024 nach Deutschland

von LYDIA RAUTENBERG

Am 27. September 2018 entschied das UEFA-Exekutivkomitee, die Fußball-Europameisterschaft 2024 nach Deutschland zu vergeben. Einzige konkurrierende Kandidatin war die Türkei gewesen, die in der Abstimmung deutlich unterlag. In der Berichterstattung überwog neben der Freude die Erleichterung darüber, dass nach der WM 2018 in Russland und der kommenden WM 2022 in Katar kein weiteres Fußball-Großereignis an ein autokratisch regiertes Land mit kritischer Menschenrechtslage vergeben wurde. Trotz einiger geäußerter Bedenken genereller Natur und hinsichtlich der thematischen Schwerpunktsetzung im DFB wird dabei jedoch übersehen, dass auch die EM-Vergabe nach Deutschland verfassungsrechtlich einen hohen Preis hat.

Die Bedingungen der UEFA zur Vergabe und Durchführung der EM 2024

In seiner Bewerbung zur EM 2024 hat der DFB sich mit zehn in einem vorgelagerten Verfahren ausgewählten Austragungsorten präsentiert. Die verantwortlichen staatlichen Stellen der sich bewerbenden Austragungsorte, zumeist die BürgermeisterInnen oder die Senate, waren im Vorfeld der Auswahl dazu aufgefordert, eine lange Reihe an sogenannten Verpflichtungserklärungen gegenüber der UEFA abzugeben (siehe „Bid Dossier Template“ (BDT), Sec. 1, p. 2 sowie „Tournament Requirements“ (TR), Sec. 1, p. 4). Zu diesen Erklärungen zählen zum einen Verpflichtungen zum Erlass sogenannter Schutzgesetze bezüglich des Handels von Tickets und Merchandise, immateriellen Schutzrechten, exklusiven Vermarktungsrechten, Zoll- und Einfuhrbestimmungen sowie Steuererleichterungen und -befreiungen. Dazu heißt es in den Vergaberichtlinien regelmäßig, dass die GarantiegeberInnen das geforderte Schutzniveau der UEFA gewährleisten und im Falle unzureichender Gesetze schnellstmögliche Gesetzesänderungen oder -erlasse zusichern müssen (BDT, Sec. 4, p. 2, 5, 23, 25, 35; TR, Sec. 4, p. 4, 6, 10). Weiter verpflichten sich die GarantiegeberInnen in diesem Zusammenhang zum weitgehenden Kosten- und Gebührenerlass oder jedenfalls der Kostentragung (BDT, Sec. 4, p. 43 f.). Die Vergaberichtlinien fordern darüber hinaus Garantien der zuständigen staatlichen Akteure – so auch der Gerichte – über die effektive Rechtsverfolgung und -durchsetzung der gewährten Schutzrechte sowie eine Mitwirkung dieser Akteure an einem für das Turnier eingerichteten Rechtsausschuss (BDT, Sec. 4, p. 6; TR, Sec. 4, p. 5 f.).

Zusätzlich verlangt die UEFA die Einrichtung von „clean zones“ im Radius von mindestens 500 m um die Stadien herum. In diesen Zonen dürfen ohne ihre Zustimmung keine Werbe-, Marketing- oder sonstige kommerzielle Aktivitäten durch Dritte stattfinden. Dazu gehören für die UEFA auch Public-Viewing-Events und vor allem politische und religiöse Demonstrationen (TR, Sec. 4, p. 5 f.). Bestehende Unternehmen in den Zonen dürfen keine „unüblichen“ Aktivitäten – dazu gehören erweiterte Terrassenplätze oder große Bildschirme – vornehmen (TR, Sec. 4, p. 7). Derlei Restriktionen erstreckt die UEFA auch auf „Schlüsselorte“ der Austragungsorte, an denen keine Werbung durch Dritte – insbesondere Konkurrenten der UEFA-Vertragspartner – stattfinden darf (TR, Sec. 4, p. 6).

Verfassungsrechtliche Bedenken: Die grundrechtlichen Freiheiten aus Art. 4 Abs. 1, 2, 8 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG

Dass diese Vergabe- und Durchführungsbedingungen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken aufwerfen, liegt auf der Hand. Die umfassenden Werbeverbote und Einschränkungen des Public Viewing stellen zum Großteil Berufsausübungsregelungen i. S. d. Art. 12 Abs. 1 GG dar, können sich in ihrer Intensität aber für einzelne GrundrechtsträgerInnen auch als zeitweise, ortsgebundene Berufsverbote darstellen. Dabei ist zu bedenken, dass sportliche Großereignisse wie eine EM für Werbetreibende und Gastronomen besonders lukrativ und bedeutsam sind. Derartige Grundrechtsbeschränkungen bedürfen der Rechtfertigung durch einen legitimen Zweck, der jedenfalls in vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls, möglicherweise sogar im Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter liegen muss. Bezweckt wird durch die abgegebenen Verpflichtungserklärungen allein der kommerzielle Schutz der UEFA und ihrer Vertragspartner vor Konkurrenz. Die grundgesetzliche Ordnung gewährt jedoch gerade keinen Schutz vor privater Konkurrenz. Es fehlt damit bereits an einem legitimen Zweck für die Beschränkungen.

Das Verbot von politischen und religiösen Versammlungen in den „clean zones“ betrifft mit Art. 8 GG (möglicherweise i. V. m. Art. 4 Abs. 1, 2 sowie 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG) ein für die freiheitlich-demokratische Grundordnung bedeutendes Grundrecht. Setzt man die Friedlichkeit und Waffenlosigkeit von möglichen Protesten voraus, lägen vorliegend regelmäßig Versammlungen unter freiem Himmel gem. Art. 8 Abs. 2 GG vor, die an der Öffentlichkeit allgemein zugänglichen Orten stattfinden sollten. Für etwaige möglicherweise in privater Hand befindliche Flächen um die Stadien ist an deren Funktion als Kommunikationsforen im Sinne der Fraport-Rechtsprechung (Rn. 66 ff.) zu denken. An diesen Orten sind Versammlungen grundsätzlich erlaubt. Dabei ist zu beachten, dass die Bühne eines internationalen Großereignisses und seiner einzelnen Events für die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit von besonderer Bedeutung sein kann, weil das Großereignis einerseits selbst zum Gegenstand von Protesten werden kann, andererseits durch seine gesellschaftliche Bedeutung und mediale Abdeckung eine breite Aufmerksamkeit erfährt. Zur Beschränkung, gar dem Verbot von Versammlungen bedarf es des Schutzes gewichtiger Rechtsgüter. Als solche kämen hier die Gesundheit und körperliche Unversehrtheit der Fans und Dritter bei drohenden gewalttätigen Ausschreitungen – etwa zwischen rivalisierenden Fangruppen oder durch hochgradig gewaltbereite Hooligans – in Betracht. Dabei wären auch hier stets mildere Mittel wie eine Trennung von Fangruppen oder der Ausschluss bestimmter Gruppen zu beachten. Keine hinreichend gewichtigen Rechtsgüter aber sind rein kommerzielle Interessen, wie es die Verortung der „clean zones“ im Abschnitt 4 zum „Ambush Marketing“ (zu dt. in etwa „Trittbrettfahrer-Marketing“) anstelle des Abschnitts 5 zu „Sicherheit und Dienstleistungen“ vermuten lässt. Ebenso wenig genügt der Wille, Sport und Politik nicht vermengen zu wollen (vgl. auch hierzu die Fraport-Rechtsprechung, Rn. 103). So fehlt es auch hier an einem erkennbaren legitimen Zweck zur Rechtfertigung der Grundrechtsbeschränkungen.

Die Unabhängigkeit der Gerichte, Art. 97 GG, und der Gewaltenteilungsgrundsatz, Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG

Die grundrechtlichen Bedenken setzen sich in staatsorganisationsrechtlichen fort. Sollten die Gerichte tatsächlich Verpflichtungserklärungen gegenüber dem privaten Akteur UEFA abgegeben sowie sich zur Mitwirkung an einem für die UEFA eingesetzten Gremiums verpflichtet haben, steht das in Konflikt mit ihrer richterlichen Unabhängigkeit und Neutralität sowie mit der Rechtsschutzgleichheit aller BürgerInnnen (Art. 3 Abs. 1, 19 Abs. 4 GG) (Antwort auf Anfrage nach BremIFG (AB), S. 6, 34). Daneben verstoßen die etwaigen Verpflichtungen der jeweiligen Regierungen zur Änderung oder zum Erlass von Gesetzen gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz. Obgleich die Regierungen einen nicht geringen Einfluss auf die Gesetzgebung haben, kommt die die zentrale Rolle den Parlamenten zu. Dies gilt ebenso für Garantien zum Erlass oder Tragen von Kosten, die im Rahmen eines Großereignisses schnell hohe Summen erreichen können (vgl. AB, S. 29 ff.). Hier sind die Haushaltsgesetzgeber (für den Bund vgl. Art. 110, 115 Abs. 1 GG) zuständig. Bestehen Kosten- und Gebührengesetze, streitet außerdem der Vorrang des Gesetzes gegen einen Erlass.

Fazit

Im Ergebnis weisen die durch die verantwortlichen staatlichen Stellen der Austragungsorte gegenüber der UEFA aller Wahrscheinlichkeit nach entsprechend der Vergabe- und Durchführungsbedingungen abgegebenen Verpflichtungserklärungen bereits nach diesem knappen Abriss erhebliche Bedenken hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit auf. Der DFB sowie die meisten Austragungsorte bestreiten oder relativieren solche. Einzig die Bremer Verantwortlichen nahmen ihre Bedenken in die Bewerbung auf und scheiterten prompt an der deutschen Vorauswahl. Nach all den Diskussionen um Menschenrechte und autokratische Regime täten der DFB und die verantwortlichen staatlichen Stellen an den Austragungsorten gut daran, nicht nur formelle Erklärungen abzugeben oder in ihre Satzung aufzunehmen, sondern der UEFA tatsächlich die Stirn zu bieten. So sind Nachverhandlungen denkbar, in denen durchaus auch eine mögliche Nichtigkeit der Verpflichtungserklärungen ins Feld geführt werden könnte. Eine Möglichkeit wäre auch, es darauf ankommen zu lassen und friedliche Proteste oder Großbildleinwände in den kommerziellen Zonen zuzulassen. „Wenn man gewinnt, gibt es auch irgendjemanden, der verliert“, erklärte Philipp Lahm den verhaltenen Jubel seines Organisationsteams nach der Bekanntgabe der Vergabe. Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht die GrundrechtsträgerInnen in den Austragungsorten der EM 2024 sein werden.

Zitiervorschlag: Lydia Rautenberg, Grundrechtefreie Zonen? – Die Vergabe der Fußball-EM 2024 nach Deutschland, JuWissBlog Nr. 85/2018 v. 15.10.2018, https://www.juwiss.de/85-2018/.

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Europameisterschaft, Fußball, Gewaltenteilung, Grundrechte, Lydia Rautenberg, UEFA
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