Von THOMAS KIENLE
Am 23. Oktober 2019 stellte die Datenethikkommission (DEK) ihr Gutachten in Berlin vor. Ihr Arbeitsauftrag glich einer Herkulesaufgabe – die Leitfragen der Bundesregierung hatten das bereits erahnen lassen. Das 240 Seiten umfassende Gutachten soll einen weiteren Grundstein für den Zukunftsdiskurs über Ethik, Recht und Technologie legen. Die Kommission führt darin einen Topos ein, der aufhorchen lässt: die digitale Selbstbestimmung. Dieser Begriff, dem bereits eine (ethische) Studie gewidmet war, neigt indes – zumindest in rechtlicher Hinsicht – zu Unschärfen und Fehldeutungen.
Vom Recht der informationellen …
Alles beginnt mit der informationellen Selbstbestimmung. Das Grundrecht gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner Daten zu bestimmen (BVerfGE 65, 1, 43). Für den „nicht sehr schönen Begriff“ bat Ernst Benda wenige Monate nach dem Volkszählungsurteil (Vortrag abgedruckt in DuD 1984, 86) um Verständnis. Dem Gericht sei es „trotz intensiver Bemühungen“ nicht gelungen, für das „komplexe Geflecht“ von Rechten und Pflichten ein besseres Wort zu finden. Obgleich der – eingestandenen – begrifflichen Unschärfe und der mitunter geäußerten konzeptionellen Kritik, gibt das Volkszählungsurteil noch heute den verfassungsrechtlichen Ton an. Jüngere Entscheidungen (etwa Zensus 2011 und Kfz-Kennzeichenkontrollen II) legen dafür Zeugnis ab.
… zum Recht der digitalen Selbstbestimmung
Die DEK knüpft offenbar an das informationelle Selbstbestimmungsrecht an. Sie begreift den Einzelnen als selbstbestimmten Akteur in der Datengesellschaft (S. 44, 85), der jedoch durch die Anzahl und Komplexität der ihm abverlangten Entscheidungen zunehmend „systematisch überfordert“ werde (S. 96). Dagegen ist nichts zu erwidern. So mehren sich denn auch in jüngerer Zeit wieder jene Stimmen, die Selbstbestimmung eher für eine „Illusion denn für eine Vision“ halten. Gleichwohl (oder gerade deshalb) versucht die DEK, den Gedanken der Selbstbestimmung zu revitalisieren, indem sie die digitale Selbstbestimmung ausruft. Dabei soll es sich nicht „bloß“ um ein ethisches Prinzip handeln. Vielmehr erhebt die DEK die digitale Selbstbestimmung zu einem „subjektiven Recht“, das sogar über das der informationellen Selbstbestimmung hinausreiche (S. 44, 85). So verstanden meint digitale Selbstbestimmung nicht lediglich die digitale Dimension des informationellen Selbstbestimmungsrechts in seiner überkommenen Gestalt, sondern ein eigenständiges, womöglich sogar neues (Grund-)Recht. Digitale Selbstbestimmung sei denn auch nicht weniger als eine „Aufgabe für die gesamte Rechtsordnung“ (S. 95). Auf den ersten Blick wird damit ein subjektives Recht in objektive Regelungsaufträge umgedeutet: Die digitale Selbstbestimmung bräche – in der Tradition des Lüth-Urteils – in die einzelnen Teilrechtsordnungen (einschließlich der Privatrechtsordnung) ein.
In seiner Grundkonzeption schließe es die Kompetenz ein, selbst zu bestimmen, mit welchen Inhalten jemand in Beziehung zu seiner Umwelt tritt und wie jemand die eigene Persönlichkeit interaktiv entfaltet (S. 44). Die DEK macht indes nicht beim einzelnen Subjekt im Sinne eines Individualrechts Halt. Vielmehr erstreckt sie das digitale Selbstbestimmungsrecht, zumindest „in Ansätzen“ (S. 85), auch auf Personengruppen (Kollektive). Ob damit eine Art Gruppen(grund-)recht gemeint ist, bleibt abzuwarten. Der tradierten Konzeption, also der Ableitung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, liefe das jedenfalls zuwider.
Schließlich soll das Recht auf digitale Selbstbestimmung „prinzipiell“ auch für Unternehmen und juristische Personen gelten (S. 85). Das entspricht im Grunde der Rechtsprechung des BVerfG zum informationellen Selbstbestimmungsrecht: Soweit sich das Grundrecht auf Art. 2 Abs. 1 GG bezieht, sind auch juristische Personen (des Privatrechts) geschützt. Tendenziell enger verhält es sich auf europäischer Ebene: Art. 7 und 8 GRCh verleihen juristischen Personen nur insoweit Schutz, als deren Name eine oder mehrere natürliche Personen bestimmt. Demnach greift der EuGH auf das personale Substrat, also die natürliche Person, durch. Beide Grundrechtsregime gewähren demnach einen mehr oder minder ausgeprägten informationellen Schutz juristischer Personen.
Relation der Selbstbestimmung
Dessen ungeachtet ist der Begriff „Recht auf digitale Selbstbestimmung“ kritikwürdig. Erstens: Selbstbestimmung ist ein Relationsbegriff. Sie gewinnt ihren Gehalt aus dem Gegenstand, über den selbstbestimmt entschieden werden soll, ist also abhängig von ihrem Bezugsobjekt. So schützt die informationelle Selbstbestimmung nicht Daten, sondern Informationen, also die semantische Ebene. W. Steinmüller formulierte es in einem Gutachten, das als Wiege der informationellen Selbstbestimmung gilt, im Juli 1971 so: „Der [E]inzelne hat ein Selbstbestimmungsrecht, welche Individualinformationen er unter welchen Umständen an wen gibt“ (S. 88). Sein Modell versuchte, einem „Informationsungleichgewicht“ in modernen Informationssystemen zu begegnen. Aber worüber soll der Einzelne nunmehr selbst bestimmen? Über das Digitale? Wohl kaum. Es geht, so ist die DEK mutmaßlich zu verstehen, weiterhin um personenbezogene Informationen, mit anderen Worten um „persönliche Lebenssachverhalte“. Wenn dem so ist, geht die Relation der digitalen Selbstbestimmung ins Leere. Der Begriff ist reichlich unscharf, ja geradezu uferlos. Der (grundrechtliche) Schutzbereich ließe sich im Digitalen schlechterdings nicht begrenzen. Die Selbstbestimmung verliert sich in der Unendlichkeit des Digitalen.
Dichotomie von analog und digital
Zweitens: Das Visionäre an der informationellen Selbstbestimmung war und ist ihre Technikneutralität. Das entwicklungsoffene (Grund-)Recht erfasst ebenso die analoge Welt wie die digitale. Die Selbstbestimmung hängt gerade nicht einem Medium an. Ein Recht auf digitale Selbstbestimmung bräche mit dieser innovativen Konzeption und führte eine Dichotomie ein, die es nicht braucht. Wer jetzt von digitaler Selbstbestimmung spricht, muss sich die Frage gefallen lassen, wie es um den semantischen Gegenpol, die analoge Selbstbestimmung, bestellt ist. So sehr die Digitalisierung unsere Lebenswelt auch durchdringt, die Gefährdungslagen im Analogen bleiben gleichwohl real.
Digitale Selbstbestimmung als Verwertungs- oder gar Verfügungsrecht?
Drittens: Die DEK postuliert, das Recht auf digitale Selbstbestimmung umfasse auch die selbstbestimmte wirtschaftliche Verwertung der eigenen Datenbestände (sowie den selbstbestimmten Umgang mit nicht-personenbezogenen Daten), die etwa durch den Wirkbetrieb eigener Geräte generiert werden (S. 44, 85). Diese Aussage ist Nährboden für eine – überwunden geglaubte – herrschaftliche Konzeption grundrechtlicher Selbstbestimmung, die auch im Datenschutzrecht ihre Auswüchse trieb und in der jüngeren Diskussion um die „Rechte an Daten“ mit dem Kampfbegriff „Dateneigentum“ ihren unrühmlichen Höhepunkt fand. So spricht sich denn auch die DEK andernorts zu Recht ausdrücklich gegen „exklusive Eigentumsrechte“ an Daten aus und fordert stattdessen „Mitsprache- und Teilhaberechte“ ein (S. 85).
Dem informationellen Selbstbestimmungsrecht jedenfalls ist eine herrschaftsrechtliche oder gar eigentumsanaloge Dogmatik fremd. Mahnend ist die bekannte Formulierung des BVerfG, der Einzelne habe nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über „seine“ Daten. Die persönlichkeitsrechtliche Ausprägung gewährt kein (Herrschafts-)Recht am eigenen Datum. Ebenso wenig darf sich die digitale Selbstbestimmung als „Datenbeherrschungs-“ oder „Datenverfügungsrecht“ entfalten. Der schillernde Begriff weckt hier unglücklicherweise solche Begehrlichkeiten. Denn in der Lesart der DEK kann er dazu verleiten, Verwertungsrechte (gleich welcher Art) persönlichkeitsrechtlich aufzuladen.
Zukunft der Selbstbestimmung – informationell, digital oder gar nicht?
Die (informationelle) Selbstbestimmung hat seit jeher ebenso viele Gegner wie Fürsprecher. Als Gegenmodell zur Fremdbestimmung ist sie, jedenfalls in ihrem Kern, unverzichtbar. Es ist das Verdienst der DEK, den Einzelnen als (selbstbestimmten) Akteur in die Pflicht zu nehmen: Mit digitaler Selbstbestimmung gehe digitale Selbstverantwortung einher (S. 44). Sie setze wiederum digitale Kompetenz voraus (S. 72). Diese Worte sind Aufforderung und Mahnung zugleich: Wer Daten preisgibt, gibt Informationen preis. Auf Informationen gedeiht Wissen. Und Wissen ist Macht. Dieser Dreisatz ist immer wieder aufs Neue zu gewärtigen. Wenn und soweit der Topos „digitale Selbstbestimmung“ dazu beitragen kann, die Selbstverantwortung zu fördern, hat er durchaus seine (ethische) Berechtigung. Seine rechtsdogmatische Konzeption bleibt die DEK aber (noch) schuldig. Die Diskussion hat gerade erst begonnen.
Zitiervorschlag: Kienle, Das Recht auf digitale Selbstbestimmung, JuWissBlog Nr. 95/2019 v. 24.10.2019, https://www.juwiss.de/95-2019/.
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